Wildcat-Sonderheft Krieg 2003 - März 2003 - S. 7-14 [wk3leita.htm]


[Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt] Wildcat [Inhalt Wildcat-Sonderheft Krieg] [Artikel im Archiv] [Gesamtindex]

Krise des Kriegs und Grenzen des Kapitalismus

[english]

Die angekündigte Bombardierung eines kleinen Landes mit 23 Millionen Einwohnern ist zur Zerreißprobe des internationalen Staatensystems geworden, in dessen Ordnungsrahmen sich die Welt in den letzten sechzig Jahren entwickelt hat. In den Debatten über das Für und Wider und die Gründe für die Bomben auf Bagdad geht es schon längst nicht mehr nur um die Situation im Nahen Osten. Es geht um die Frage, wie die Welt zukünftig regiert und beherrscht werden soll. Wessen Herrschaft steht auf dem Spiel? Und warum muß der Irak, der nach 23 Kriegsjahren am Boden liegt, als Ziel einer politischen und militärischen Machtdemonstration herhalten?

Die Welt gerät aus den Fugen

Als die Ablehnung des Kriegs durch die deutsche Regierung radikaler wurde, als sie ursprünglich gemeint war, als die Achse Paris-Berlin-Moskau vor die Scheinwerfer trat ..., da dämmerte es, dass wir einen epochalen Bruch erleben - das Ende einer Weltordnung, wie wir sie kennen. Davon war auch schon 1989/90 die Rede, als mit dem Untergang des Realsozialismus der Kalte Krieg für beendet erklärt wurde. Aber erst jetzt wird deutlich, dass sich nicht einfach der Mitspieler der USA in Luft aufgelöst hatte. Der gesamte Ordnungsrahmen war weggebrochen, in dem - gegen alle Erwartungen! - der Kapitalismus nach der ersten Schreckenshälfte des 20. Jahrhunderts noch einmal hatte aufblühen können.

Um sich den Kriegskurs der USA zu erklären, wird in der linken Debatte als erstes zu vertrauten Rastern gegriffen: der Kampf ums Öl, die Konkurrenz von Wirtschaftsblöcken, Euro gegen Dollar, das imperialistische Ringen von Staaten um Weltherrschaft, die Flucht einer Regierung aus der »innenpolitischen« Krise in kriegerische »Außenpolitik«. Oder es wird der Vergleich mit dem Niedergang des Britischen Empires zu Anfang des letzten Jahrhunderts bemüht, der dem jetzigen Niedergang der USA verdammt ähnlich sieht. All dies ist nicht falsch und fängt einzelne Momente des gegenwärtiges Umbruchs ein. Es sind Puzzlesteine, aus denen sich dieses merkwürdige Gemisch aus Draufgängertum und Zögerlichkeit zur Bombardierung Bagdads zusammensetzt. Aber reicht es hin, um das Neue in der Situation zu verstehen, woraus auch neue Handlungsmöglichkeiten entstehen können?

Ende oder Anfang eines »amerikanischen Jahrhunderts«

In ihrem Widerstand gegen den Krieg teilen viele ein Bild von den USA als Supermacht, gegen deren Entscheidungen nur moralischer oder symbolischer Protest möglich ist. Ironischerweise sind es gerade die Falken, die militärischen Scharfmacher in den USA, die sich da nicht so sicher sind. 1997 wurde das Projekt »The New American Century« gegründet, um Bush's Wahlkampf gegen Clinton zu unterstützen. Schon der Name drückt das Problem aus: es gab ein amerikanisches Jahrhundert, aber es ist höchst zweifelhaft, ob es noch einmal eins geben wird. Grundidee des Projekts ist die »full spectrum dominance« der USA auf allen Gebieten weltweit. Einer ihrer Hauptfeinde bei der Verwirklichung eines »neuen amerikanischen Jahrhunderts« ist China, das mit Militärbasen umringt und in Schach gehalten werden soll - oder wie einer ihrer Enthusiasten ernsthaft sagte: »Nach Bagdad: Peking.« Das Projekt ist keine Gruppe von Spinnern, sondern der Kern der heutigen Regierung gehörte zu seinen Begründern: Dick Cheney, Donald Rumsfeld, Paul Wolfowitz, Jeb Bush, Richard Perle und Zalmay Khalilzad, den Bush erst zum Sonderbeauftragten für Afghanistan und jetzt für den Irak machte.

