Wildcat Nr. 57 - Oktober/November 1991 - S. 29-30 [w57golfm.htm]


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Ein Krieg, der kein Krieg war.

Vorläufige Bilanz des Golfmassakers

Der Krieg der Alliierten gegen den Irak war kein Krieg. Jedenfalls nicht in dem Sinn, den das Wort bisher hatte: eine militärische Auseinandersetzung zwischen Staaten. Es hat nur eine Seite gezielt geschossen: das ergibt sich allein aus dem ungeheuren Mißverhältnis der »Verluste«. Die UN-Truppen hatten etwa 180 Tote zu beklagen, die meisten davon kamen um bei Unfällen, einige wurden Opfer von »friendly fire«, also dem Beschuß der eigenen Seite. Insgesamt lebten die GIs im »Kriege« erheblich sicherer, als wenn sie in Deutschland oder in den USA geblieben wären. Die genaue Zahl der getöteten Iraker ist nach wie vor unbekannt (im Gegensatz zu den materiellen Schäden, die genauestens aufgelistet worden sind). Die meisten Berichte gehen von insgesamt 300 000, darunter 100 000 Soldaten aus.

Eine solche Dimension des Mißverhältnisses ist ohne Beispiel und kann nicht militärisch, nicht mit der Überlegenheit der alliierten Truppen erklärt werden. Die irakischen Soldaten haben - Wehrpflichtige und Eliteeinheiten aus unterschiedlichen Gründen - nicht (zurück)geschossen. Die regulären Truppen sind geschlossen und massiv desertiert, oder besser, wollten desertieren. Sie wollten keinen Krieg gegen die Armee der Alliierten, die immerhin versprochen hatte, das Terrorregime zu beseitigen.

Sich den Aufständen gegen dieses Regime mit ihren Waffen anschließen: das genau aber sollten sie nicht tun. Deshalb wurden sie angegriffen und überrollt (im wahrsten Sinne des Wortes: In den Schützengräben liegende Soldaten wurden einfach zugeschüttet); fliehende Truppenteile von der Luft aus »wie Schafe« (ein amerikanischer Pilot) hingemetzelt. Es haben viele einzelne Massaker (sog. »Kriegsverbrechen«) stattgefunden. Berichtet wird vom Massaker am Mutla Ridge am 25.2., bei dem »Tausende« der aus Kuwait in Richtung Basra fliehenden Besatzungsarmee ermordet wurden, obwohl sie schon eingekreist waren und keine Bedrohung mehr darstellten. Anfang Februar wurde ein 60 000 Personen umfassender Militärkonvoi durch B-52 Bomber »zu 90% zerstört«. [1]

Die Elitetruppen des irakischen Regimes wurden anders behandelt: Sie funktionierten sofort wieder, um die Aufstände niederzuschlagen. Wahrscheinlich sind sie nie angegriffen worden ...

Als die größte Gefahr für das Regime beseitigt war (nämlich die desertierenden Armeeteile), wurde der »Krieg« beendet. Im anschließenden Bürgerkrieg setzte sich das einseitige Massaker fort. Die Aufstände, die fast das ganze Land, einschließlich der Hauptstadt, überzogen, wurden mit ähnlicher Brutalität zusammengeschossen. Allein in Kerbela sollen 15 000 Menschen umgekommen sein. [2] Die Niederwerfung gelang im Norden schneller als im Süden, obwohl die Bewaffnung und die Kampferfahrung besser war: die Erklärung kann nur in der Rolle der kurdischen Nationalisten liegen. Im Süden, in der Gegend um Basra, gab es mindestens noch Ende Mai einige Widerstandsnester.

Immer noch ist es nicht möglich, so etwas wie eine Gesamtbilanz des Golfmassakers zu ziehen. Es wurde durchgeführt, um die Revolution im Irak zu verhindern und eine allgemeine Senkung des Lebensstandards in der Golfregion durchzusetzen. Das erste Ziel scheint weitgehend erreicht, das Regime Saddam Husseins sitzt fester im Sattel als vorher; das irakische Proletariat ist ermordet, verhungert, verelendet und vielleicht gespaltener als jemals zuvor.

Auch das zweite Ziel ist, oberflächlich betrachtet, erreicht. Der frühere Finanzminister von Kuwait, Al-Hamad, schätzt, daß 10 Millionen Menschen ihre Einkommensquelle verloren haben. [3] Alle Staaten der Region (mit Ausnahme der kleinen Emirate) und alle Heimatländer der vertriebenen ArbeiterInnen sehen sich wachsender Verschuldung gegenüber. Selbst Saudi-Arabien und Kuwait sind »über Nacht« zu Schuldnerländer geworden. Die Ölstaaten exportieren Öl auf Teufel komm raus. Obwohl der zweit- und der drittgrößte Anbieter von Öl (Irak und Kuwait) noch kaum wieder am Markt sind, ist der Ölpreis schon lange wieder im Bereich von 20 $/Barrel angelangt, bei fallender Tendenz. Vor allem Saudi-Arabien und der Iran scheinen unfähig, ihre Ausfuhrmengen zu begrenzen, denn das würde voraussetzen, daß es gelingt, einen großen Teil der Kriegskosten mittels Sparmaßnahmen und Repression auf die Arbeiterklasse abzuwälzen.

