Wildcat Nr. 57 - Oktober/November 1991 - S. 31-32 [w57irakt.htm]


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Zehn Tage, die den Irak erschütterten

Informationen aus dem Inneren eines Aufstandes

(»Ten Days That Shook Iraq - Inside Information from an Uprising«)

Der Golfkrieg wurde nicht durch den militärischen Sieg der USA und der Alliierten beendet. Er wurde durch die Massendesertation Tausender irakischer wehrpflichtiger Soldaten beendet. (...) Die Dimension dieser Meuterei ist in der modernen Militärgeschichte einzigartig.

Aber diese meuternden Truppen flüchteten nicht einfach zurück in den Irak. Auf ihrem Rückweg richteten viele von ihnen ihre Waffen gegen den irakischen Staat und entfachten gleichzeitig einen Aufstand im Süden Iraks und im Norden, in Kurdistan. Nur die Zentralregion um Bagdad blieb in den Wochen nach Kriegsende fest in den Händen des Staats.

Die westlichen Medien haben diese Aufstände von Anfang an völlig falsch dargestellt. Der Aufstand im Süden, mit seinem Zentrum in Basra, wurde als schiitische muslimische Revolte gehandelt. Der Aufstand im Norden dagegen wurde als ausschließlich kurdisch-nationalistischer Aufstand dargestellt, der kaum mehr als eine autonome Region im Irak forderte.

Die Wahrheit ist, daß die Erhebungen, sowohl im Norden als auch im Süden, proletarische Aufstände waren.

Basra ist eines der am wenigsten religiösen Gebiete im Mittleren Osten. In Basra geht fast niemand in die Moscheen. Die radikalen Traditionen in diesem Gebiet sind nicht islamisch-fundamentalistisch, sondern eher arabisch-nationalistisch und stalinistisch. Die irakische Kommunistische Partei ist die einzige bürgerliche Partei von Einfluß in der Region. Die Städte Basra, Nasriah und Hilah sind seit langem als Einflußgebiet der Kommunistischen Partei bekannt und haben eine lange Geschichte offener Rebellion gegen Religion und Staat. Die »irakische« Arbeiterklasse war schon immer eine der aufrührerischsten in dieser unbeständigen Region.

Nach dem wiederholten Scheitern ihrer Kompromisse mit dem irakischen Staat gibt es im Norden kaum Sympathie für die nationalistischen Parteien (KDP und PUK) und ihre Peshmergas (bewaffneten Einheiten). Dies trifft vor allem für das Gebiet um Sulaimania zu. Die Bewohner dieser Gegend stehen den Nationalisten seit dem Massaker von Halabja besonders feindlich gegenüber. Nach dem Chemiewaffenangriff der irakischen Luftwaffe gegen Deserteure und Zivilisten in der Stadt Halabja im Jahr 1988 hinderten die Peshmergas anfangs Leute am Flüchten und gingen dann dazu über, die Überlebenden des Massakers auszuplündern und zu vergewaltigen. Daher weigern sich viele Dorfbewohner seither, nationalistischen Peshmergas Verpflegung oder Unterkunft zu gewähren. Wie im Süden sind auch hier die KP und ihre Peshmergas beliebter.

Der Aufstand im Norden war nicht nationalistisch. Anfangs wurden Ba'athistische Funktionäre und Geheimpolizisten exekutiert, Polizeiakten wurden zerstört und die Gefängnisse gestürmt. Die Leute lehnten die bürgerliche Politik der kurdischen Nationalisten offen ab. In Sulaimania wurden die nationalistischen Peshmergas aus der Stadt gewiesen und der im Exil lebende Führer der Patriotischen Union Kurdistans, Jalal Talabani, an der Rückkehr in seine Heimatstadt gehindert. Als der Führer der Kurdischen Demokratischen Partei, Massoud Barzani, nach Chamcharnal in der Nähe von Sulaimania fuhr, wurde er angegriffen und zwei seiner Leibwachen getötet. Als die Nationalisten die Parole ausgaben, »Jetzt ist die Zeit gekommen, die Ba'athisten zu töten!« antworteten die Leute in Sulaimania: »Jetzt ist für die Nationalisten die Zeit gekommen, Porsches zu plündern!« und meinten damit, daß die Nationalisten nur an Plünderungen interessiert seien. (...)