Diese Leute haben zwar verstanden, dass ein weiteres »amerikanisches Jahrhundert« äußerst fraglich ist. Aber sie denken in den vertrauten Kategorien staatlicher Hegemonie und eines gegebenen Rahmens von Weltwirtschaft, Währungssystemen und zwischenstaatlichen Machtverhältnissen. Wie in der linken Debatte werden diese Verhältnisse als der sichere Boden unterstellt, auf dem sich dann politische Veränderungen wie die Ablösung einer Supermacht durch eine andere vollziehen. Könnte es nicht sein, dass eben dieser Boden zur Zeit ins Wanken gerät? Dass so natürlich erscheinende Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf diesem Planeten wie Staat, Geld oder Unternehmen und Lohnarbeit sich in Krise befinden?

Das 20. Jahrhundert - der gerettete Kapitalismus

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stand es nicht gut um den Kapitalismus. Nicht nur linke Kritiker, sondern auch konservative Denker sahen sein Ende und den Übergang zu einer anderen Form von Gesellschaft - die wurde damals meistens »Sozialismus« genannt - voraus. Nach einer blutigen dreißigjährigen Schreckensphase nahm diese Gesellschaftsform aber noch einmal einen ungeahnten Aufschwung und konnte das Leben auf dem ganzen Planeten umkrempeln und dominieren. Politisch und militärisch stand dieser Aufschwung unter der Führerschaft einer neuen Macht, der USA. Sie löste das Britische Empire ab, das im 19. Jahrhundert aufgrund seiner besonderen Produktionsweise, seiner militärischen Dominanz und seiner Kontrolle der internationalen Handelswege und des internationalen Geldwesens der konfliktreichen und widersprüchlichen Entwicklung des Kapitalismus eine globale Zwangsjacke verpaßt hatte.

Von einer neuen Produktionsweise ...

England hatte den Scheitelpunkt seiner industriellen Überlegenheit über den Rest der Welt um 1880 erreicht. Damals betrug der Anteil seiner Industrieproduktion am weltweiten Ausstoß etwa 23 Prozent, gefolgt von den USA mit knapp 15, China mit 12,5 und Deutschland mit 8,5 Prozent. Zwanzig Jahre später hatten sich die Verhältnisse umgekehrt: die USA führten mit etwa 24 Prozent vor England mit 18,5 Prozent und steigerten ihren Anteil bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs auf 32 Prozent. 1913 hatte auch Deutschland mit 15 Prozent das stagnierende Mutterland der ersten industriellen Revolution (14 Prozent) leicht überholt, was allerdings auch den absoluten Höchstwert in seiner Geschichte darstellte - Chinas Anteil war auf knapp vier Prozent zurückgegangen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts steigerten die USA ihren Anteil auf den absoluten Höchstpunkt von fast 45 Prozent im Jahr 1953 (das Doppelte von dem, was England jemals erreicht hatte), um danach bis in die 80er Jahre wieder auf etwa 30 Prozent zurückzufallen. Der Hauptgrund dafür lag nicht in einem gewachsenen Anteil Europas an der Weltindustrieproduktion, der bei etwa 25 Prozent stagnierte, sondern in der Zunahme der industriellen Produktion in Japan und der »Dritten Welt« (nach Bairoch 1982). Ab den 80er Jahren fielen die USA industriell immer weiter hinter der globalen Entwicklung zurück - was für einige der ehemaligen Industriezentren in den USA eine regelrechte Deindustrialisierung bedeutete.

Hinter den statistischen Zahlen verbirgt sich die Durchsetzung und anschließende Krise einer neuen Produktionsweise in den USA, die vor allem in der Organisation des Arbeitsprozesses und der Kontrolle der gesellschaftlichen Arbeit dem englischen Produktionssystem überlegen war. Unter den verkürzten Bezeichnungen »Taylorismus« und »Fordismus« hat dieses amerikanische Produktionssystem später weltweite Berühmtheit erlangt und sich über die USA hinaus durchgesetzt, aber sein Ausgangspunkt liegt früher.

In den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts expandierte die Textilindustrie in den USA. Sie übernahm dabei die technologisch am weitesten entwickelte Maschinerie aus England, nicht aber deren Arbeitsorganisation, die der Kontrolle der Unternehmer über den Arbeitsprozeß Grenzen setzte. In den amerikanischen Fabriken wurde eine ausgeweitete Macht des Managements über eine Arbeitskraft durchgesetzt, die zu einem großen Teil aus Einwanderern aus europäischen und asiatischen, und nach dem Bürgerkrieg auch aus ehemaligen Sklaven aus den Südstaaten bestand. Durch diese Ausweitung der Machtbefugnisse des Managements in den Fabriken konnte hier im Unterschied zu England die Zusammenarbeit von tausenden ArbeiterInnen im Produktionsprozeß in viel größerer Dimension organisiert werden, was der US-Industrie einen deutlichen Produktivitätsvorsprung verschaffte.

