Wildcat Nr. 73, Frühjahr 2005, S. 6–9 [w73_opel.htm]



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Der wilde Streik bei Opel

Im Sommer 2004 sah es schlecht aus: Hartz IV drohte, betriebliche und tarifliche Konflikte endeten mit Lohnsenkung und Arbeitszeitverlängerung, der Vertrag in den Siemens-Handy-Werken öffnete die Bresche für einen breiten Unternehmer-Durchmarsch. Als nächster Großkonzern ging DaimlerChrysler in die Offensive, 500 Millionen Euro Kostensenkung wurden vorgegeben … Mit ersten selbstständigen Aktionen der ArbeiterInnen schien sich eine Wende anzudeuten (Besetzung der B 10 durch Daimler-Arbeiter). Danach entstanden spontane Massendemos gegen Hartz IV, die mit zu den längsten sozialen Protesten in der Geschichte der BRD gehören – und noch immer nicht ganz zu Ende sind.
Dann Opel: Der Konflikt hier zeichnete sich schon seit Monaten ab, zwecks Kostensenkung in der vom Konkurrenten Daimler vorgegebenen Höhe soll(t)en allein in Deutschland 10 000 Stellen abgebaut werden – dagegen traten die ArbeiterInnen in Bochum am 14.Oktober in einen wilden Streik (siehe Wildcat 72).

»Uns war klar, der Streik wird nicht nach drei Tagen durchgekämpft sein … nach Siemens, DaimlerChrysler usw. war klar, das würde keine kleine Nummer werden.« (ein Opel-Arbeiter [*]) Nach sechs Tagen Streik mit Blockade der Tore und Wochenendbesetzung standen mangels Teilen mehrere GM-Werke in Europa still. Aber kein anderes Opel-Werk schloss sich dem Streik an. Gewerkschaft, Landesregierung, Bundestag und Kirchen setzten die Streikenden massiv unter Druck. Nach dem gewerkschaftlichen Internationalen Aktionstag organisierte der Betriebsrat eine Betriebsversammlung, auf der alle ArbeiterInnen alternativ »für Streik« oder »für Verhandlungen« stimmen sollten. Die Mehrheit war für Verhandlungen, der Streik wurde damit ausgesetzt. Kurz darauf kündigte die Geschäftsleitung Abfindungen in teilweise astronomischer Höhe an. Seither regierte der Taschenrechner. In vielen kleinen Versammlungen am 13. Dezember ließen sich die ArbeiterInnen die Initiative endgültig aus der Hand nehmen, eine gemeinsame Versammlung und Abstimmung war nicht mehr durchzusetzen. In alter Vertretermanier stimmten die Betriebsräte mehrheitlich für die Annahme des Vertrags.


»Wichtig ist der Grad der Selbstorganisierung, das heißt auch, dass nicht immer alles planbar ist, auch der Sieg ist nicht planbar oder zwingend. Wir haben abgestimmt und den Streik unterbrochen, wir haben dieses Ergebnis mitgetragen, auch wenn wir es anders wollten. Aber genauso haben wir beschlossen: über ein mögliches Ergebnis stimmen wir wieder gemeinsam ab. Wir haben angefangen und wir haben unterbrochen!«



Abfindungen: still halten und rechnen

Die Betriebsvereinbarung vom 8.12. sieht bundesweit 6500 Abgänge in Transfergesellschaften vor (die Zahl wurde Mitte Februar um 500 gesenkt). In Bochum drohten die ca. 3000 »Freiwillige«, die ironischerweise in der Transfergesellschaft BAQ des IG Anwalts Horst Welkoborsky verwaltet werden sollen zum Fristende 31.01. nicht zustande zu kommen. Dann wäre es über die ebenfalls vereinbarte »Einigungsstelle« zu massenhaften Kündigungen gekommen. Da jedoch bei Geschäftsleitung und Betriebsrat die Angst vor einem neuerlichen Aufstand noch zu groß war, wurde die Frist vor der Betriebsversammlung Ende Januar auf den 25.02.verlängert. Hinzu kam, dass GM sich erst gegen die Abwanderung von Fachkräften, dann gegen die »zu teuren« mit langer Betriebszugehörigkeit sperrte. Um als Vorbereitung des Zukunftsvertrages den Abschluss doch als Erfolg verkaufen zu können, wurde nochmal Geld nachgeschossen (die durchschnittlich kalkulierten 92 000 Euro Abfindung reichten nicht aus), nachdem im Januar noch 340 »Freiwilligen« der Abgang verweigert wurde und man begnügte sich mit 1300 Abgängen, die restlichen müssen also noch in den nächsten Monaten und Jahren bis 2007 »realisiert« werden.