Angesichts dieser proletarischen Aufstände mußten die verschiedenen bürgerlichen Interessengruppen in der Region ihre Feindseligkeiten untereinander einstellen und sich vereinigen, um sie zu unterdrücken. Es ist bekannt, daß der Westen, geführt von den USA, Saddam Husseins brutales Regime lange Zeit stützte. Sie unterstützten ihn im Krieg gegen den Iran. Mit ihrer Unterstützung für Saddam erkannte die westliche herrschende Klasse auch an, daß die Ba'ath Partei, als faschistische Partei mit Massenbasis, die einzige Kraft im Irak war, die in der Lage und grausam genug war, das ölproduzierende Proletariat zu unterdrücken.

Saddams Strategie, den sozialen Frieden im Irak aufrechtzuerhalten, bestand letztlich jedoch in einem permanenten Krieg und der Militarisierung der Gesellschaft. Solch eine Strategie konnte aber nur zu weiterem wirtschaftlichen Verfall und zur Verschärfung der Klassenwidersprüche führen. Im Frühjahr 1990 wurde dieser Widerspruch deutlich. Die irakische Wirtschaft war nach acht Jahren Krieg gegen den Iran zerrüttet. Die Ölproduktion, ihre hauptsächliche Devisenquelle, wurde begrenzt, weil die Ölpreise relativ niedrig waren. Die Versprechungen aus Kriegszeiten von »Wohlstand in Frieden« ließen sich nur durch höhere Ölpreise oder durch mehr Krieg einlösen. Die erste Möglichkeit wurde durch Kuwait und Saudi-Arabien blockiert. Saddam unternahm einen kühnen Versuch, aus dieser Sackgasse herauszukommen und annektierte Kuwait und seine reichen Ölfelder. (...) Die Bush-Administration hoffte auf einen schnellen und entscheidenden Sieg, der den Irak aus Kuwait vertriebe, aber gleichzeitig das irakische Regime intakt ließe. Um aber die Heimatfront für den Krieg mobilisieren zu können, mußte Bush Saddam mit Hitler vergleichen und setzte sich so gegenüber der Öffentlichkeit mehr und mehr unter Druck, den irakischen Führer zu stürzen.

Unter diesem Druck versuchte die US-Regierung nun, den Irak militärisch so zu besiegen, daß die Ba'ath-Partei Saddam durch jemand anderes ersetzen müßte. Tatsächlich gab das Bush-Regime führenden Kreisen im Irak mit dem Herannahen des Bodenkriegs im März die Möglichkeit, Saddam Hussein zu ersetzen. Die Massendesertation der irakischen Wehrpflichtigen und die darauf folgenden Aufstände nahmen der amerikanischen Regierung jedoch die Möglichkeit solch eines bequemen Sieges. Stattdessen drohte aus dem Aufstand eine ausgewachsene proletarische Revolution zu werden, mit all ihren schrecklichen Konsequenzen für die Akkumulation von Kapital im Mittleren Osten.

Das letzte, was die amerikanische Regierung wollte, war, in eine langwährende militärische Besetzung des Irak gezogen zu werden, um die Aufstände niederzuhalten. Es war viel effizienter, den bestehenden Staat zu retten. Aber sie hatten nicht genug Zeit, um auf der Ablösung von Saddam Hussein zu bestehen. Das Chaos, das sich daraus entwickelt hätte, konnten sie sich kaum leisten. Und so verflüchtigte sich sozusagen über Nacht Bushs Feindseligkeit gegenüber dem Schlächter von Bagdad. Die beiden rivalisierenden Schlächter wurden Partner.

