Wildcat Nr. 71, Herbst 2004, S. 18-23 [w71_daimler.htm]


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[Englische Version]

Hartz V, Schrempp II …

Das Ergebnis
Gespräch mit zwei Gewerkschaftern aus dem Werk Untertürkheim


»Gegen die immer weitere Ausdifferenzierung der Löhne und Bedingungen zwischen ›Stammbelegschaften‹ und prekärem Rand haben sich bisher keine gemeinsamen Kämpfe entwickelt. Haben die ›Daimler-ArbeiterInnen‹ verstanden, dass der Angriff auf alle zielt?«, schrieben wir in Wildcat 68 in der Einleitung zu »Prekarisierung«
Sie haben! Mit koordinierten Protesten und Streiks reagierten die Belegschaften der DaimlerChrysler-Werke in Deutschland auf die Erpressung des Vorstandes. Spektakulär hat die Belegschaft des Werks Mettingen bei Stuttgart die wichtige Verkehrsachse B10 blockiert, die alle Industriegebiete verbindet.

… dann hat der Betriebsratschef ganz schnell den Sack zugemacht. Er brauchte Aktionen, aber keine, die sich seiner Kontrolle entziehen. Nur so konnte er den Ergänzungstarifvertrag als Erfolg präsentieren. Er hat vieles »gerettet«, was angeblich auf der Kippe stand: die »Steinkühler«-Pausen, die Spätschicht-Zulage, auch die 35-Stunden-Woche für die Leute im Autobau – nicht jedoch für die KollegInnen in den sogenannten »Dienstleistungsbereichen« Kantine, Werkschutz, Transport, usw. Hier wurde nicht einmal die Bestandssicherung für die jetzige Belegschaft erreicht. Und als absolute Neuheit in einer deutschen Autofabrik werden alle Neueingestellten auf Dauer niedrigere Löhne und zum Teil längere Arbeitszeiten haben.

Daimler-Benz

Die Autofirmen waren die letzten großen Bastionen der Gewerkschaftsbewegung, in denen Betriebsräte im Co-Management immer noch steigende Löhne aushandeln konnten. Die hohen Löhne wurden von anderen ArbeiterInnen auch gerne als »Stillhalteprämien« bezeichnet. Dabei sind einige betriebsegoistische Gewerkschaftler so auf den Hund gekommen, dass sie den streikenden Kollegen in Ostdeutschland in den Rücken fielen und ihren Kampf für Arbeitszeitverkürzung erst sabotierten und dann stoppten, weil durch den Streik in Zulieferbetrieben die Autoproduktion in »ihrem« Unternehmen gefährdet wurde.1

Die Daimler-Belegschaften haben schon oft eine wichtige Rolle bei Tarifabschlüssen gespielt: die Gewerkschaft konnte sich darauf verlassen, dass die ArbeiterInnen in Sindelfingen zum richtigen Zeitpunkt vor dem Tor stehen, z.B. auch 1996 im Kampf gegen die Kürzung der Lohnfortzahlung auf 80 Prozent durch die CDU-geführte Regierung.

Dabei gelingt es der Betriebsratsspitze längst nicht immer, ihre Schafe unter Kontrolle zu halten. Oppositionelle werden, wenn sie offen auftreten, gerne als »Spalter« denunziert oder sogar aus der Gewerkschaft ausgeschlossen.2 Auf die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen wegen der B10-Besetzung reagierte die IGM Bezirksleitung Stuttgart, indem sie in einem Schreiben an die zuständige Verwaltungsstelle mit dem Entzug des Rechtsschutz drohte: »Es ist selbstverständlich, dass Funktionäre und Mitglieder, die gegen Absprachen handeln und damit die Solidarität des gemeinsamen Handelns verlassen, sich selbst der Solidarität der IG Metall entziehen, sollte es zu strafrechtlichen oder arbeitsrechtlichen Konsequenzen kommen.«

In einigen Daimler-Werken gibt es (immer noch) linke oder gewerkschaftsoppositionelle Gruppen, die z.T. eigene Zeitungen und Flugblätter herausgeben: Bremen, Mannheim und Untertürkheim. Das sind genau die Werke, die angegriffen wurden und wo die Mobilisierung am stärksten war.