... zur gesellschaftlichen Stabilität ...

Die Durchsetzung dieser Produktionsweise ist eine blutige Geschichte von Klassenkämpfen, proletarischen Aufständen und ihrer Niederschlagung. Entscheidend für die industrielle Vormachtstellung der USA war es, dass diese Produktionsweise durch den Zweiten Weltkrieg und in seiner Folge zur Grundlage einer »arbeiterfreundlichen« Eindämmung des Klassenkonflikts werden konnte, die neben innenpolitischer Repression (McCarthy usw.) den ArbeiterInnen eine Perspektive gesellschaftlicher Integration und steigenden Konsums bot. Dieses Gesellschaftsmodell strahlte als der »american way of life« nach Außen und wurde anderen industrialisierten Ländern zum Vorbild. Die Marshall-Plan-Hilfen und der Kapitalexport der USA in den 50er Jahren galten als Beweis für die Bereitschaft der USA, anderen Ländern, insbesondere den Kriegsverlierern Deutschland und Japan, beim Anschluß an dieses »progressive« Gesellschaftsmodell unter die Arme zu greifen.

Eine Produktionsweise ist selbst ein Prozess, eine historische Entwicklung - in der sich Umwälzungen der gesellschaftlichen Reproduktion (des Reichtums wie der Klassenverhältnisse) nach einem bestimmten Muster vollziehen. Das grundlegende Muster der gesamten kapitalistischen Entwicklung ist die Ausweitung der städtischen Lohnarbeit als der proletarischen Reproduktionsweise. Produktionsweise bezeichnet eine Phase dieser Ausweitung, bei der es gelingt, einen bestimmten Typus von Maschinerie, Arbeitsorganisation und Arbeitskraft so zu kombinieren, dass sich Kapital verwerten und der Klassengegensatz kontrollieren läßt.

Das amerikanische System der Massenindustrie beruhte darauf, eingewanderte und bäuerliche Arbeitskräfte in einen durchorganisierten und geplanten Produktionsprozess einbinden zu können. Die gesellschaftliche Stabilität ergibt sich aus der Dynamik, durch die das Kapital die Proletarier mit der Hoffnung an sich binden kann, ihren Kindern werde es einmal besser gehen. Das »goldene Zeitalter« nach dem Zweiten Weltkrieg bestand in der Ausweitung des Arbeiterkonsums auf Kühlschränke, Waschmaschinen und vor allem das Auto, sowie auf der Fähigkeit, neue, aus dem Süden oder dem Ausland in die Industriezentren eingewanderte Proletarier in die Fabriken zu bringen. Auf dieser Dynamik basiert das Phänomen, dass sich große Teile der Arbeiterklasse als »Mittelschicht« begreifen und entsprechend verhalten.

... und internationalen Hegemonie ...

Industrielle Produktion beruht darauf, Rohstoffe zu neuen Investitionsgütern und Konsumwaren zu verarbeiten. Ihr Erfolg beruht auch darauf, wie und zu welchen Kosten über Rohstoffe verfügt werden kann, die für die bestimmte Produktionsweise zentral sind. Im Mittelpunkt der englischen industriellen Revolution hatten die drei Grundstoffe Baumwolle, Kohle und Eisen gestanden. Sie blieben weiterhin wichtig, aber die Überlegenheit der US-Industrie war mit neuen Stoffen verbunden - wobei die Ablösung der Kohle durch Erdöl eine besondere Rolle spielte. Öl wurde zur Grundlage einer Produktion, die auf dem Verbrennungsmotor beruhte und damit ein ganzes Jahrhundert prägte: er revolutionierte den Transport und damit auch die Kriegsführung und schuf mit dem Automobilismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein neues Modell des Arbeiterkonsums.