Ihr erstes Ziel war die Niederschlagung des Aufstands im Süden, der mit den riesigen Kolonnen von Deserteuren anwuchs, die von Kuwait nach Norden strömten. Obwohl diese flüchtenden irakischen Wehrpflichtigen für die alliierten Truppen oder ihr Ziel, Kuwait zu »befreien«, keine militärische Gefahr darstellten, wurde der Krieg lange genug weitergeführt, um sie auf der Straße nach Basra durch die britische und amerikanische Luftwaffe mit Bombenteppichen zu belegen. Dieses kaltblütige Massaker diente einzig und allein dazu, den irakischen Staat vor meuternden bewaffneten Deserteuren zu schützen.

In der Folge dieses Massakers hielten die alliierten Bodentruppen, nachdem sie durch den südlichen Irak gezogen waren, um Kuwait einzukreisen, kurz vor Basra an und gaben den Republikanischen Garden - den Elitetruppen, die loyal zum irakischen Regime standen - freie Hand, die Aufständischen zu zerschlagen. Alle Ankündigungen, den Republikanischen Garden eine entscheidende Niederlage beizubringen oder weiter gegen Bagdad zu ziehen, um Saddam abzusetzen, waren schnell vergessen. In den Waffenstillstandsverhandlungen bestanden die alliierten Streitkräfte darauf, daß alle Flugzeuge mit festen Tragflächen auf dem Boden blieben, aber der Gebrauch von Helikoptern, der zur Aufstandsbekämpfung notwendig ist, wurde zu »administrativen Zwecken« erlaubt. Dieses »Zugeständnis« erwies sich als wichtig, sobald der Aufstand im Süden niedergeschlagen war und der irakische Staat seine Aufmerksamkeit dem fortschreitenden Aufstand im Norden zuwandte.

Während der Aufstand in der Region Basra niedergeschlagen wurde, kaum daß er begonnen hatte, hatte er im Norden mehr Zeit, sich zu entwickeln. Er begann in Raniah, weitete sich auf Sulaimania und Kut aus und drohte auf seinem Höhepunkt, sich über Kurdistan hinaus auf die Hauptstadt auszuweiten. Das ursprüngliche Ziel des Aufstands drückte sich in der populären Parole »Wir werden unser Neujahrsfest mit den Arabern in Bagdad feiern!« aus. Die kurdischen Nationalisten trugen ebensoviel zur Niederlage dieser Rebellion bei wie die westlichen Mächte und der irakische Staat.

Wie alle nationalistischen Bewegungen verteidigen die kurdischen Nationalisten die Interessen der besitzenden Klassen gegen die Arbeiterklasse. Die meisten kurdischen Nationalistenführer kommen aus sehr reichen Familien. Talabani z.B. kommt aus einer Dynastie, die ursprünglich von den Briten eingesetzt worden war, und seine Eltern besitzen Luxushotels in Bagdad. Die KDP wurde von Reichen im Exil gegründet, die durch die Massenaufstände der Arbeiterklasse 1958 aus Kurdistan vertrieben worden waren, als Hunderte von Landbesitzern und Kapitalisten aufgehängt wurden. Als ein Ergebnis dieser erschreckenden Ereignisse wurden auf einem Treffen von exilierten Bourgeois in Razaeia/Iran nationalistische Todesschwadrone organisiert, um Klassenkampf-Militante im irakischen Kurdistan zu töten. Später verübten sie rassistische Morde an Arabern. Während des Irak-Iran-Krieges schlossen sich sehr wenige Deserteure den Nationalisten an, und die PUK erhielt vom irakischen Staat eine Amnestie als Gegenleistung für die Verfolgung von Deserteuren.