Die Daimler-ArbeiterInnen hatten die Möglichkeit, gemeinsam zu kämpfen und dabei ihre Wut sowohl auf den Angriff des Unternehmers als auch auf die Sozialkürzungen der Regierung in Handeln umzusetzen. Bisher wirksame Mechanismen der Klassenspaltung scheinen aufzubrechen: Sozialhilfeempfänger werden von ArbeiterInnen nicht mehr als »Faule«, Daimler-ArbeiterInnen nicht mehr als »Privilegierte« gesehen – im Gegenteil: es wurde von ihnen erwartet, dass sie kämpfen, weil sie in der Lage dazu sind.

Die Vorgeschichte

Im Juni unterzeichnete der IG-Metall-Vorstand mit der Geschäftsführung der Handy-Werke von Siemens in Kamp-Lintfort und Bocholt einen Ergänzungstarifvertrag, der eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden ohne Lohnausgleich und die Streichung von Weihnachts- und Urlaubsgeld festschreibt. Eine solche Verschlechterung der Tarifbedingungen, die ca. 30 Prozent Lohnkürzung bedeuten, hat es in einem Großkonzern in Westdeutschland noch nie gegeben. Entsprechend wird der Durchbruch von der Wirtschaftspresse gefeiert. Die Reaktion der Metallunternehmer lässt nicht lange auf sich warten. Bei den Gewerkschaftszentralen gehen medienwirksam Anträge auf Verlängerung der Wochenarbeitszeit von anderen Metallbetrieben ein.

Auch die ArbeiterInnen begreifen sofort, was die Stunde geschlagen hat. Die Funktionärsversammlungen der IGM sind überfüllt, mehrheitlich wird der Vorstand aufgefordert, den Tarifvertrag bei Siemens nicht zu genehmigen.Der Abschluss bei Siemens hat allen vorgeführt, was passieren kann, wenn man nicht kämpft.

Wie ist es möglich, den Siemens-Arbeiterinnen zu sagen, sie sollen fünf Stunden länger arbeiten und weniger verdienen als bisher? Ein paar mögliche Argumente: »Strukturschwache Region«, weit und breit der einzige »Frauenbetrieb«, die Alternative wäre Arbeitslosigkeit. Keine Kampftradition, wenig Gewerkschaftsmitglieder. Außerdem ist die Lohnkürzung im Geldbeutel nicht unmittelbar zu spüren: das regelmäßige monatliche Einkommen sinkt nicht, bis Weihnachten ist noch lange hin… es muss »nur« jeden Tag eine Stunde länger gearbeitet werden.

Oder sollten wir andersrum fragen: Warum hat es so lange gedauert, bis ein Generalangriff auf die fest beschäftigten ArbeiterInnen kommt? In anderen europäischen Ländern ist er längst gelaufen. Dort wurde erheblich mehr dagegen gestreikt, trotzdem kam er überall durch.

Eine Lohnsenkung kann am besten mit einem Kampf durchgesetzt werden

Schon während der Tarifrunde im März 2004 hatte der DaimlerChrysler-Vorstand eine Erhöhung der Arbeitszeit auf 40 Stunden gefordert. Gesamtbetriebsratschef Klemm bot die 40-Stunden-Woche für die Bereiche Forschung und Entwicklung an – und wurde von der Belegschaft zurückgepfiffen. Das Verhandlungsergebnis: 2,7 Prozent mehr Lohn in diesem und 2 Prozent im nächsten Jahr.

Im April gerät der Vorstandsvorsitzende Schrempp wegen großen Verlusten durch Mitsubishi erheblich unter Druck, doch der Betriebsrat hält zu ihm. Beide gemeinsam schassen den designierten Mercedes Car Group Chef Dr. Bernhard (»eiskalter Sanierer«). Im Juni wird eine McKinsey-Studie veröffentlicht, die zehn Prozent »Produktionsreserve« bei Mercedes feststellt: die Gewerkschaft sieht 10 000 von 104 000 Arbeitsplätzen gefährdet.

Nun droht Mercedes-Chef Hubbert, die neue C-Klasse nicht im Werk Sindelfingen montieren zu lassen, sondern in Bremen oder Südafrika, weil es dort billiger sei. Er setzt den Betriebsrat mit einem Kostensenkungskonzept um 500 Millionen Euro unter Druck und verlangt längere Arbeitszeiten, niedrigere Löhne, die Streichung von Schichtzulagen und bezahlten Pausen.

Die Betriebsräte in Bremen und in Sindelfingen verhandeln. In Sindelfingen stehen 6000 gut bezahlte Arbeitsplätze zur Disposition. Man erwartete am 25. Juni ein Verhandlungsergebnis – das kam aber nicht. Stattdessen wurde bei DC ein Großkonflikt inszeniert, der stellvertretend für die ganze Metallindustrie ein Signal setzen sollte: Verzicht durchsetzen in einem Betrieb, dem es gut geht.

