Wildcat-Zirkular Nr. 65 - Februar 2003 - S. 18-27 [z65endee.htm]


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Das Ende der Entwicklungsdiktaturen:

die neue Unübersichtlichkeit

In einer Hinsicht hat sich das Kapital sicher schon bedrohter gefühlt, z.B. als nach dem Zweiten Weltkrieg plötzlich nicht mehr nur ein Zehntel, sondern ein Drittel der Menschheit »kommunistisch« geworden war. Die Lage damals war ernst, aber übersichtlich. Das State Department kannte seine Feinde und wußte, wohin es die Agenten, die Wirtschaftshilfe, die Bomben zu schicken hatte. Das ist heute nicht mehr so einfach.

Die Entwicklung des Kapitalismus im 20. Jahrhundert ist - neben der Verschiebung des Zentrums von Europa nach Nordamerika - durch Aufstieg und Fall der Entwicklungsdiktaturen gekennzeichnet. Ich will im folgenden historischen Draufblick die These belegen, daß alle Aufstände und Emanzipationsbewegungen im 20. Jahrhundert entweder niedergeschlagen oder in Entwicklungsdiktaturen umgesetzt wurden - eine andere Art des Niederschlagens könnten wir sagen, aber dabei wird leicht vergessen, daß die Mainstream-Linke mit ihren Vorstellungen von »Fortschritt« immer auf den Staat fixiert war. Diese Entwicklung ist jetzt an ihr Ende gekommen. Damit kann der Blick frei werden für den wirklichen Fortschritt in der Menschheitsgeschichte: die Weltrevolution; »das Ende des Realsozialismus macht den Sozialismus möglich«, könnte man pointiert formulieren.

In der Geschichte der Entwicklungsdiktaturen können grob drei Perioden unterschieden werden: Die Phase der Dekolonialisierung, die Zeit der Diktaturen und deren Fall. Ein Muster, das sich in jeweils besonderer Ausprägung fast überall wiederfindet.

Entkolonialisierung

Das Entstehen der Entwicklungsdiktaturen findet in zwei Etappen statt, getaktet durch das Ende der beiden Weltkriege (außer in Lateinamerika, das nur am Rande von den Kriegsereignissen betroffen war). Die ersten Entwicklungsdiktaturen entstehen in Rußland, in der Türkei und in Lateinamerika; nach dem Zweiten Weltkrieg dekolonialisieren sich Asien, Afrika und Osteuropa.

Fast überall haben wir ein bestimmtes Muster: Zuerst entstehen auf Druck der städtischen Bevölkerung nationalistische Regimes, die zum Teil mit bürgerlicher Demokratie experimentieren [1]. Wobei »Dekolonialisierung« nur das (bittere) Ende von breiten und teilweise bewaffneten Befreiungsbewegungen ist.

Zeit der Diktatur

Dieser politische Aufbruch ist in Osteuropa meist nur eine Episode, aber auch sonst bald vorbei. Die nationalistischen Regimes werden von Diktaturen abgelöst [2]. Typischerweise ist es die Armee, zum Teil mit Unterstützung oder Sympathie von Teilen der ländlichen Bevölkerung, die in mehr oder weniger blutigen Staatsstreichen die Macht übernimmt - am grausamsten in Indonesien, wo innerhalb weniger Monate zwischen einer halben und einer ganzen Million Menschen massakriert worden sind.

In Asien und Afrika wird von diesen Diktaturen, wie schon von ihrem Vorbild in Rußland und unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung (Fünfjahrespläne gab es z.B. auch in Südkorea), staatlicherseits eine Industrialisierung in Gang gebracht, meist mit Schwerpunkt Infrastruktur und Schwerindustrie. Niedrige Löhne (außer für eine kleine Arbeiterschicht in zentralen Bereichen), Ausbeutung der Bauern, wenig Entwicklung auf dem Land. Aber gleichzeitig hat sich der Schwerpunkt (oder besser die Wurzel) der Macht wieder auf das Land verlagert. Die Diktaturen stützen sich auf die Unbeweglichkeit der Bauernschaft bzw. auf die gewachsenen Machtstrukturen auf dem Land. In Asien auf überkommene und noch nicht umgewälzte Verkehrsformen des asiatischen Feudalismus, in Lateinamerika und den Philippinen auf den Großgrundbesitz. Auf dem Land formiert sich auch - so es ihn gibt - der Widerstand (Landguerilla). Die städtische Bevölkerung wird mit bescheidenem, aber relativ stetig wachsendem Lebensstandard bei der Stange gehalten. Dazu gehört auch die Kontrolle der Migration in die Stadt.