»Die Höhe der Abfindungen, das Geld und die gleichzeitige Drohung von betriebsbedingten Kündigungen individualisierte die Auseinandersetzungen bzw. verlagerte sie in die Familien. Weihnachten 2004 wurden tausende Familienräte abgehalten, immer wieder wurde durchgerechnet, reicht die Abfindung bis zur Rente, soll ich mich selbständig machen, was ist mit den Raten, was ist mit der Ausbildung der Kinder, arbeitet der Ehepartner – wie organisiere ich mein Leben. Ab Januar fragte man dann die Kollegen: 'Und wie sieht´s bei dir aus? Was machst du?' Für viele bedeutet das die Auseinandersetzung mit Hartz IV und ALG II. Die ganze Auseinandersetzung hat was Zersetzendes.« Und wer jetzt noch »Scheiße« baut, dem geht vielleicht die versprochene Kohle flöten. Die Abfindungen wirken als Stillhalte-Prämie – der unterbrochene Streik ist endgültig gebrochen.

Dennoch hat die Kampfbewegung der ArbeiterInnen ihre Macht gezeigt – die sie nur ansatzweise ausgespielt haben. Während die Montagsdemos auf materieller Ebene lediglich kleine Entschärfungen der Hartz-Gesetze zur Folge hatten, musste auf den Streik bei Opel wesentlich mehr Geld geworfen werden, um eine Ausweitung zu verhindern. Das hat fürs erste funktioniert – aber die Opel-ArbeiterInnen haben in ihrem Kampf ganz konkrete Fragen auf der Höhe der Zeit aufgeworfen.

Sind der Abbruch des Streiks und das Verschwinden der organisatorischen Strukturen nach seinem Ende als Unfähigkeit zu sehen, die passenden Antworten zu finden? Hätte sich die Isolierung des Kampfs in einem Werk organisatorisch überwinden lassen, hätte eine organisierte Struktur die Solidarisierung der anderen Opel-Werke »erzwingen« können? Sicherlich nicht. Und ist das Nichtgreifbare der Streikorganisierung nicht gerade ihre Stärke?


erfahren und entschlossen

Das Werk Bochum ist aufgeteilt in drei Werksteile, die in unterschiedlichen Stadtteilen liegen: Werk I mit Rohbau, Fertig- und Endmontage, Lackiererei, Presswerk, Auspuff und anderen Komponenten; Werk II mit Powertrain, d.h. Motor- und Getriebebau, wobei der Motorbau mittlerweile geschlossen ist, Vorder- und Hinterachse; Werk III mit dem zentralen Ersatzteillager. Die Werke II und III liegen nebeneinander, sind aber vom Werk I ca. zehn km entfernt.


Die AktivistInnen betonten immer wieder, wie wichtig für die Streiktaktik die Erfahrungen der letzten Jahre war, besonders der Streik von 2000. Damals sicherte die Mobilisierung der ArbeiterInnen gegen die professionellen Verhandler den zur Tochterfirma Powertrain ausgelagerten ArbeiterInnen den Opel-Haustarif. Die Parole, mit der die ArbeiterInnen immer wieder die Informationsgespräche der BR sprengten und diese zurückschickten – »Falsche Antworten!« – wurde zum Motto des Streiks. Nach der fünften ausgefallenen Schicht brach die internationale Verbundproduktion zusammen. Danach kam es immer wieder zu spontanen Aktionen. Mal zog die Nachtschicht »auf die Wiese«, mal wurde eine Pause gemeinsam verlängert. Vom hohen Niveau der Organisierung und Diskussionen zeugt die Konzentration des 2004er Streiks auf die Achillesferse des Kapitals: Torblockaden und Werksbesetzung am Wochenende verhinderten die Auslieferung von Komponententeilen für die anderen Werke. Die Schichtübergabe wurde zum Informationsaustausch genutzt.