Aber mit fallendem Ölpreis werden die Regimes gezwungen sein, den Angriff auf die Löhne, auf den Lebensstandard der Bevölkerung zu verstärken. Die revolutionäre Antwort? Ermutigende Nachrichten kommen aus dem Iran - und diesmal wird es keinen islamischen Ausweg für das Kapital mehr geben. Aber was bedeutet die erneute Verstärkung der US-Truppen in Saudi-Arabien?

Die Diskussion um den Golfkrieg war schnell vorbei. Die Einschätzung, die Bedeutung, der Ablauf, die Aufstände und die Folgen: warum wird das so gut wie gar nicht diskutiert? Das Bild, das die »Linke« (?) und die Friedensbewegung vor, während und nach diesem Massenmordereignis abgegeben haben, war mehr als kläglich. Vorher wurden Vorschläge an die Herrscher der Welt gemacht, wie »der Irak« zum Rückzug zu bewegen sei (»Embargo statt Bomben«); als die Bomben fielen, wußte mensch nicht, ob er/sie für oder gegen »Israel« sein sollte und danach: Spenden »für Kurdistan«. An die Aufständischen im Süden dachte KeineR mehr - obwohl sie mit größerer Brutalität verfolgt wurden und viele dennoch lange durchhielten. Vielleicht weil mensch der Einfachheit halber glauben wollte, daß es sich um religiöse Spinner handelte, die einem viel unsympathischer sind, als die Nationalisten?

Ein Kennzeichen für die Aufstände, vor allem im Norden, war die Bildung von shoras, Räten auf Stadtteil- oder Fabrikebene, von denen es allein in Sulaimania über 50 gegeben haben soll. Diese Räte wurden von den Nationalisten nicht anerkannt.

Es ging im Süden sowenig um Religion wie im Norden um »die kurdische Nation«. Natürlich war es ein Aufstand von Schiiten, einfach deshalb, weil die überwiegende Mehrheit der Armen auf dem Land und der Proletarier in den Slums der Städte (beide die Opfer der baathistischen Agrarreform) Schiiten sind. Auch haben schiitisch-religiöse Organisationen eine gewisse Rolle im Aufstand gespielt: sie stellten einen Teil der revolutionären Infrastruktur (z.B. Moscheen als Treffpunkte). Besonders wichtig war wohl die Al-Dahwa al-Islamiya (Islamischer Ruf), die seit 1968 illegal im Irak operiert. Daraus auf einen »schiitischen Aufstand« zu schließen ist so absurd, als wollte mensch etwa die Vertreibung Somozas aus Nikaragua zu einer katholischen Revolution umdeuten. Eine mindestens ebenso große Rolle wird beispielsweise auch der KP unterstellt, die immer noch eine der bürgerlichen Parteien mit dem größten Masseneinfluß im Irak ist. Allerdings kann jetzt die Möglichkeit nicht ganz von der Hand gewiesen werden, daß radikal-islamische Kreise den größten Nutzen aus der Niederlage ziehen können. [4]

In Kurdistan verhandeln die Nationalistenparteien mit den Regimes in Ankara und Bagdad, während die türkische Armee ihren Feldzug gegen die PKK auch auf irakisches Gebiet ausgedehnt hat. Dennoch, die ungeklärte Situation und die Anwesenheit alliierter Truppen scheint zu einer politischen Öffnung, zu einer Vervielfältigung politischer Möglichkeiten in Kurdistan geführt zu haben. Was sich daraus entwickelt, ist derzeit noch schwer abschätzbar.

Wir dokumentieren im Folgenden auszugsweise einen Text, der zum Kriegsende und zu den Aufständen Stellung bezieht: Ein Flugblatt, das von irakischen Genossen und Genossen aus Großbritannien veröffentlicht wurde. Es ist uns deshalb wichtig, weil es vor allem den Charakter des Aufstandes im Norden und die Rolle der Nationalisten genauer beleuchtet.


Fußnoten:

[1] Der Spiegel 15/91, S. 177f.

[2] Der Spiegel 27/91, S. 148.

[3] Meed, 31.5.91, p. 24.

[4] Zur jüngeren Geschichte des Irak ist ein informatives Buch erschienen: M. Farouk-Sluglett, P. Sluglett, Der Irak seit 1958, Frankfurt 1991. Die AutorIn schätzen ebenfalls die religiösen Neigungen der Iraker als nicht sehr intensiv ein.


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