Zur Sicherstellung der Rohstoffe für ihre industrielle Expansion hatten sich die europäischen Großmächte überseeische Gebiete als Kolonien angeeignet und unterworfen. Die USA entwickelten ähnlich imperiale Beziehungen in ihrem Hinterland Lateinamerika - aber schon nach dem Ersten Weltkrieg hatten sie mit der Wilson-Doktrin (»Selbstbestimmungsrecht der Völker«) eine neue Form der Beherrschung von Rohstoffländern eingeführt, die die alte europäische Form des Kolonialismus unterlaufen sollte. Mit dem Konzept staatlicher »Souveränität« und einer nachholenden wirtschaftlichen »Entwicklung« konnten sie die Klassenkämpfe in diesen Ländern im Prozeß der Dekolonialisierung auffangen und neutralisieren. Der »american way of life« war für sie aber nicht vorgesehen, weil ihnen eine andere Funktion in der internationalen Arbeitsteilung zukam. Durch die Entkolonialisierung verloren das Britische Empire und die anderen Kolonialländer ihren exklusiven Zugriff auf die Rohstoffresourcen - zum Beispiel auf die Ölfelder im Nahen Osten. Das Nachgeplänkel dieses Machtkampfs, der mit der militärischen Überlegenheit der USA im Zweiten Weltkrieg schon entschieden war, bildete die Suez-Krise 1956: als England, Frankreich und Israel in einer koordinierten militärischen Aktion versuchten, die von Nasser vollzogene Nationalisierung des Suez-Kanals rückgängig zu machen, wurden sie von den USA (und der Sowjetunion) zurückgepfiffen. In der »Dritten Welt« verschafften sie sich damit einen Achtungserfolg und das Image des zivilisierten Hegemons gegenüber der schäbigen Brutalität der alten Kolonialherren - und hatten den europäischen Staaten endgültig klargemacht, dass ihr Vorgehen in jedem Teil der Welt von den USA abhängig war. Anerkannt und erfolgreich war diese Politik, weil die USA nicht einfach ihr nationales Sonderinteresse gegen andere Sonderinteressen durchsetzen, sondern mit ihrer Macht und Stärke allgemeine Bedingungen der kapitalistischen Entwicklung sicherten - in dieser Region vor allem den ungehinderten Zugriff auf Öl, und weltweit die Sicherung staatlicher Herrschaft gegen Unruhe und proletarische Revolten (z.B. im Korea-Krieg).

Anders gesagt: nicht weil sie als der besondere Staat USA auftraten, wurden sie hegemonial, sondern weil sie für die weltweite Kapitalistenklasse zur Verkörperung des neuen erfolgreichen Booms der kapitalistischen Produktionsweise in den 50er und 60er Jahren wurden. Es war die erneute materielle Ausweitung der kapitalistischen Produktionsweise und ihres Klassenverhältnisses, auf denen die politische Vormachtstellung der USA beruhte - und von der sie daher auch abhängig war.

... durch militärische Überlegenheit und gesichertes Weltgeld

Am deutlichsten zeigte sich dies an den zwei Säulen ihrer Macht, die ihr heute noch geblieben sind und die zunehmend wackliger werden (siehe den Beitrag von André Gunder Frank in diesem Heft): ihrer militärischen Überlegenheit und ihrer Kontrolle des internationalen Zahlungsmittels, des Weltgeldes. In den zwei Weltkriegen hatten die USA eine militärische Stärke eingebracht, die in erster Linie auf der Überlegenheit ihrer industriellen Produktion und ihren gigantischen Produktionsreserven beruhte (in der Endphase des Krieges produzierten die USA allein im Jahr 1944 90 000 Flugzeuge, mehr als die deutsche Wehrmacht hätte abschießen können). Die Rolle der industriellen Produktion für die Kriegsführung im Kapitalismus war zum ersten Mal im amerikanischen Bürgerkrieg 1861-65 demonstriert worden, in dem eine halbe Million Menschen ums Leben kamen. In diesem historisch ersten industriellen Gemetzel war die industrielle Waffenproduktion der Nordstaaten zum entscheidenden Faktor geworden. Am Ende des Zweiten Weltkriegs stellte die moderne industrielle Technologie eine neue Dimension des automatisierten Gemetzels vor, die sekundenschnelle atomare Vernichtung.