Noch bevor Hubbert seine Forderungen konkretisiert, kommt es zu koordinierten Arbeitsniederlegungen: Am Freitag, den 9. Juli legen 9000 Beschäftigte in Untertürkheim aus Protest eine halbe Stunde die Arbeit nieder: hier steht der Bau des neuen Dieselmotors zur Disposition. Am Samstag fällt die Produktion in Sindelfingen komplett aus, weil der Betriebsrat die Zustimmung zur Samstagsarbeit für die Instandhalter verweigert. 12 000 ArbeiterInnen bleiben zuhause. Die Betriebsräte in Bremen und Sindelfingen stimmen sich ab und rufen alle 160 000 DC-Beschäftigten in Deutschland zum Aktionstag am 15. Juli auf. An zehn Standorten gibt es zum Teil heftige Proteste: noch in der Nacht ein Fackelzug in Düsseldorf mit 600 DC-Beschäftigten. In Bremen protestieren 5000, in Mannheim 8000, im Lkw-Werk Wörth 5000, in Landau 150, in Hamburg-Harburg, Berlin und Kassel jeweils 1000. In Sindelfingen streiken 20 000.

Aktionen, die über ausgedehnte Betriebsversammlungen hinaus gehen, gibt es allerdings nur in Bremen und Stuttgart. In Mettingen machen 2000 ArbeiterInnen die vierspurige B 10 dicht und gehen die vier Kilometer zu Fuß zur zentralen Kundgebung nach Untertürkheim (10 000 TeilnehmerInnen).

Am Samstag, den 17. Juli bleiben 12 000 ArbeiterInnen in Sindelfingen und 2500 in Untertürkheim zuhause. Wieder 1000 PKWs weniger. Die Kampfbereitschaft ist in vielen Werken bis zum Schluss ungebrochen.

Der zweite bundesweite Aktionstag, den GBR-Chef Klemm im Falle der Nichteinigung angekündigt hatte, findet nicht mehr statt. Am Freitag vormittag wird der Abschluss »mit Modellcharakter« verkündet. In Untertürkheim wird die Betriebsversammlung erstmalig als große Show in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle inszeniert. Man will diesmal alle drei Werksteile gemeinsam haben, um die Kontrolle zu behalten. Die Betriebsratsspitze stellt sich tapfer dem anhaltenden Pfeifkonzert der Belegschaft.

Alles abgekartet?

Schrempp hat die verlangten 500 Millionen Einsparungen bekommen, was angesichts der Mobilisierungen nicht zu erwarten war. DC-Manager Hubbert hatte die »baden-württembergische Krankheit« in die Medien lanciert und damit ein Ablenkungsmanöver gestartet. Der Neid auf die Großverdiener-Arbeiter bei Daimler sollte angestachelt werden. Dann die personelle Kungelei zwischen Schrempp und Hubbert und der BR-Spitze. War alles nur ein abgekartetes Spiel, um die Löhne zu drücken? Stand die Verlagerung je wirklich zur Debatte?

Positiv bleibt festzuhalten, dass es den Daimler-Managern nicht gelungen ist, die Werke gegeneinander auszuspielen. Es gab Aktionen und/oder Arbeitsniederlegungen in allen Werken, in Bremen noch bevor die Forderungen formuliert waren. Die Gewerkschaft in Südafrika erklärte sich solidarisch, sie war selbst im Streik für bessere Löhne. Die Daimler-ArbeiterInnen in Brasilien haben Aktionen vor dem Werkstor gemacht.

Die »baden-württembergische Krankheit«

35-Stunden-Woche?

Die schrittweise Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden pro Woche in der Metallindustrie ist in den 80er Jahren teuer erkauft worden: mit dem Verzicht auf Reallohnerhöhungen und immer weiteren Arbeitszeitflexibilisierungen – in Richtung einer Ausdehnung der Arbeitswoche bei höherem Arbeitsanfall ohne Überstundenzuschläge (die bisher 25 Prozent ausmachten) und der stärkeren Einbeziehung des Samstags in die reguläre Arbeitszeit.

Auch bei DaimlerChrysler wurden im Rahmen solcher Regelungen die Betriebszeiten massiv ausgedehnt: in Hamburg werden in der Woche 17 Schichten gearbeitet, seit acht Jahren gibt es »befristet« auch eine Wochenendschicht (Freitag bis Sonntag). Im Omnibus-Werk in Mannheim werden 18 Schichten incl. Samstag gearbeitet.