Die Diktaturen sind unterschiedlich erfolgreich; dort wo Entwicklung stattfindet, entsteht auch eine kämpferische Arbeiterklasse: das Zentrum der Macht verlagert sich tendenziell zurück in die Stadt.

Auch da lassen sich einige Abschnitte kenntlich machen. Die Beschleunigung der Entwicklung in Asien (und zuerst auch in Afrika) ist durchaus durch die weltweite Bewegung und folgende politische Erneuerung nach 1968 festzumachen. Die Ansprüche der städtischen Bevölkerungen steigen; aber gleichzeitig gibt es Kapital und Geldflüsse (Petrodollars), um dem gerecht zu werden. Die ökonomische Entwicklung beginnt sich auszudifferenzieren. Während es in einigen Gesellschaften gelingt, dies in Wachstum zu übersetzen (wozu endemische Kämpfe der Arbeiter, v.a. der Arbeiterinnen gehören, etwa in Südkorea und anderen Ländern in Südostasien), geraten andere in die Schuldenfalle (Afrika und Lateinamerika). In Osteuropa geht die Wachstumsgeschwindigkeit zurück, auch da läßt die Fähigkeit der Regimes, der Arbeiterklasse entweder Entwicklungsverzicht aufzuzwingen oder ihre Initiative in Entwicklung zu übersetzen, nach. Breschnjew befriedet die städtische Bevölkerung mit steigenden Konsummöglichkeiten und Reduzierung des Arbeitsterrors, beendet aber den Prager Frühling 1968 mit Panzern.

Ab 1980 geraten die Diktaturen an die Grenzen ihrer Möglichkeiten, auch und gerade dort, wo sie erfolgreich sind. Es beginnen die großen Arbeiterkämpfe, die anfangen, die Macht der Regimes in Frage zu stellen (Aufstand in Kwang-Ju [3] 1980, Iran 1979). Daß in dieser Zeit der »Neoliberalismus« als kapitalistische Ideologie auftaucht, reflektiert genau die neuen Unwägbarkeiten einer Entwicklung, die den alten Strukturen zu entwachsen beginnt.

Das Ende der Entwicklungsdiktaturen

Es bietet sich an, 1989 (Berlin: Fall der Mauer und Beijing: Tien-An-Men) als Schnittpunkt anzusetzen: Es beginnt die Periode, in der die Diktaturen fallen. (Kamerun '84, Brasilien '85, Philippinen '86 sind vorher, dann folgen aber ganz Osteuropa, Thailand '92, Südkorea endgültig '93, Indonesien '98, Nigeria '99).

Die 90er Jahre sind das Jahrzehnt, in dem sich die Umwälzung der Klassenverhältnisse, die in den 70er Jahren begonnen hat, in dramatischer Weise beschleunigt. Überall außerhalb von Westeuropa und Nordamerika strömen die Menschen in die Stadt [4], Gründe dafür gibts viele, u.a.:

Schwächung des Staates

Wir sind derzeit noch mitten in der Phase der Ablösung der Entwicklungsdiktaturen. Diese hatten eine historische Phase lang für den Kapitalismus einen Zweck: v.a. die Mobilisierung von Kapital aus der Ausbeutung des Landes. Als Entwicklungsdiktatur konnte das nur in der Entwicklung vom Rohstofflieferanten zur Importsubstitution funktionieren - und es ist nur in Südostasien geglückt. Dort wurde ab einem gewissen Grad von Industrialisierung und Umwandlung der Landwirtschaft die Diktatur kontraproduktiv: kapitalistische Entwicklung braucht den freien Arbeiter. Den Zwang für ihn, seine Arbeitskraft verkaufen zu müssen, aber auch die Möglichkeit für ihn, das möglichst gut und teuer zu machen und dafür seine Kreativität, Motivation und Willen zur Weiterbildung einsetzen zu können. Industrieller Kapitalismus braucht Vermittlungsstrukturen wie Gewerkschaften, Betriebsräte, Parteien, staatlich organisierte Wohlfahrt. Aber nicht »der Kapitalismus« hat die Diktaturen durch etwas anderes ersetzt, sondern sie sind in aller Regel durch Aufstände beendet worden - und unter dem Eindruck der Aufstände haben dann auch mal IWF/Weltbank nachgeholfen, wie etwa in Indonesien. Dies hat überall zu einer Schwächung der Rolle des Staates geführt. Dort, wo die Entwicklung »erfolgreich« war, gibts durchaus derzeit sowas wie funktionierende Demokratie.