Über die Fortführung des Streiks beschlossen die einzelnen Schichten. »Für uns war klar, von Freitag auf Samstag könnte es 'nen Bruchpunkt geben, also stellte sich die Frage der Werksbesetzung und wir entschieden uns, das Wochenende nicht schichtgetrennt drin zu bleiben. Davon konnten wir auch die anderen Werke überzeugen. […] Donnerstag und Freitag, Montag und Dienstag waren fast immer alle in der jeweiligen Schicht anwesend; es gab ne Minderheit von Schissern, die sich Urlaub oder nen Blauen genommen haben und vielleicht 'nen paar 'Schlaue', die telefonisch immer abgecheckt haben, ob der Streik noch läuft und sich 'nen verlängertes Wochenende gegönnt haben. Aber ansonsten war immer eine komplette Schicht vor Ort. Eine zusätzliche Unterstützung bot die Solidarität: Die Omas und Schulklassen, die vorbei kamen, die Leute, die Essen brachten; auch der Aufbau einer Solidaritätskasse war uns eine enorme moralische Stütze.« Obwohl die IGM am Wochenende zur Arbeitsaufnahme aufrief, ging die Frühschicht am Montag wieder geschlossen in Streik. So setzte sich der Streik noch von Schicht zu Schicht über die Dienstagsdemo bis zum Abstimmungsmittwoch fort.


selbständig und selbsttätig

»Das Wissen über das Ausbeutungsverhältnis haste spätestens mit deiner ersten Lohnabrechnung, aber die Diskussion da drüber war die treibende Kraft der sechs Tage. In der Zeit gab es echt 'nen kollektives Gefühl, was uns auch durchhalten ließ.« In dem Streik entwickelte sich eine hohe Selbsttätigkeit, die regelmäßigen Versammlungen wurden als offene Diskussions- und Entscheidungsforen genutzt. Doch noch wichtiger waren die vielen kleinen Diskussionsgruppen, die sich in den Gängen, Hallen und vor dem Tor bildeten. Hier wurden ganz praktische Fragen gelöst, aber auch die eigene Macht oder Existenzangst diskutiert. Für Transparenz sorgte auch eine Wäscheleine, die in der großen Halle des Wareneingangs gespannt und an der Soli-Erklärungen und Zeitungsartikel ausgehängt wurden, nachdem die Pinnwand in dem Flur zum besetzten BR-Büro übergequollen war. So konnten alle anwesenden ArbeiterInnen in gemeinsamen Diskussionen sich selbst eine Meinung bilden und den Streik zu ihrem Streik machen.

»Streiken können die Leute. Genauso, wie sie ne Party organisieren können oder ihren Schrebergarten. Ohne Aktivist kein Streik – stimmt nicht. Natürlich waren Leute, die schon in den letzten Jahren immer ihren Mund aufgemacht haben, auch diesmal wieder aktiv. Einige können besser ’in die Bütt‘ als andere, aber es gab auch Leute, die sich 'ne eigene Tätigkeit gesucht haben. Ein Kollege beispielsweise der mit Politik nix am Hut hat und eher so‘n Eigenbrötler ist, hat die Kaffee-Versorgung organisiert, der ist mit seinem Auto einkaufen gefahren, hat die Kohle vorgestreckt, hat tagelang Kaffee gekocht und war permanent im Einsatz. Andere haben Schnittchen geschmiert, so‘n Motorrad Macho kam mit seinen Kumpels und hat die Torblockade in die Hand genommen. So haben ganz viele die Wichtigkeit erkannt, nach Notwendigkeiten gesucht und ihre Rolle im Streik gefunden. (…) Die Leute ’in der Bütt‘ waren keine Streikführer, man könnte sie eher als Moderatoren bezeichnen, es gab da wirklich 'nen dialektisches Verhältnis zwischen den vielen kleinen Gruppen und den Wortbeiträgen der 'StreiksprecherInnen'.«


unabhängig organisiert und doch abgehängt?

