Wildcat-Zirkular Nr. 63 - März 2002 - S. 54-55 [z63unina.htm]


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Loren Goldners Universalismus geht nicht weit genug

Ein Nachwort

Trotz seines fortgeschrittenen Alters von zwölf Jahren ist Loren Goldners Text immer noch aktuell, denn er bringt vehement einen zentralen Einwand gegen alle Spielarten der postmarxistischen Linken vor (von den »neuen sozialen Bewegungen« über »3 zu 1« bis zur eigentlichen »Postmoderne«): Im Gegensatz zu allen modischen Partikularismen hat Marx sich auf den Standpunkt der gesamten Menschheit als Gattung gestellt und versucht, deren Geschichte als zusammenhängende und zusammengehörige zu verstehen und zu kritisieren. Dies stellt die Grundlage für die gemeinsame und umfassende Überwindung der kapitalistischen Gegenwart durch die Menschheit dar.

Leider geht Goldner in seiner Verteidigung des Universalismus aber nicht weit genug. Er stützt sein Argument von der Einheit der Menschheit nämlich ausgerechnet auf Untersuchungen über die außereuropäischen Vorläufer und Einflüsse auf die westlich-christliche »Kultur«. Die Erwähnung dieser Einflüsse und der positive Bezug auf sie eignet sich zwar gut als Argument sowohl gegen den westlichen Rassismus als auch gegen seine zu kurz greifende Kritik durch den Kulturrelativismus, geht aber nicht über den von Goldner selbst treffend so genannten »Staats-Universalismus« Samir Amins hinaus. Die Einflüsse und Gemeinsamkeiten werden nämlich an »Hochkulturen« festgemacht, deren wichtigster historischer Fortschritt neben neuen Formen der Naturbeherrschung vor allem in neuen, grausameren Formen der Klassengesellschaft und des Staates lag.

Was bei Goldner zu kurz kommt, ist die Dialektik des historischen Fortschritts. Es reicht nicht, zu schreiben, daß »jeder geschichtliche Fortschritt, solange der Kommunismus nicht durchgesetzt sei, gleichzeitig von Rückschritten begleitet sei«. Der Fortschritt selbst heißt nämlich, daß, wie Marx schrieb, »je zivilisierter sein Gegenstand, um so barbarischer der Arbeiter, daß, um so mächtiger die Arbeit, um so ohnmächtiger der Arbeiter wird, daß, je geistreicher die Arbeit, um so mehr geistloser und Naturknecht der Arbeiter wird.« (MEW Bd. 40, S. 513). Goldner zitiert kritiklos Amin, der vom »universalistischen moralischen Durchbruch der Ägypter« spricht. Dabei kommt die Sklavenarbeit beim Pyramidenbau nicht vor, sondern einzig ein mutmaßliches kulturelles Entwicklungsniveau der Pharaonen und ihrer Priester und Beamten.

Auch Eric Wolf verteidigt in seinem sehr empfehlenswerten Buch »Europe and the people without history« (1982 - deutsch etwas mißverständlich übersetzt als »Völker ohne Geschichte«) den Universalismus mit der Behauptung, »daß die Welt der Menschheit eine Totalität miteinander verbundener Prozesse« darstelle. Er geht in der Kritik der Vorstellung vom »Westen als eine von anderen Gesellschaften und Zivilisationen unabhängigen und ihnen entgegengesetzten Gesellschaft« aber einen Schritt weiter und kritisiert auch die einfache Vorstellung von Fortschritts-Genealogien, aus denen fast zwangsläufig im Rückblick eine unaufhaltsame Erfolgsstory der eigenen Gesellschaft wird. Wolf trägt eine Fülle von historischem Material zusammen, um sowohl die inneren Klassenkämpfe der europäischen und außereuropäischen Gesellschaften als auch ihre seit Jahrtausenden bestehenden vielfältigen Verbindungen zu zeigen, und zwar nicht nur zwischen den »Hochkulturen«, sondern auch zwischen ihnen und den umgebenden Bauern- und Hirtengesellschaften.

Deshalb ist die Entstehung und der Aufstieg des »europäischen« Kapitalismus weder aus einer Gegenüberstellung zwischen dem dynamischen Westen und dem vergleichsweise statischen Osten noch aus Europa allein, sondern nur als Geschichte zu verstehen, in der die produktive Unterlegenheit Europas gegenüber der islamischen Welt um 1500 als Auslöser der europäischen Expansion genauso eine Rolle spielt wie die Indios, die später das Gold und Silber aus den Bergwerken Südamerikas gruben, und die Afrikaner, die noch später auf den Plantagen Nordamerikas schufteten. Der Kapitalismus seit 1500 ist eine weltweite Geschichte, und zwar eine weltweite Geschichte von Klassenkämpfen.

Deshalb ist es auch wenig überzeugend, wenn Goldner den ArbeiterInnen im Trikont als Alternative zu Amins Antiimperialismus nur das Warten auf die Revolution in den fortgeschrittensten Metropolen vorzuschlagen hat. Dabei ist heute angesichts der Migrationsbewegungen sichtbarer denn je, daß die Klassenkämpfe weltweit zusammenhängen und die Avantgarden an den Fließbändern der Zentren oft die BäuerInnen aus den Peripherien sind. Ein revolutionärer Universalismus muß von dieser weltweiten proletarischen Erfahrung ausgehen!

B., Hamburg


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