Aber es gibt nicht nur Südkorea, sondern auch Afghanistan: Wo nur Diktatur und keine Entwicklung war (also Urbanisierung/Proletarisierung nur als Verelendung und nicht als Aufstieg einer neuen Arbeiterklasse), können nur Failed (or failing) States herauskommen. Dazwischen liegen etwa Indonesien und Nigeria, wo der Staat zwar noch halbwegs funktioniert, aber in weniger entwickelten Regionen Ethnizismus, religiöse Kämpfe und Mord und Totschlag regieren. (Und dazwischen liegt ganz Lateinamerika, wo Diktaturen seit den 60er Jahren ehemals industrialisierte Länder in der internationalen Arbeitsteilung immer weiter nach unten gebracht haben.)

Nicht nur ist urbane Bevölkerung an sich schwerer zu kontrollieren (siehe den Zusammenbruch des Hukou-Systems in China), sondern die gesellschaftlichen Strukturen im »Hinterland« selbst befinden sich in Auflösung - teilweise wegen der zunehmenden Verarmung, teilweise durch die Flucht der Jungen und Mobilen (und diese Migration bringt natürlich auch die Einflüsse der Stadt wieder zurück, unter anderem das Geld, aber auch neue Vorstellungen und Verhaltensweisen). Überall nehmen nicht nur Arbeiter-, sondern auch die Bauernkämpfe zu.

Die zunehmende Unfähigkeit der Nationalstaaten, ihre Bevölkerung »geordnet« zu regieren, wird ergänzt durch das Verschwinden, mindestens den Rückgang der Bedeutung ihrer Gegenparts: der KPs, Gewerkschaften, »linker« oder separatistischer Guerillagruppen. All diese Gruppierungen haben ebenfalls zur Durchschaubarkeit und Übersichtlichkeit der Machtverhältnisse beigetragen. Zur Krise dieser staatsfixierten »Linken« kommt dazu, daß sich auch die religiös ausgerichteten militanten Gruppen auf dem Rückzug befinden [5].

Wenn der Feind jetzt nicht mehr »Kommunismus«, sondern neu und sehr vage »Terrorismus« heißt, und wenn andererseits im Völkerrecht die Rolle der (Souveränität der) Nationalstaaten reduziert wird [6], dann reflektiert das die neue Unübersichtlichkeit. Der »Krieg gegen den Terror« zielt natürlich auf die »Armen der Welt, die nicht mehr von der KP zurückgehalten werden«, wie es Matthias Beltz mal so hellsichtig formuliert hat.

Das Neue an dieser politischen Umwandlung ist, daß die Menschen, die den Fall dieser Diktaturen herbeiführen, nicht »um die Macht« kämpfen. In den seltensten Fällen gibt es Organisationen [7], Namen von Führern o.ä. Es ist einfach der weitgehend unfaßbare und nicht dingfest zu machende Druck von unten, von der Straße, aus den Fabriken. Studenten und städtisches Proletariat erzwingen mehr Freiheit, indem sie sie sich nehmen. Noch immer gelingt es zwar alternativen Teilen der Elite, diesen Druck auszunutzen, um selber an die Regierung zu kommen, aber es gibt keine »organische« Verbindung mehr zwischen diesen Politikern und den Massenbewegungen, es gibt weder eine KP noch einen Che Guevara (siehe den Artikel zu Argentinien in diesem Heft!).

Neue Weltkonzerne

Der rasanten Entwicklung der 90er (und z.T. schon der 80er) entspricht auch, daß die einzelnen Kapitalien, einschließlich der Weltkonzerne, ihren strategischen Planungshorizont zurückgefahren haben, zum Teil gar keinen mehr zu haben scheinen. Darüber ist schon genug geschrieben worden, die Klagen der Gewerkschaften sind Legende. Relativ neu sind zwei Entwicklungen: die Konzerne in den dynamischen Branchen der neuen MassenarbeiterInnen (Elektronik und Textil, Schuhe) haben schon früher die direkte Ausbeutung Subunternehmen überlassen. Jetzt sind aber Weltkonzerne wie Flextronics entstanden, die die Produktion insgesamt (und ihre Planung) beherrschen. Diese Firmen haben keine eigenen Marken, organisieren aber von der Entwicklung zur Produktionsreife bis zur weltweiten Logistik die Produktion - für Nokia, Siemens, Ericsson, Canon uva. - und haben nicht nur in China, Malaysia oder Ungarn die Fabriken übernommen bzw. aufgebaut, sondern auch in Westeuropa und Nordamerika. Auch im Textilbereich begegnen wir inzwischen den gleichen (dort meist südkoreanischen) Firmennamen in Indonesien wie in Mexiko.