Der Streik war nur möglich und wirksam, weil er unabhängig von den (und teilweise offensiv gegen die) gewerkschaftlichen Strukturen geführt wurde. In der offenen Streikorganisation galt für Tausende: Jede/r nach ihren/seinen Fähigkeiten. So führten die ArbeiterInnen in ihrem Streik die Gewerkschaft vor. Und doch gelang es ihnen am Ende nicht, sich von ihr zu emanzipieren. Die Kollektivität, die Selbstständigkeit und -bestimmung kamen unter die Räder, sobald die gewerkschaftliche Maschine wieder ins Rollen kam.

Bei Ausbruch des Streiks am Donnerstag hatten die Betriebsräte und auch die Vertrauenskörperleitung versucht, ihn zu verhindern und auf den gewerkschaftlichen Internationalen Aktionstag am darauf folgenden Dienstag zu verweisen. Doch als die ArbeiterInnen das Heft in die Hand nahmen, wurden auch einige Betriebsräte und VK-Leiter mitgerissen. Sie bildeten in Werk II und III zusammen mit AktivistInnen »der Stunde« eine informelle Streikleitung. Die Dynamik des Streiks bestimmte sich sowohl durch das Verhalten der Streikleitung, als auch durch das sämtlicher beteiligter ArbeiterInnen. Noch nach der Demonstration am Dienstag stimmte hier die überwiegende Mehrheit der ArbeiterInnen auf offenen Versammlungen für die Fortführung des Streiks. In Werk I herrschten jedoch andere Machtverhältnisse. Hier gelang es den Betriebsräten, die Stimmung über die von ihnen kontrollierten Betriebsversammlungen so zu manipulieren, dass letztendlich hier der Streik gebrochen wurde. Die Streikenden standen nun vor der schwierigen Entscheidung, den Kampf in Werk II und III weiter zu führen oder sich auf das gewerkschaftliche Spektakel einzulassen und damit den Streik zu beenden bzw. zu unterbrechen. Nur so ist die Zustimmung zur inszenierten gemeinsamen Versammlung mit Abstimmung und dem bekannten Ergebnis zu erklären. Dazu kam, dass während des Streiks die örtliche IGM die Unterstützung verweigerte, die IGM Spitze mit dem Gesamtbetriebsrat aktiv gegen den Streik arbeitete und die Kontakte zu den anderen Werken monopolisierte, um den Streik isoliert zu halten. Auf der Betriebsversammlung am 20. Oktober waren die krönende Zuspitzung der gewerkschaftlichen (Anti–)Streik-Aktivitäten manipulierende Stimmzettel, Ausweiskontrollen, »Schutz« der Bühne durch eine Securityfirma und das Gerücht einer bevorstehenden Werksräumung durch die Bullen.

Nach den Verhandlungen haben Mitte Dezember bereits alle Betriebsräte wieder in gewohnter Manier über den Restrukturierungsvertrag abgestimmt. »Alle«, das meint auch die Betriebsräte, die gegen den Vertrag stimmten. Auch sie mutierten von Streikunterstützern zurück zu »normalen« Betriebsräten.


Grenzen des Streiks – oder dem Kapitalismus die Grenze setzen?

»Beiden ist allerdings eines gemeinsam, dass sie die Belegschaft und ihren Kampf verraten haben. Ja, auch die Nein-Sager! Auch sie haben die Belegschaft entmündigt und gegen die Absprache am 20. Oktober 2004 gehandelt. Die war eindeutig: Jeder weitere Schritt, jedes Ergebnis aus den Verhandlungen wird vor Ort von der Belegschaft beraten, abgestimmt und dann ‘wohl oder übel’ getragen. Eine Abstimmungsverweigerung wäre die Fortführung des Kampfes im Sinne der sechs Tage gewesen, hätte ein Votum der Belegschaft nicht enteignet und nicht zerstört. Auch diese Abstimmung macht einmal mehr deutlich, wie notwendig ein Überdenken der Funktionen von Interessenvertretungen ist.« (Manfred Strobel im Express 12/04)