Was im Tarifvertrag zur Arbeitszeit steht, heißt inzwischen nicht mehr viel für die konkrete Arbeitszeit im Betrieb, die ist Ergebnis von Ergänzungstarifverträgen, Standortsicherungsverträgen oder schlicht Betriebsvereinbarungen. Über Jahre gedehnte Arbeitszeitkonten machen die kurzfristige Ausdehnung oder Senkung der wöchentlichen Arbeitszeit möglich, ohne dass für das Unternehmen Zusatzkosten in Form von Überstundenzuschlägen anfallen.

Regelmäßig wird in allen Daimler-Werken acht Stunden gearbeitet, die Arbeitszeitverkürzung wird in Freischichten umgerechnet. Pro Jahr gibt es also zusätzlich zum Urlaub fast 30 freie Tage – und eine entsprechend große Personalreserve in den Werken.

Die »Steinkühler«-Pause

…ist die fünfminütige Erholungszeit pro Stunde für Akkordarbeiter, die im dreiwöchigen Arbeitskampf 1973 im Tarifbezirk Nordwürttemberg/Nordbaden vom damaligen Stuttgarter Bezirksleiter und späteren IGM-Chef ausgehandelt und im Lohnrahmentarif II verankert wurde. Nicht zu verwechseln mit den drei Minuten »persönliche Verteilzeit«, die jedem individuell zustehen, für den Gang aufs Klo oder die Zigarette… Die Erholungszeiten wurden in den letzten Jahren immer mehr ausgehöhlt: indem Stillstandszeiten, Gruppengespräche oder Qualifizierungszeiten auf diese bezahlten Pausen angerechnet werden. In manchen Betrieben können durchgearbeitete Pausen auf einem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben werden – was den Sinn dieser Pausen – eine kurze Erholung von der Dauerbelastung – komplett aushebelt.

Extreme Leistungsverdichtung

…und die Einführung von sogenannter Gruppenarbeit gingen in den letzten Jahren Hand in Hand. Fließbänder sind heute in der Produktion wieder die Regel, die Takte liegen häufig unter einer Minute. Verantwortung auf die Arbeiter abwälzen plus Taylorismus.

Ein politischer und ökonomischer Angriff

Kurz nach dem Abschluss mit der 500 Millionen Euro-Einsparung wurde das zweite Quartalsergebnis des DaimlerChrysler-Konzerns veröffentlicht: 1,5 Milliarden Euro Gewinnsteigerung.

Daimler-Benz war bis Mitte der 90er Jahre eine Besonderheit als Autokonzern mit einer fast ausschließlich in Deutschland lokalisierten Produktionsbasis (Montagewerke nur in der Region Stuttgart und Bremen) und keiner Zusammenarbeit mit anderen Autokonzernen. 1995 schwenkte man um. Vorstandschef Jürgen Schrempp, der schon den Ausbau des Werkes in Südafrika betrieben hatte, wollte Daimler-Benz zum Global Player machen, was voraussetzt, in Europa, USA und Asien auf dem Markt präsent zu sein. Mit der Errichtung eines Zweigwerks in Alabama und der Übernahme (»Fusion«) von Chrysler wurde DC zum international an den Börsen notierten Unternehmen mit 430.000 Beschäftigten und zum fünftgrößten Autoproduzenten der Welt. Die (nach hohen Verlusten inzwischen wieder gelöste) Beteiligung an Mitsubishi sollte den asiatischen Markt sichern. Der operative Gewinn betrug im vergangenen Jahr 5,68 Milliarden Euro. Rund 60 Prozent fuhr dabei die Mercedes Car Group ein, nämlich 3,1 Milliarden Euro, doch gerade ihr Absatz stagniert: Im Mai gab es einen weltweiten Absatzeinbruch von 9,2 Prozent, in den ersten acht Monaten des Jahres um 4,7 Prozent. Allein bei Mercedes PKW gab es im August einen Absatzrückgang um neun Prozent. In Finanzkreisen gilt Daimler seit der Übernahme von Chrysler als renditeschwach, was dazu geführt hat, dass der Aktienkurs innerhalb weniger Jahre auf die Hälfte gefallen ist.