Der Krieg

Derzeit im Fokus steht die Golfregion. Wir haben es auch dort mit Entwicklungsdiktaturen zu tun, deren Fall oder eben Ablösung überfällig ist. Auch dort hat es wie in anderen Teilen Asiens bescheidene Entwicklung, auf jeden Fall aber eine genauso dramatische Proletarisierung und Urbanisierung gegeben. Wobei die Verfügung über den Ölreichtum die Regimes eher dazu verführt hat, den Ansprüchen der einheimischen Bevölkerung nachzukommen, als eine rigide Entwicklungspolitik zu fahren. Viel deutet daraufhin, daß zumindest im Iran sich die Verhältnisse derzeit aufheizen; auch die Stabilität der Regimes in Saudi Arabien (das erst jetzt eine industrielle Entwicklungspolitik durchzusetzen versucht [8]) und im Irak hat abgenommen. Die US-Regierung will sich dort positionieren, um bei den kommenden Ereignissen mitmischen zu können. Der Irak bietet sich nicht nur aufgrund seiner Ölreserven als Besatzungsgebiet an, sondern weil man sich ausrechnen kann, daß man es nach über 30jähriger faschistischer Herrschaft, den Golfkriegen, nach zehnjährigem Embargo und eventuell nach einem erneuten Krieg mit einer demoralisierten Bevölkerung zu tun haben wird, die mit sehr wenig ökonomischem und politischem Aufwand zufrieden zu stellen sein wird. Militärisch könnte das gelingen; ob nach dem Krieg auch ein solcher Frieden zu gewinnen ist, steht auf einem völlig anderen Blatt.

Das Epizentrum der Entwicklung dieser Dekade liegt in China. Es ist der große Hoffnungsträger des Kapitals. Während im Jahr 2002 die FDIs (Foreign Direct Investment) weltweit um 27 Prozent zurückgehen werden, steigen sie in China - und dieses Land wird erstmals mehr anziehen als die USA. Aber es findet tendenziell eine ähnliche Entwicklung statt wie in den USA: immer weniger dieser Kapitalzuflüsse gehen tatsächlich in produktive Investitionen, immer mehr dienen dazu, die Schuldenlöcher zu stopfen. Auch wenn das Regime in Beijing die rasante Umgestaltung der Gesellschaft bisher recht souverän gemeistert hat - auch diese Entwicklungsdiktatur ist fällig. Ganz egal, ob die neue Führung mit der Politik der Repression weitermacht oder eine Demokratisierung einleitet, oder beides zu kombinieren versucht. Es sind Anstrengungen zu sehen, die dynamischen Teile des einheimischen Kapitals zu fördern - aber noch nichts, um die drei »gefährlichen Klassen« (Bauern, Wanderarbeiter, Arbeiter in Staatsbetrieben) [9] zu integrieren. Das kann gutgehen, solange der Lebensstandard steigt oder zumindest die Hoffnung darauf allgemein aufrechterhalten werden kann. Dazu muß Kapital kommen, und es kommt derzeit. Aber sowohl das Vertrauen des internationalen Kapitals als auch das Vertrauen der Bevölkerung sind, wie sich Börsianer ausdrücken würden, mehr als volatil. [10]

Die Arbeiterklasse

Erst heute erfüllt sich die schon von Marx begriffene conditio sine qua non: das Proletariat ist zur Mehrheit der Weltbevölkerung geworden, und erst jetzt geht es um Weltrevolution. Und man kann feststellen, daß dieses Proletariat diese Erwartungen durchaus erfüllt: Dort, wo im Kern industrielle Arbeiterklasse entstanden ist, hat es seine Lage schnell und nachhaltig verbessern können. Die jungen Frauen und Männer haben in den drei letzten Jahrzehnten die Textil- und Schuhproduktion mit ihren unwürdigen Jobs über Kontinente gejagt [11]. Die spannende Frage ist nun, wie lange noch die Wünsche dieser ArbeiterInnen in kapitalistische Entwicklung umgesetzt werden können. Oder andersrum: wo entsteht kommunistische Kritik nicht nur am (Waren-) Reichtum, den wir haben, sondern auch an dem, der uns versprochen worden ist?