Diese kurdischen Nationalisten erkannten, wie die internationale Bourgeoisie, die Bedeutung eines starken irakischen Staates für die Aufrechterhaltung der Kapitalakkumulation gegen eine kämpferische Arbeiterklasse. Und zwar derart, daß sie für das irakische Kurdistan lediglich den Status einer autonomen Region in einem vereinten Irak forderten.

Während des Aufstands taten sie ihr Bestes, um den irakischen Staat zu verteidigen. Sie verhinderten aktiv die Zerstörung von Polizeiakten und Staatseigentum, einschließlich Militärbasen. Die Nationalisten hinderten arabische Deserteure daran, sich dem »kurdischen« Aufstand anzuschließen, entwaffneten sie und schickten sie zurück nach Bagdad, wo sie verhaftet wurden. Sie taten alles in ihrer Macht Stehende, um die Ausweitung des Aufstands über die »Grenzen« Kurdistans hinaus zu verhindern, denn nur so hätte er siegen können. Als der irakische Staat seine Aufmerksamkeit dem Aufstand in Kurdistan zuzuwenden begann, taten die Radiosendungen der kurdischen Nationalisten nichts dazu, den Widerstand zu ermuntern oder gar zu koordinieren, sondern übertrieben stattdessen die Gefahr, die von den demoralisierten irakischen Truppen ausging, die immer noch zur Regierung hielten, und rieten den Leuten, in die Berge zu flüchten. Was sie dann auch taten. All dies ist keine Überraschung, wenn wir uns ihre Geschichte ansehen.

Obwohl die kurdischen Nationalisten, wie wir gesehen haben, nicht sehr beliebt waren, waren sie aufgrund ihrer Organisation und größerer materieller Ressourcen in der Lage, die Situation unter Kontrolle zu bringen und den Aufstand in Kurdistan einzudämmen. Schon lange waren sie vom Westen unterstützt worden, - die KDP durch die USA und die PUK durch Großbritannien - und so waren es die kurdischen nationalistischen Parteien, die die Versorgung sowohl mit Nahrungsmitteln als auch mit Informationen kontrollieren konnten. Dies war entscheidend, denn nach Jahren der Entbehrung, durch den Krieg noch verstärkt, war die Suche nach Lebensmitteln vorrangig. Viele Einzelpersonen waren erstmal damit beschäftigt, Lebensmittel zu plündern, statt eine revolutionäre Organisation und die Entwicklung des Aufstands aufrechtzuerhalten. Diese Schwäche machte es den nationalistischen Organisationen möglich, mit ihrer reichlichen Lebensmittelversorgung und ihren gut ausgerüsteten Radiostationen einzugreifen.

Der Krieg am Golf wurde beendet, weil die irakische Arbeiterklasse sich weigerte mitzukämpfen, und er wurde beendet wegen der darauf folgenden Aufstände im Irak. Aber diese proletarischen Aktionen wurden mit den vereinten Anstrengungen der verschiedenen internationalen und nationalen bourgeoisen Kräfte zerschlagen. Wieder einmal war der Nationalismus das entscheidende Hindernis für den proletarischen Aufstand. Es ist zwar wichtig, festzuhalten, daß die Politik im Mittleren Osten nicht vom islamischen Fundamentalismus und arabischen Nationalismus beherrscht wird, wie das gewöhnlich in der bürgerlichen Presse dargestellt wird, sondern auf dem Klassenkonflikt beruht. Andererseits sind die unmittelbaren Aussichten für die Entwicklung des Kampfes der Arbeiterklasse im Irak jetzt trübe.

Der Krieg führte nicht nur zur Niederlage der irakischen Arbeiterklasse, sondern er legte auch die Niederlage der Arbeiterklasse in den USA und, in geringerem Maße, in Europa offen. (...) Wenn der Aufstand auch niedergeschlagen ist, können wir nicht zulassen, daß ohne Widerspruch verfälscht wird, worum es in ihm ging und wie er niedergeschlagen wurde: daher dieser Text.

Flugblatt von GenossInnen aus dem Irak und Großbritannien.

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