Schon seit Jahren versteht man es bei Daimler, einzelne Werke gegeneinander auszuspielen, wie in der Vergangenheit die Nutzfahrzeug-Achsenwerke Gaggenau und Kassel oder jetzt Bremen und Stuttgart. Betriebsteile werden in Konkurrenz zu Zulieferbetrieben gesetzt, wenn es um die Entscheidung geht, wo ein neues Bauteil produziert wird. Diese Konkurrenz mit anderen Herstellern spielt bislang eine größere Rolle als die konzerninterne Konkurrenz mit den neuen Standorten in Amerika und Asien.

Für nationalstaatliche Regulierungen wird zukünftig kein Spielraum mehr sein, ob auf sozialstaatlicher oder Unternehmensebene. Die radikalen Phrasen der Betriebsräte auf Protestkundgebungen dienen als Deckmantel für die Zustimmung zu immer neuen Lohnsenkungen und Arbeitsplatzabbau, mit der Begründung, man könne nichts anderes machen. Um dem Angriff der Geschäftsleitung und ihrer systematischen Erpressung ernsthaft und wirkungsvoll entgegen zu treten, müssen die ArbeiterInnen bei DaimlerChrysler, Siemens und allen anderen Betrieben vollständig mit den alten nationalstaatlich orientierten gewerkschaftlichen Konzepten brechen und sich als Teil einer internationalen Klasse begreifen.

Krise der Autoindustrie und Kondratieff?

Die Autobranche hat als einzige Industrie in den letzten Jahren die Beschäftigung in der BRD ausgeweitet. Nachdem alle Hoffnungen auf einen Computer- oder gar Internet-Zyklus zusammengebrochen sind, hat sie in den letzten Jahren eine Art Revival als ziehender Sektor des Kapitalismus erlebt. Sie gilt als tragender Industriezweig des 4. Kondratieff-Zyklus mit sehr robuster Modernisierungsfähigkeit. Die Autoindustrie gehört heute zu den Forschungs&Entwicklungs-intensivsten Industriezweigen, d.h. das Produkt wird technisch immer anspruchsvoller, der Zyklus dadurch verlängert. Die Wertschöpfung pro Auto steigt immer weiter an, wobei ein großer Anteil davon heute in den Zulieferbetrieben erbracht wird. Trotz intensiver Rationalisierung ist das Verhältnis zwischen eingesetzter Arbeitskraft und der Zahl der produzierten Autos ungefähr konstant geblieben.

Doch was ist mit den Profiten? Während immer mehr Autos in immer kürzerer Zeit produziert werden, stagniert der Absatz weltweit. Ein Auto wird heute in 20 Stunden montiert, dann liegt es 20-40 Tage auf Halde, bis es einen Käufer findet. Die Verkaufszahlen können nur durch massive Preisnachlässe gehalten werden, viele Konzerne legen bei jedem verkauften Auto drauf, Chrysler in den USA 2003 z.B. 496 Dollar. China verspricht im Moment noch hohe Zuwachsraten, aber die »Marktsättigung« ist absehbar. Die hohen Marktanteile von VW z.B. sind teuer erkauft mit Verlusten bei jedem verkauften Wagen – und trotzdem sind sie stark zurückgegangen.

Heute kommen im Schnitt nur noch ein Viertel der Gewinne der Autokonzerne aus der Produktion und dem Verkauf von Autos, der Rest kommt aus Ersatzteilhandel, Kundendienst und Finanzgeschäften durch an den Konzern angeschlossene Banken – wie z.B. die DaimlerChrysler-Bank. Ford und GM kurbeln verlustreiche Auto-Verkäufe an, um mit den Ratenzahlungen der Käuferkredite Zinsen für ihre Gläubiger aufbringen zu können. Das ist eine höchst risikoreiche Überlebensstrategie, die, je länger sie dauert, um so sicherer zum Milliardengrab wird.


1 Gesamtbetriebsratschef Klemm war einer derjenigen, die im Juni 2003 massiv für den Abbruch des IGM-Streiks für die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland plädiert hatten. Der Untertürkheimer Betriebsratschef Lense hatte sich offen gegen den Streik ausgesprochen und plante eine Kampfkandidatur gegen den Streikführer Peters.

2 Die peinlichen Details, wie ehemalige Kommunisten heutige Kommunisten aus Gremien rausboxen oder mit Gewerkschaftsausschlüssen belegen, sind nachzulesen auf www.labournet.de. Der Umgang mit unabhängigen Wahllisten ist der gleiche wie in den 70er Jahren.