Die europäischen Betriebsräte treffen sich nun mindestens einmal im Monat, viel häufiger als bei anderen Unternehmen üblich. Im Mittelpunkt dieser Zusammenkünfte stünden die Zahlen und Vorgaben des Managements und die Durchsetzung ihrer Konsequenzen. Europaweiter Widerstand steht nicht zur Debatte.: »Beim letzten Aktionstag haben wir hier in den drei Schichten jeweils für 20 Minuten die Arbeit niedergelegt und uns in der Cafeteria versammelt.« Während sich die Betriebsräte europaweit regelmäßig treffen, sind die GM/Opel-Arbeiter in den einzelnen Werken voneinander abgeschnitten. »Verbindungen zwischen der Belegschaft in Antwerpen und den Kollegen in anderen Ländern gibt es nur im Rahmen von Trainingsmaßnahmen«, gibt Kenneth zu. [Hauptdelegierter der sozialdemokratisch orientierten Allgemeinen Belgischen Gewerkschaft (ABVV) im Interview mit wsws 11.12.04]

»Ihr könnt 37 Revolutionäre in den BR wählen, letztendlich kommt es auf den Kampf der ArbeiterInnen selbst an.« (Manfred Strobel auf einer GoG Veranstaltung am 22.1.2005 in Bochum.)


Im wilden Streik von 2000 ging es um Lohnkürzungen durch das Auslagern von Teilen der Produktion, die nach drei Tagen erfolgreich verhindert werden konnten. Die Betriebsräte mussten lediglich etwas getreten werden, um ein besseres Ergebnis auszuhandeln. Doch 2004 standen die ArbeiterInnen vor einer anderen Konfrontation. Nicht »nur« Lohnsenkungen und Arbeitsverdichtung standen auf der Agenda, die Existenz des gesamten Werks wurde infrage gestellt. Und sie waren mit einer Geschäftsleitung konfrontiert, die im Wissen um die tiefe Krise General Motors zunächst jede Verhandlung des Stellenabbaus verweigerte. In dieser Situation nahmen die Arbeiter den Kampf auf – und »unterbrachen« ihn, als er seine volle Macht entfaltete und die internationale Verbundproduktion ins Stocken geriet. Seine Grenze war, dass es nirgendwo anders zu Streiks gekommen war, deshalb konnte eine intrigante Gewerkschaft den Zaun drum rum schließen und eine Masse Geld das Feuer löschen.

Diese Einkreisung durch Gewerkschaft und Geld (Arbeiterverräter und Abfindungen) hätten die Opel-ArbeiterInnen nur durchbrechen können, wenn es an anderen Orten zu Streiks gekommen wäre. Beim momentanen Kräfteverhältnis liegt eine gewisse Rationalität darin, den Kampf auszusetzen und die Verhandler den Standort sichern zu lassen – wer die neuen Bedingungen nicht mehr will, kann das Geld nehmen und gehen. Statt einen Kampf zu eskalieren, dessen Ausgang mindestens ungewiss gewesen wäre. Langgezogene, isolierte Kämpfe haben in der Geschichte oft wirkliche Durchmärsche des Kapitals »vorbereitet«. Zudem war nicht einmal mehr klar, ob der Kampf wenigstens in Bochum gemeinsam weitergeführt hätte werden können.

Die Frage ist dann natürlich: wer soll überhaupt das Kräfteverhältnis wenden? Dazu muss es sich aber auch von unten her neu aufbauen, wie stehen hierfür die Bedingungen? Die sozialstaatlichen Regelungen in der BRD haben bisher dafür gesorgt, dass individuelles Verhalten gegen kollektive Aktionen meist »belohnt« wurde. Wer als Fabrikarbeiter bis 50 durchgehalten hatte, konnte sich einer Frühverrentung sicher sein; es war immer garantiert, dass die Gewerkschaften für Sozialpläne sorgen. In den vergangenen Jahr(zehnt)en gab es zwar erheblichen Stellenabbau, doch wurde er stets mit Hilfe des Sozialstaats für den einzelnen abgefedert. Mittlerweile ändert sich das. Nicht erst durch Hartz IV; aber dadurch verstärkt ist die Angst vor einem raschen Verlust des materiellen Lebensstandards in den Kernbelegschaften angekommen. Führt das nur zu mehr Angst – oder auch zu mehr Wut und Kampfbereitschaft?