Wobei uns allerdings noch Maßstäbe fehlen: Was erwarten wir denn? Das Auftauchen von proletarischen Weltorganisationen? Solidaritätsstreiks?Copycats? Eine weltweite politische Bewegung? Das Neue und Spannende an der Frage nach der Weltrevolution ist ja, daß niemand Maßstäbe, Kriterien oder gar Antworten hat. Ein Maßstab könnte sein, ob sich etwas Gemeinsames entwickelt - und das sieht derzeit noch nicht so aus: die ArbeiterInnen kämpfen [12] - aber sie kämpfen nicht zusammen (wenn man mal von den gemeinsamen Aktionen von MigrantInnen in Hong Kong, Südkorea, Taiwan und auch anderswo absieht). Eher im Gegenteil: sie kämpfen für sich und verlassen sich erst mal nur auf ihre eigene Stärke. Noch nicht mal auf die Kolleginnen im Nachbarbetrieb wird gewartet.

Wir sind noch mitten drin

Wir befinden uns noch mitten in der Phase der Ablösung oder des Falls der Entwicklungsdiktaturen. Die Institutionen der Nachkriegszeit lösen sich auf, bzw. verändern ihren Charakter fundamental - wobei der »Kalte Krieg« und der »Eiserne Vorhang« nur zwei Aspekte waren. Grundlegender waren die Nationalstaaten, die - in ganz unterschiedlichen Ausprägungen - ihre Leute einigermaßen im Griff hatten. Das ist vorbei; das zeigt die weltweite Migration ebenso wie die gestiegene Kriegsgefahr anhand des Zusammenbruchs von Staaten oder die in rascher Folge sich ablösenden »politischen«, »ökonomischen« und/oder »gesellschaftlichen« Krisen (Rußland, Südostasien, Türkei, Argentinien ...). Das Bild ist aber nicht nur kompliziert, sondern auch uneinheitlich geworden: Arbeiterkämpfe, städtische Riots, Separatismus, Warlordismus oder Selbstzerfleischung unter religiösen Vorzeichen.

Es ist kein neues Modell der Organisation weltweiter kapitalistischer Herrschaft in Sicht. Weltbank, IWF und andere Agenturen des Kapitals (einschließlich des Militärs im Kriegsfall) setzen immer mehr auf NGOs aller Art. Die sind oft weit besser in der Lage, die beschränkten Mittel zum Aufbau von neuer Staatlichkeit einzusetzen, als die meisten Staaten selber. Eine Falle, in die Teile der »Antiglobalisierungsbewegung« geraten könnten.

Denn die Zahl der Krisen-Hot Spots hat zugenommen und wird weiter zunehmen. - Sogar das UN-Vorzeigekind Osttimor scheint zur Zeit aus den Fugen zu geraten (weil eine kapitalistische Entwicklung weder stattfindet noch versprochen werden kann). Die neue Unübersichtlichkeit nach dem weitverbreiteten Rückgang oder gar Zusammenbruch von Staatlichkeit und nationalstaatlicher Macht, diese Unsicherheit der Herrschenden: das vervielfacht die Zahl der privaten Sicherheitskräfte, Wachmannschaften und Privatarmeen, das Söldnerunwesen und die Gefahr von Kriegen. Aber das zeigt gleichzeitig, daß keine Armee dieser Welt, auch nicht alle zusammen, »genug Daumen hat, um alle Löcher im Damm zuzuhalten«. Die Konflikte können weder mit wirtschaftlicher Entwicklung eingedämmt werden, noch mit rein militärischer Macht unterdrückt - das zeigt derzeit schon allein die Politik Nordkoreas. Diese Unsicherheit macht auch die eigentliche persönliche Dummheit eines George WB so offensichtlich. Die Liste der »terroristischen Organisationen«, das ist die Liste der Feinde von gestern, ergänzt mit Schimären von heute - also ein mehr als untauglicher Versuch, die Aufgaben zu benennen.