Das Ergebnis:

Die Beschäftigungssicherung verbucht der BR als den großen Erfolg des Abschlusses und rechtfertigt damit alle »Zugeständnisse«. Der Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen ist jedoch bis Dezember 2011 befristet und an das Eintreten der planerischen Prämissen gebunden. Liegt der Betrieb darunter, wird neu verhandelt. Der einzige gesicherte »Erfolg« ist die Festschreibung der Investitionen, die die Produktion der C-Klasse in Sindelfingen garantiert. Hatte jemand ernsthaft daran gezweifelt?

Dreifach gespaltene Lohnskala

Der Grundsatz »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« wird aufgegeben: alle Neueingestellten erhalten dauerhaft einen niedrigeren Lohn: 24 Monate lang einen Einstelllohn (20 Prozent weniger), dann ab 2007 mit ERA auf Dauer einen um acht Prozent niedrigeren Grundlohn als die jetzt Beschäftigten, von dem aus alle Zulagen berechnet werden. Macht zehn Prozent Lohnunterschied auf Dauer.

Dienstleistungslöhne

Für die aktuell Beschäftigten in den sogenannten Dienstleistungsbereichen (Kantine, Werkschutz… –wer dazu gehört wird auf betrieblicher Ebene definiert!) wird die wöchentliche Arbeitszeit schrittweise auf 39 Stunden erhöht. Alle Neueingestellten müssen ab sofort 39 Stunden pro Woche arbeiten und erhalten nur noch den nackten IGM-Tarif ohne Schichtzulagen, Überstundenzulagen erst ab 130 Überstunden usw. – und damit deutlich weniger Geld als ihre KollegInnen für die gleiche Arbeit.

Die gespaltene Lohnskala, bislang v.a. aus den USA bekannt, ist jetzt bei DaimlerChrysler beschlossen.

Arbeitszeitverlängerung

Die 20 000 Beschäftigten in Planung und Entwicklung können freiwillig ab sofort 40 Stunden pro Woche arbeiten, allerdings mit Lohnausgleich.

Neudefinition von übertariflichen Leistungen

Die IGM hatte immer den Standpunkt ervertreten, dass im Leistungslohn (Akkord/Prämienlohn) die gesamte Lohnhöhe leistungshinterlegt ist und keine übertariflichen Zulagen enthält. Jetzt erkennt die IGM die neuen Lohntabellen an, in denen »übertarifliche Lohnbestandteile« ausgewiesen sind, die mit zukünftigen Tariferhöhungen verrechnet werden können. Gleichzeitig hat der BR aber ausgehandelt, dass dies bis 2011 nicht geschieht, außer der operating profit der deutschen PKW-Produktion halbiert sich oder gerät ins Minus

ERA

Im Entgeltrahmentarifvertrag sollten verschiedene Lohnlinien für Arbeiter, Prämienlöhner und Angestellte zusammen geführt und alle Beschäftigten nach einheitlichen Kriterien eingruppiert werden. Grundsatz war: keiner soll nachher weniger verdienen. Jetzt gibt es dauerhaft zwei Lohnlinien: für die jetzige Belegschaft und für die Neueingestellten. Ziel der Neugruppierung war unter anderem die Erhöhung der Löhne für Facharbeiter. Die Umsetzung macht nun ganz eindeutig alle ArbeiterInnen mit hohen Belastungen (MontiererInnen, StanzerInnen, Gießer usw.) zu VerliererInnen, da dieses Kriterium in Zukunft eine viel geringere Rolle bei der Eingruppierung spielt. Wichtig sind dagegen Kriterien wie »Qualifikation«, »Kommunikation« und »Handlungsspielraum«: die sind bekanntermaßen für MontagearbeiterInnen ziemlich gering, auch wenn die Verfechter der Gruppenarbeit immer das Gegenteil behauptet haben. D.h. neueingestellte Montagearbeiter werden ein paar hundert Euro weniger pro Monat verdienen

DC Move

Alle Azubis, Befristeten und Neueingestellten, kommen auf eine zentrale Kostenstelle. Bei Personalüberhängen können sie in anderen Werken beschäftigt werden. Das ermöglicht flexiblen Personaleinsatz, quetscht aber auch noch vorhandene Freiräume aus der Abteilung raus, wo die Meister knapper mit Personal kalkulieren können.

Leiharbeit

Künftig wird es bei DaimlerChrysler LeiharbeiterInnen geben, bezahlt nach dem niedrigsten IGM-Tarif.