Der moderne Krieg lebte nicht nur von der Industrieproduktion, er hatte ihr in den beiden Weltkriegen auch einen ungeheuren Auftrieb verschafft. Zwischen 1941 und 1945 stieg das Bruttoinlandsprodukt der USA um 50 Prozent - so stark wie noch nie zuvor -, was vor allem auf der Rüstungsindustrie beruhte: deren Anteil an der Gesamtwirtschaft schnellte zwischen 1939 und 1943 von 2 auf 40 Prozent herauf. Nach dem Krieg verfügten die USA über ein immenses industrielles Potential, dem die Nachfrage fehlte. Die Marshall-Plan-Hilfen und der Kapitalexport verschafften diesem Potenzial eine Nachfrage nach Investitionsgütern aus den kriegsgeschädigten Ökonomien Europas und Japans.

Auf der industriellen Produktion beruhte auch die zweite Säule, die Kontrolle des internationalen Geldflusses. Die Exportüberschüsse der USA hatten tonnenweise Gold in die Tresore ihres Bankensystems gespült. Die Verfügung über große Mengen des damals anerkannten internationalen Zahlungsmittels bildete die Basis ihres Vorschlags einer neuen Regulierung des globalen Finanzsystems für die Nachkriegszeit. Die Etablierung eines fest an das Gold gebundenen US-Dollars (Bretton Woods 1944) sollte Krisen wie 1929-32 verhindern und ein stabiles internationales Kreditwesen ermöglichen. Im Rahmen dieser Geld- und Kreditordnung konnte sich die internationale Arbeitsteilung wieder ausweiten, die in der Kriegszeit 1914-45 stagnierte oder zurückgegangen war. Dieser Rahmen war nicht, wie heute von den Verfechtern der Kapitalmarktregulierung (Tobin, attac usw.) behauptet wird, der Grund für den einmaligen wirtschaftlichen Aufschwung in der Prosperitätsphase 1947-1963 - im Gegenteil, seine Stabilität war selber auf die Dynamik der Produktion und die Stabilität der Ausbeutung angewiesen, wie sich Anfang der 70er Jahre zeigen sollte.

Bomben und Geld - Synonyme für tödliche Vernichtung und abstrakten Reichtum - sind die unverzichtbaren Klammern einer Gesellschaftsordnung, die sich nur in Gegensätzen entwickeln kann: zwischen arm und reich, zwischen Verhungern und Überfluss, zwischen dem Verlust des Lebens durch Arbeit und dem Genuss der Produkte der Arbeit. Das »goldene Zeitalter« des Nachkriegskapitalismus hob diese Gegensätze nicht auf, es bot lediglich die Perspektive, dass sich die Verhältnisse der Proletarier auf der Welt durch Lohnarbeit, Industrialisierung und Entwicklung verbessern könnten. Es stand aber zugleich unter dem Eindruck eines fortgeführten Krieges. Mit dem Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki, die für den Kriegsverlauf im Pazifik keine militärische Rolle mehr spielten, demonstrierten die USA ihre militärische Überlegenheit. Mit der Spaltung in West und Ost entstand ein Kriegszustand zwischen zwei Blöcken, der jedem der beiden zur Stabilisierung von gesellschaftlicher und staatlicher Ordnung in seinem Einflussbereich diente. Nur aufgrund des Kalten Kriegs konnte die militärische Stärke als das gemeinsame Interesse und der gemeinsame Schutz der westlichen Industrieländer ausgegeben und praktiziert werden. Die NATO diente den USA als Sicherung ihrer hegemonialen Stellung gegenüber Westeuropa, galt aber vertraglich als Verteidigung gegen den Osten. Für ihre weltweiten Militärbasen war der »kommunistische Feind« und dessen »Eindämmung« die wichtigste Legitimation. Als nach 1990 diese Klammer wegfiel, unter der sich die US-Dominanz als legitime Führerschaft der »freien Welt« präsentieren ließ, hatten die USA einen akuten Mangel an »Feinden der Freiheit«.

Der »Feind der Freiheit« im eigenen Land

Die Gegnerschaft von Machtblöcken und die Rivalität zwischen Nationalstaaten hatte in der ganzen Geschichte des Kapitalismus immer wieder verdeckt, dass der Inhalt der staatlichen Konkurrenz die gemeinsame Beherrschung des globalen Klassenkonflikts durch die herrschende Klasse war. Entscheidend für die Durchsetzung der USA als Hegemonialmacht war es, dass die neue Produktionsweise als ein überlegenes Modell der Eindämmung des Klassenkonflikts funktionierte. Die oppositionellen Bewegungen, die aus den Kämpfen der Proletarier entstanden, hatten selbst Anteil an dieser Eindämmung, weil sie die Perspektive der Veränderung immer wieder auf den Staat lenkten - als Arbeiterbewegung in Form von Gewerkschaften und Parteien oder als Befreiungsbewegungen in der sogenannten »Dritten Welt«. Die revolutionäre Bedeutung des weltweiten Kampfzyklus und der globalen Wirtschaftskrise in den 70er Jahren lag darin, dass sie zugleich eine Krise des Profits und eine Abwendung der »systemfeindlichen Bewegungen« vom Staat beinhaltete (siehe Wallerstein: Utopistik). Aus dieser Krise hat sich der globale Kapitalismus bis heute nicht erholt - er hat nur ihren akuten Ausbruch immer weiter und immer blutiger hinauszögern können.