Unsere Einschätzung vor gut einem halben Jahr war, dass nun zum Großangriff auf die Reste der immer noch materiell relativ gut gestellten Kernbelegschaften geblasen werde. Das scheint sich so nicht zu bewahrheiten; zwar werden allerorten die übertariflichen Zulagen demontiert, aber es scheint noch genug Polster hinsichtlich einer weiteren Ausdifferenzierung der Bedingungen zu bestehen, wie der Abschluss bei Daimler im Sommer gezeigt hat, der überwiegend auf Kosten der Randbereiche, wie z.B. der Reinigungskräfte, ging. Entscheidend für den weiteren Verlauf wird sein, ob zum einen die Unternehmen angesichts der Krise genügend Luft haben, um eine langfristige Salamitaktik anzuwenden (siehe die Arbeitsniederlegung im DaimlerChrysler-Werk in Bremen Mitte Februar!).

Die Entscheidung von GM, dem Standort in Bochum den Teil wegzunehmen, der seine strategische Macht im europaweiten Produktionsverbund ausmacht, ist nicht auf einer betriebswirtschaftlichen Ebene zu begreifen, hier ging es um die politische Entscheidung, der seit Jahren widerspenstigen Belegschaft das Wasser abzudrehen. Doch kann das Management seine (immerhin hochproduktive) Strategie des Produktionsverbundes nicht aufgeben, so werden sich an anderen Standorten ’zentrale‘ Arbeiten konzentrieren. Die Frage ist, wie lange es dauern wird, bis die dortigen Arbeiter ihre Macht erkennen und einsetzen werden. Wozu das führen kann, haben wir beim Streik in Melfi gesehen. (siehe Wildcat 70)


Wenn wir nicht mitmachen …

Von Streik-AktivistInnen ist wiederholt kritisiert worden, dass an den Toren und auf den Versammlungen die Linke durch Abwesenheit glänzte. Nicht, um den Arbeitern irgendeine Parteilinie aufzudrängen, sondern, um Anstöße zu geben, die Diskussionen über die Perspektive des Standortes und der Branche hinaus zu führen. Und um der betriebswirtschaftlichen Logik der Gewerkschaft etwas entgegenzusetzen.

Die Linksradikalen diskutieren wieder vermehrt über die »Soziale Frage« und bei manchen Gelegenheiten wird Bezug auf Arbeiter und manchmal sogar auf deren Kämpfe genommen, seien es streikende McDonald-ArbeiterInnen oder HotelputzerInnen – wobei auffällt, dass Solidarisierung offensichtlich schwieriger fällt, wenn die Kämpfe näher rücken. Aber anhand des Streiks in Bochum zeigt sich auch, dass »Soziale Frage« und »Klassenkampf« nicht einfach austauschbare Begriffe darstellen. Wird schon bei Kampagnen zugunsten von ImmigrantInnen und »Prekären« oft genug kein Bezug auf deren eigene Vorstellungen genommen, so eignen sich die relativ gut verdienenden Autoarbeiter noch nichtmal als Objekt des Mitleids. Der Diskussion um die »Soziale Frage« fehlt die Ahnung von der Macht, die fähig ist, die sozialen Verhältnisse umzuwälzen. Und es fehlt ihr die Idee, dass sich die eigenen Vorstellungen in den Kämpfen zwangsläufig ändern müssen.

Das wäre aber passiert, wenn nicht nur »Schulklassen und Omas« zu den Torblockaden gekommen wären, Linke hätten viel zu entdecken gehabt: wie die ArbeiterInnen untereinander kommunizieren z.B., andere Vorstellungen von »sozialem Ort« und »befreiten Gebieten«. Und sie hätten all das in ihre Plena, Kongresse, Flugblätter und Aufrufe zurücktragen und verbreiten können (es spricht auch nichts dagegen, bei einem Kampf bei Opel in Bochum Informationen nach Gliwice zu bringen – auch wenn die Nichtteilnahme der Opelaner in Eisenach nicht daran lag, dass sie über den Streik in Bochum nicht Bescheid wussten). Dann könnte ein bestreikter/besetzter Betrieb auch zu einem Ort werden, wo nicht nur Erfahrungen ausgetauscht werden, sondern von wo sie auch in die ganze Gesellschaft ausstrahlen.