Gespräch mit zwei Gewerkschaftern aus dem Werk Untertürkheim

»Die Wucht der Mobilisierung überstrahlt subjektiv das Ergebnis«

A: Die Stimmung war noch kämpferischer als 1996 in der Standortauseinandersetzung. Damals war eine Phase von Kurzarbeit vorangegangen, die die »verwöhnten« Daimler-Belegschaften kalt erwischt hatte. Die hatten Angst im Nacken, da hatten auch wir als Linke unter Druck gestanden, die Kollegen wollten uns zu Konzessionen drängen. Wir haben gesagt: wählt uns ab, wir machen das nicht. Und als die Firma in ihrer Siegesbesoffenheit überrissen hat, haben wir einfach den richtigen Moment erwischt. Wir haben gesagt: O.k., Jungs, wenn wir an Eurer Stelle wären: heim gehen! Die haben das dann gemacht … Und freitags sind wir vor der Spätschicht mit Megafonen vor dem Tor gestanden, da sind die Leute erst gar nicht mehr reingegangen.

Mit Arbeitsniederlegungen in fünf Schichten hintereinander haben wir in Mettingen die Fabrik stillgelegt, als die in Untertürkheim noch drüber nachgedacht haben. Erst in der letzten Schicht haben sich die Untertürkheimer angehängt. Das hat damit zu tun, dass die BR-Spitze in Untertürkheim sitzt, und mit der Art wie die arbeiten: auf Pfiff sollen die Leute raus und auf Pfiff wieder rein.

B: Diesmal waren die Leute sauer, dass in einem Unternehmen, in dem Milliarden-Gewinne gemacht werden, plötzlich Einsparungen bei der Belegschaft abgepresst werden sollten. Da gab es bei den Leuten überhaupt kein Verständnis für. Da war eine sehr starke Wut da, die gibt es auch heute noch. Die ist nicht verflogen.

A: Ich würde das sogar richtigen Hass nennen, den man manchmal bei den Leuten gespürt hat.

B: Wir haben Situationen erlebt! Zum Beispiel hat ein Kollege auf die von ihm produzierten Blechteile Sprüche drauf geschrieben wie »Erpressung!« – »Hass!« usw. Obwohl nachvollziehbar ist, wer das gemacht hat. Die Teile sind dann wohl überlackiert worden. Einige haben gesagt, wir dürfen auf gar keinen Fall Kompromisse machen, wir müssen die Vorstände jetzt richtig vom Stuhl kicken.

A: Das kommt einfach daher, dass der Kropf schon dick war, bevor der Konflikt losging. Erstmal liegt eine Phase von extremer Leistungsverdichtung hinter denen. Dann die Agenda 2010, auf die alle einen Hass schieben. Und die Medien haben in den letzten Jahren das Gefühl vermittelt, dass du als Arbeitnehmer das letzte Arschloch, der Fußabstreifer der Nation bist, der im Grunde dem Unternehmer und dem Staat auf dem Geldbeutel liegt: »Anspruchsdenken«, »Urlaubsweltmeister«, und der ganze Scheiß, der da in die Birne geprügelt wird. Deshalb haben die Leute einen besonders dicken Hals gehabt, und das war der Punkt, dass die dann gesagt haben: »Jetzt aber Schluss!«

B: Viele haben das konkrete Ergebnis noch gar nicht zur Kenntnis genommen. Und so wie es verkauft worden ist von der IG Metall-Spitze und der BR-Spitze: da sind Leute rausgekommen und haben gesagt: »Wir müsset überhaupt nix gebe«. Weil die Knackpunkte überhaupt nicht oder nur beschönigend dargestellt wurden.

A: Aber bisher sagen die Arbeiter nicht: ’Scheiß-Ergebnis! Dafür haben wir nicht gekämpft! alles Scheiße! Verrat! Hat eh alles keinen Sinn!‘ Obwohl breite Kreise den Abschluss ablehnen, ist trotzdem die Art der Auseinandersetzung, dieser gewachsene Zusammenhalt und die Mobilisierung, die Wucht, die das entwickelt hat, durchaus positiv in den Köpfen. Die Leute sind nicht demoralisiert. Insofern ist die Geschichte sehr widersprüchlich. Das ist noch so präsent, als unglaublich positives Erlebnis, dass das die Dimension und die Tragweite der Geschichte gewissermaßen überstrahlt, subjektiv. Und das ist ja auch ganz gut so.