Das »neue Rom« - Imperium oder »failing state«?

Nach dem 11.9. ist von rechten Historikern und Politikern in den USA die verbliebene Supermacht der Welt als »neues Rom« beschrieben worden, und als Antwort auf das Auseinanderfallen des internationalen Staatensystems wird offen ein neuer Imperialismus und Kolonialismus gefordert, ganz so, als ließe sich das Rad der Zeit mal eben um hundert Jahre zurückdrehen. Der Golfkrieg 1991, die Bombardierung Jugoslawiens 1999 und Afghanistans 2001 waren alles Versuche, die Stellung der USA und damit die staatliche Ordnung des internationalen Kapitalismus mit militärischen Mitteln aufrechtzuerhalten. In diesen Debatten und Kriegen drückt sich aber die Krise und der Niedergang dieser Ordnung in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts aus.

Die ganzen Vorschläge - Protektorat, Kolonialstatus, die guten Seiten des Imperialismus (»the rich mans burden«) oder auch das noch an Souveränität erinnernde »nation building« - enthalten keinerlei Perspektive von Entwicklung, Wohlstand oder Eindämmung des Klassenkonflikts durch einen neuen Schub von Industrialisierung, wie im Kosovo oder in Afghanistan zu besichtigen ist. Der Anfang der 90er Jahre geprägte Begriff »failing states« dient einerseits zur Rechtfertigung verstärkter militärischer Gewalt zur Kontrolle des Proletariats im »Süden« - er ist aber zugleich der Versuch, sich eine grundlegendere Wahrheit durch Projektion vom Leib zu halten: das globale Versagen von Staatlichkeit, das ebenso die USA selbst und die übrigen Industrieländer betrifft.

Die heutige Umbruchsituation besteht nicht darin, dass in einem intakten Staatensystem einzelne Randstaaten »versagen« oder eine hegemoniale Macht von einer anderen abgelöst wird - sondern dass sich die Form der Staatlichkeit, die gewaltsame Klammer um eine vom Klassengegensatz zerrissene Gesellschaft, in der Krise befindet. Die Krise der USA als hegemonialer Macht im Staatensystem ist zugleich die Krise dieses Staatensystems und von Staatlichkeit überhaupt.

Auslaufmodell Kapitalismus

Mit der Krise der Produktionsweise, die dem Kapitalismus eine neue Blütezeit und den USA ihre hegemoniale Stellung verschafft hatte, brach die materielle Basis für die Stabilität dieser Weltordnung weg. Die 80er und 90er Jahre waren davon geprägt, das Fehlen dieser produktiven Basis durch das Ausspielen von Bomben und Geld zu kompensieren. Mit der Aufhebung der Bindung des Dollars ans Gold 1971 und der Freigabe seines Wechselkurses 1973 schufen die USA die Voraussetzung dafür, ihre verloren gegangene industrielle Dominanz durch die Kontrolle der internationalen Finanzmärkte zu ersetzen. Die materielle Produktion weitete sich global weiter aus, vor allem in Asien. Aber dies führte zu keiner Verbesserung der Profitraten. Der ökonomische Maßstab für den Erfolg kapitalistischer Verwertung, der Profit, stagnierte in den 80er und 90er Jahren weiter. An seine Stelle trat die Aufblähung der internationalen Kreditmenge, d.h. von Geld, dessen Wert eine Spekulation auf die erfolgreiche Ausbeutung in der Zukunft ist.