Karl


Fußnoten:

[1]  Mossadeq: Iran 1951-53; Sukarno: Indonesien 1946-65; Vargas: Brasilien 1930-45 und 1951-54; Peron: Argentinien 1946-55; Nasser: Ägypten 1954-70; Tschiang Kai Tschek: China bis 1949; spät noch Lumumba: Kongo 1960-61.

[2]  Schah (Iran 1961-79), Soeharto (Indonesien 1966-98), Mao Tse Tung (China ab 1949), Marcos (Philippinen 1965-86), Tito (Jugoslawien 1945-80), Park Chung-Hee (Südkorea 1963-79).

[3] Südkorea: Nach der Ermordung Park Chung Hees durch den Geheimdienst gibt es den »demokratischen Frühling von 1980«, der folgenden Machtergreifung seines Sohnes widersetzen sich vor allem die Einwohner der Stadt Kwang-Ju. Bei der Einnahme von Kwang-Ju durch die Armee gibt es an die 2000 Tote und Verschwundene (siehe Südkorea - Demokratie oder Arbeiterautonomie in: Wildcat Nr. 42, Herbst 1987).

[4] 1980 lebten 39,6 Prozent der Menschen in Städten, 1990: 43,5 Prozent und 2000: 47 Prozent; wobei die Städte in den 70er Jahren noch 45,6 Prozent des Bevölkerungswachstums aufnahmen, in den 90er Jahren aber schon 71,8 Prozent. Es gab Ende 2000 372 Millionenstädte, 1985 waren es 245 (nach UN-Habitat und UN Population Division). In Asien arbeiten 1960 9,7 Prozent der »ökonomisch aktiven Bevölkerung« in der Industrie, 1990 sind es 16,9 Prozent. Darunter China 6,3 / 15,1; Südkorea 10,2 / 35,4 Prozent (nach ILO, Asia, Statistical Working Papers 96-I). Neuere Zahlen sind nur für einzelne Länder zu bekommen: China 1997: 26,8 Prozent; Südkorea 1997: 31,3 Prozent - da hat sich, wie zu erwarten, die fortschreitende Proletarisierung im Dienstleistungssektor niedergeschlagen.

[5]  Der »Krieg gegen den Terror« versucht uns ein anderes Bild zu vermitteln. Überall in der Welt entdecken die Medien den bewaffneten islamischen Fundamentalismus ... Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß die FIS in Algerien, die MILF oder MNLF auf Mindanao oder die GAM im Aceh entweder nur noch Schatten ihrer Selbst sind, oder sich zu schlichten Drogenhandelsunternehmen gewandelt haben. Auch hier gilt, daß (Bomben-) Anschläge eher den Niedergang einer Bewegung als ihren Aufstieg begleiten.

[6]  Siehe dazu z.B. Susanne, The World at Gunpoint, Wildcat-Zirkular Nr. 54 (November 1999).

[7]  Wenn man mal vom Badan Eksekutif Mahasiswa (Exekutivrat der Studenten) in Jakarta oder vom Hanchongryong (Allgemeiner Studentenrat) in Südkorea absieht.

[8] Siehe George Caffentzis: Warum diese Verzweiflung?; dort v.a. das Kapitel »Freihandel mit den Saudis« in der Beilage zum Wildcat-Zirkular Nr. 61, Januar 2002.

[9]  Siehe Karl, China: Klassenkampf im Wirtschaftswunder, Wildcat-Zirkular Nr. 64 (Juli 2002).

[10]  Vor allem die Banken sind das Sorgenkind des Kapitals, weil ihre Kredite, die sie unter dem Eindruck der Arbeiterkämpfe an die Staatsbetriebe geben mußten, zur Hälfte faul sind. Das ist noch kein Problem, da die Sparquote der Chinesen extrem hoch ist. Aber schon eine leichte ökonomische Erschütterung könnte die Tatsache ans Licht bringen, daß die Spargroschen schon längst ausgegeben sind ...

[11]  Von Japan nach Südkorea nach Indonesien und China, derzeit nach Vietnam und Bangladesh. Siehe »Nike auf der Flucht«, Wildcat-Zirkular Nr. 30/31 (November 1996).

[12]  Wer nicht daran glaubt, kann das täglich u.a. auf www.labourstart.org (für die englischsprachige Welt und Lateinamerika) und www.umwaelzung.de/aaktuell.html (für Südostasien und China) nachprüfen!


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