B: Während in der Vergangenheit nach einer guten Mobilisierung dann wieder ein entsprechendes Nacht-und-Nebel-Ergebnis kam, haben die Leute gesagt: »Es war doch alles grad fürn Arsch, da hätten wir doch gar nichts machen brauchen, sehen wir doch jetzt wieder«. Das ist jetzt nicht der Fall. Wir machen gerade T-Shirts mit einem Foto der B10-Aktion. Bei keinem einzigen Kollegen, dem wir das angeboten haben, habe ich gehört: »Das hat doch garnix gebracht« oder »Geh mir mit Deim T-Shirt zum Teufel, das war doch alles fürn Arsch.« Überhaupt nicht. Und das geht auch nicht mehr weg. Da bin ich überzeugt. Das ist der positive Aspekt, der aus dieser Situation entstanden ist. Dass die Leute denken: »Wenn man uns nur machen ließe, wenn man uns die Freiheit gäbe, mal wirklich die Kraft reinzulegen in so eine Mobilisierung, dann würde es auch was bringen«.


A: Vor 15 Jahren war das normal, dass wir in der Spätschicht um halb neun mit unserem Akkord fertig waren. Und nicht um 23 Uhr. Zwischenzeitlich arbeiten die Leute bis zum Schluss, die gehen vielleicht noch zehn Minuten vor Feierabend Hände waschen, aber das, was wir früher hatten, das gibt‘s nicht mehr. Es gibt einen Wahnsinnsleistungsdruck. Während früher die Führungskräfte eigentlich nur in der Frühschicht präsent waren und kaum in der Spätschicht, gibt es heute eine Präsenz über alle Schichten. Da wird drauf geguckt, dass die Leute bis zum Letzten knüppeln. Und dann gibt es diese Anzeigetafeln in der Fabrik, wo sie einem ständig das schlechte Gewissen einreden, dass man hinter der Sollvorgabe liegt. Das hat so zugenommen, dass man sagen kann, dass wir wieder bei der puren Maloche angekommen sind.

Wieviel Akkordpausen habt Ihr noch?

B: 1996 ist ja schon ein Teil dieser sogenannten Steinkühlerpause bei uns im Werk flöten gegangen. Das wird verrechnet mit dem sogenannten »erholungswirksamen Belastungswechsel«. Damit war gemeint, dass innerhalb der Gruppenarbeit die Leute eben unterschiedlichste Tätigkeiten ausführen und nicht nur Taylorismus an der Anlage oder am Band, sondern auch Umfeldaufgaben. In der Realität konzentrieren sich die Umfeldaufgaben oft auf irgendwelche Kapos in der Gruppe, und der normale Werker macht dann trotzdem wieder nur Maloche, ein bisschen Störungsbehebung vielleicht noch, aber das ist ja nicht weniger Stress.

Wieviele feste Pausen habt Ihr jetzt noch?

A: Am Band sind es zwischenzeitlich wieder 30 Minuten bezahlte Pausen von den ursprünglichen 40. Und dann halt die unbezahlte Essenspause von 30 Minuten. Vor einem halben Jahr, nachdem die Firma immer mehr wieder auf klassische tayloristische Bänder geht, auf kurzzyklische Arbeitsplätze und eben nicht auf erholungswirksame Arbeitsplätze, hat der Betriebsrat, aber auch auf Druck der Basis den Kampf aufgenommen und die Pausen wieder verlängert.

Sind das noch kollektive Pausen?

B: Im Montagebereich sind sie in der Regel noch kollektiv. Es gibt aber weite Bereiche (mechanische Fertigung z.B), wo diese Pausen nicht mehr kollektiv sind. Der Druck in die Richtung nimmt zu. Aber die Leute legen sehr viel Wert darauf, die Pausen gemeinsam machen zu können. Da wehren sie sich auch.

Ihr sagt, Daimler gehe es gut, der Angriff war »ökonomisch« nicht nötig?

A: Wenn man mit dem mittleren Management spricht, sagen die, dass es bei uns eine Kapitalrendite von im Schnitt sieben Prozent gibt. Aber sie wollen auf 12-15 hinaus!

… also ein politischer Angriff?

A: Beides, ich glaube schon, dass das Daimler-Management mit die Speerspitze im Arbeitgeberverband ist und dafür sorgen soll, es auch mal in die andere Richtung zu treiben, nicht nur Tarife zu erhöhen, sondern auch mal in die andere Richtung zu arbeiten, das war glaube ich schon die Zielsetzung. Das riecht schon alles ein bisschen nach von langer Hand vorbereitet.



aus: Wildcat 71, Herbst 2004


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