Aber nicht nur die Rest-Autonomen und radikalen Linken sind lernfähig, auch die Diskussionen innerhalb der »Gewerkschaftslinken« ändern sich so langsam. Angesichts der neuen Rolle der Gewerkschaften – früher mussten die nur etwas getreten werden, um auf einen fahrenden Zug aufzuspringen, heute fallen sie einem offen in den Rücken – kommen endlich auch Diskussionen darüber auf, ob die Gewerkschaftsform überhaupt noch angemessen ist, ob es neue Formen der Organisierung auszuprobieren gilt. Im Zuge dessen haben Modelle wie die workers centers in den USA oder Basisgewerkschaften in Italien und Frankreich eine große Aufmerksamkeit erlangt.

Diese Erfahrungen in Frankreich und Italien zeigen aber auch, dass bisher jede Art von dauerhafter Organisation zu gewerkschaftlichen Strukturen führte, über kurz oder lang auch zu den negativen Erscheinungen, die wir heute bei den »etablierten« Gewerkschaften ablehnen. Es gibt auch viele jüngere ArbeiterInnen, die im Streik eine tragende Militanz entwickelt hatten, sich aber die Frage nach einer tragfähigen oder koordinierenden Struktur schon deswegen nicht stellen, weil sie die Perspektive auf eine lebenslange Beschäftigung bei Opel gar nicht haben: »Was weiß ich, ob ich in zwei Jahren noch dabei bin«. Kampfstrukturen müssten auch an einer solchen Mobilität ansetzen, auch die wilden Streiks in den 70ern wurden von Leuten geführt, deren Perspektive es nicht war, ihr Leben bei Ford zu verbringen.

»Nach so vielen Standortsicherungsvereinbarungen, auf denen Verzicht unsererseits ohne vertragliche Gegenleistung festgeschrieben wurde, würde ich am liebsten sagen: 'Es gibt keinen Verzicht mehr, wir haben genug verzichtet!' Wenn wir bei der Restrukturierung nicht mitmachen, findet sie nicht statt. Eigentlich wäre es an der Zeit zu sagen: 'Es gibt keine Kompromisse mehr, wir haben genug verzichtet.'«


»Was nach 2010 kommt und welche Bereiche dann vielleicht ausgelagert weden, wissen wir nicht. Das Problem ist nur hinausgezögert, auch wenn jetzt erst mal Ruhe ist.« Bochumer Arbeiter am 04.03. zum »Zukunftsvertrag«

Die fünftürige Version der Mittelklasse-Limousine Astra wird in Bochum produziert und kompensiert damit die Verschiebung von zwei Dritteln der Zafira-Produktion nach Gliwice, neben dem Stellenabbau wird es bis 2005 keine Tariferhöhungen geben und bis 2010 werden Tariferhöhungen um 1 % vermindert weitergegeben (in Bochum soll ganz auf sie verzichtet werden), das Weihnachtsgeld wird ab 2006 auf 70 % (von jetzt 130 %) gesenkt. Als dritte Komponente wird die Arbeitszeit in einem Korridor von 30 - 40 Wochenstunden, bei durchschnittlich 35 Std/Woche und 15 Samstagen ohne Zuschläge pro Arbeiter flexiblisiert. Mit dem Vectra und Saab 9.3 Zuschlag für Rüsselsheim und der erklärten Absicht das Komponentenwerk in Kaiserslautern als Joint-Venture mit noch zu findenden Partnern weiter zu führen, soll dies eine Werkssicherung bis 2010 ergeben. Das Bochumer Zentralersatzteillager mit 650 Leuten geht an Caterpillar. Der Achsen- und Auspuffbau soll vorerst gesichert sein.




[*] Neben Veranstaltungen und Interviews mit beteiligten ArbeiterInnen haben wir ein Gespräch mit StreikaktivistInnen geführt. Alle nicht weiter gekennzeichneten Zitate im Artikel stammen aus diesem Gespräch.



aus: Wildcat 73, Januar 2005



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