Doch diese Zukunft materialisierte sich nicht. In den 90er Jahren wurde gleich zweimal mit lautem Getöse der Beginn einer neuen Produktionsweise verkündet: in der Krise Anfang der 90er Jahre das Modell der »schlanken Produktion«, der »Gruppenarbeit« und der flexiblen Zulieferketten. Nach diesem Hype des »Toyotismus« kam in der zweiten Hälfte der 90er Jahre der Hype des Internets und der »New Economy«. Aber beide Modelle führten zu keiner Verbesserung der Profitraten im nicht-finanziellen Unternehmenssektor. Die Attraktivität des japanischen Produktionsmodell hatte in erster Linie auf dem günstigen Wechselkurs des Yen zum Dollar beruht und der Verbilligung des Transports aufgrund einmalig niedriger Ölpreise. Das Internet schuf keine Profite, sondern entpuppte sich als technologische Vision, die das Fieber an den Aktienmärkten angestachelt hatte.

Gegenüber der Arbeiterklasse funktionierten diese Modelle als defensive Antworten des Kapitals. Sie zersetzten alte Strukturen und schufen eine neue Ideologie von »kreativer Arbeit« und »Leistung«, mit der alte kollektive Absicherungen der Lohnarbeit zurückgedrängt wurden. Durch die Umkehrung der internationalen Kapitalströme vertiefte sich das internationale Gefälle zwischen Arm und Reich, zwischen boomenden Regionen in Asien und der Verelendung in Afrika und Teilen Lateinamerikas. Es waren destruktive Strategien, die dem Kapitalismus zu keinem neuen Aufschwung verhalfen und seine Legitimation weiter zersetzten.

Das historisch Neue an der Krise in den 70er Jahren bestand in der aktiven Rolle, die das weltweite Proletariat in ihr gespielt hatte. Im Kampfzyklus 1968-73 hatten die weltweiten Jugendrevolten, die Kämpfe der FabrikarbeiterInnen im Norden und die Aufstände des Proletariats im Süden die kapitalistische Verwertung blockiert. Die Flucht des Kapitals in die fiktive Verwertung auf den Finanzmärkten war auch das Zurückweichen vor der erneut drohenden Revolution. Mit der Ausweitung der Geldmenge und des Kreditvolumens vermieden es die Regierungen, die Krise in voller Wucht auf die Arbeiterklasse durchschlagen zu lassen. Die zunehmende Krise der Staatsverschuldung, der immer weiter angestiegene Anteil der Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt sind Folgen des Ausweichens vor dem Klassenkonflikt.

Schnittpunkt Bagdad

Militärisch läßt sich dieses Dilemma des Weltkapitalismus nicht lösen, aber Bomben sind das einzige Mittel der Konterrevolution, das ihnen noch bleibt. Und für die USA sind sie das letzte Mittel, eine Staatenwelt zusammenzuhalten, in der heillose Uneinigkeit darüber besteht, wie sich das Dilemma lösen ließe. Der Irak ist seit Anfang der 90er Jahre ins Zentrum eines nur noch militärisch geführten Kampfes um die »Neue Weltordnung« geraten, weil sich hier die verschiedenen Momente der Krise verdichten. Nach der Revolution im Iran wurde er hochgerüstet, um die revolutionären Bestrebungen in dieser Region in Krieg zu ersticken. Neben Saudi-Arabien, auf das die USA den Krieg im Falle eines Regierungsumsturzes ausweiten möchten, bietet der Irak die besten Möglichkeiten, den internationalen Ölmarkt zu kontrollieren, von dem wiederum das Gewicht des Dollars abhängt. Geopolitisch hoffen die USA, vom Irak aus ihren Einfluss im Nahen Osten zurückzugewinnen und sich damit wieder als Garant der weltweiten Energieversorgung behaupten zu können.

Und die bisherigen Ankündigungen zum Ablauf eines Angriffs auf den Irak machen deutlich, dass es auch einfach darum geht, ohne die Gefahr eigener Verluste ihre neuesten Waffentechnologien der ganzen Welt vorzuführen. Wie der Erfinder der Strategie »shock and awe« (Schocken und Schrecken), die an Bagdad erprobt werden soll, betont, soll das Zerstörungspotential der neuen Bomben so groß sein und so plötzlich wirken, dass damit die Grenze zwischen konventioneller und atomarer Kriegsführung verwischt wird. Es ist klar, warum dies so wichtig ist. Die militärische Überlegenheit der USA leidet an dem Defekt, dass sie zu einem großen Teil auf einer Waffentechnologie beruht, die seit 1945 nicht mehr eingesetzt werden konnte: Atombomben. Die Entwicklung sogenannter »taktischer Atomwaffen«, die Kündigung des ABM-Sperrvertrages im Juni letzten Jahres und die immer wieder angekündigte Möglichkeit des Einsatzes von Atomwaffen im Krieg gegen den Irak - all dies sind die verzweifelten Versuche, die letzten Karten eines Systems auszuspielen, das sich im Abstieg befindet. Und hier kommt ein weiteres Problem hinzu: Seit ihrer Niederlage im Vietnam-Krieg waren die USA nicht mehr in der Lage, einen »richtigen Krieg« zu führen. Mit dem überstürzten Abzug aus dem Libanon und dem Debakel in Somalia hatten sie sich noch weiter in der Rolle des Weltpolizisten blamiert. Der schnelle Sieg in Afghanistan entwickelt sich gerade unter den Augen der Weltöffentlichkeit zu einer ähnlichen langfristigen Niederlage. Fatalerweise sind es gerade diese Niederlagen, die in der Machtlogik einer absteigenden Supermacht das Vorzeigen immer neuer »Siege« erfordern.

Während wir dies schreiben, bereiten sich beide Seiten auf den Krieg vor, und auf beiden Seiten ist man sich bewußt, dass es um einen Krieg gegen das Proletariat geht. Während die US-Truppen zusammen mit NGOs die Grenzen gegen den Ansturm von Flüchtlingen sichern, die dem Krieg und der Armut entkommen wollen, läßt das irakische Baath-Regime an den Rändern des größten Slumviertels in Bagdad - Saddam City mit über zwei Millionen (in Wirklichkeit wohl viel mehr) Einwohnern - Gräben ausheben, um die Proletarier daran zu hindern, in den Kriegswirren die reicheren Viertel der Stadt zu plündern oder den sozialen Aufstand zu wagen. Saddam Hussein weiß nur zu gut, dass seine Macht 1991 weniger durch die amerikanischen Bomben gefährdet war als durch die sozialen Aufstände nach dem Krieg.

Eine neue Supermacht?

Nach den großen Demonstrationen am weltweiten Aktionstag Mitte Februar kommentierte die New York Times (17.2.): »Die Spaltung in der westlichen Allianz am Irak und die riesigen Antikriegsdemonstrationen überall auf der Welt an diesem Wochenende erinnern uns daran, dass es immer noch zwei Supermächte auf dem Planeten geben könnte: die USA und die öffentliche Meinung der Welt.« Auf die »öffentliche Meinung« sollten wir nicht allzuviel geben, aber in dem breiten Umschwenken der Regierungen auf der ganzen Welt gegen diesen Krieg kommt ein sozialer Gegensatz gegen Krieg und Herrschaft zum Ausdruck. Kriege werden nicht nur aus militärischen Gründen unführbar, sondern auch dann, wenn sie nicht mehr als Legitimation von Macht, Nationalismus und Chauvinismus funktionieren. Wenn offensichtlich wird, dass es nur noch um die Verteidigung einer Weltordnung geht, die uns nichts mehr zu bieten hat und an die niemand mehr die Perspektive eines besseren Lebens bindet.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass in den nächsten Wochen einige Regierungen, die mit dem Rücken an der Wand stehen, ihren Soldaten die Bombardierung Bagdads befehlen werden. Aber damit werden sie die Legitimation dieser Weltordnung weiter untergraben und die wirkliche zweite Supermacht, das globale Proletariat, von dem all ihr Reichtum und ihre Macht abhängig sind, gegen sich haben.


Ein paar Tips zum Weiterlesen:

Robert Brenner: Boom und Bubble, VSA-Verlag 2002

Immanuel Wallerstein: Adler im Sturzflug, Subtropen, 9.11.02; Utopistik, Promedia Wien 2002

Giovanni Arrighi: Der globale Markt. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Anfang und dem Ende des 20. Jahrhunderts, Journal für Entwicklungspolitik, Nr. 4/2000

André Gunder Frank / Marta Fuentes-Frank: Widerstand im Weltsystem, Promedia Wien 1990

Fred Moseley: Die US-amerikanische Wirtschaft am Ende des Jahrhunderts: Am Beginn einer neuen Ära der Prosperität? Wildcat-Zirkular Nr. 55

Wildcat-Zirkular Nr. 56/57 mit Texten zur Krise

Das Ende der Entwicklungsdiktaturen, Wildcat-Zirkular Nr. 65

Wie stark sind die USA, junge welt, 8.8.2002

... und natürlich die übrigen Hinweise in diesem Heft !


[Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt] Wildcat [Inhalt Wildcat-Sonderheft Krieg] [Artikel im Archiv] [Gesamtindex]