Wildcat-Zirkular Nr. 55 - März 2000 - S. 78-84 [z55freil.htm]


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Berliner Bündnis für Freilassung

Zur Verhaftung von Axel H., Harald G. und Sabine E.,
zur Abschiebung von Frank L. und Alisia L. und
zur Erstürmung des MehringHofes

Am Sonntag, 19. Dezember 1999, stürmten um 6.00 Uhr schwer bewaffnete Spezialeinheiten von Polizei und Bundesgrenzschutz die Privatwohnungen von Axel H. und Harald G. in Berlin. Anschließend wurden sie nach Karlsruhe gebracht, wo ihnen am 20.12.1999 Haftbefehle verkündet wurden. Im selben Zusammenhang erfolgte in Frankfurt a.M. die Verhaftung von Sabine E.

Zeitgleich wurde die Umgebung des MehringHofes in Berlin-Kreuzberg - der Arbeitsstelle von Axel und Harald - von ca. 1.000 PolizeibeamtInnen umstellt. BeamtInnen verschiedener Bundesländer und Bundesgrenzschutz samt Spezialeinheiten durchsuchten mit Schnüffelhunden den MehringHof nach einem Sprengstoff- und Waffendepot, das sich dort befinden sollte. Hohlräume wurden aufgestemmt, Türen aufgebrochen, bis spät in den Abend hinein wurden alle Räume durchsucht - gefunden wurde nichts.

Festgenommen wurden bei der Durchsuchung Frank L. und Alicia L., zwei Flüchtlinge, die sich gegen Ende einer Fete noch am Morgen im MehringHof aufgehalten haben. Sie wurden in Abschiebehaft genommen und sind mittlerweile nach Weißrußland und Bolivien abgeschoben.

Die Verhaftungen und Durchsuchungen werden von der Bundesanwaltschaft damit begründet, daß Tarek M. - der wenige Wochen vorher von der Bundesanwaltschaft (BAW) wegen Mitgliedschaft in den Revolutionären Zellen (RZ) verhaftet worden war - Axel H., Harald G. und Sabine E. mit Aussagen belastet habe.

Axel H. soll danach Mitglied der RZ sein und ein Sprengstoff- und Waffendepot im MehringHof »betreut« haben. Harald G. und Sabine E. sollen gleichfalls Mitglieder der RZ bzw. der Roten Zora sein und an einem Sprengstoffanschlag auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber in Berlin im Februar 1987 beteiligt gewesen sein.

Tarek M. soll weiter behauptet haben, daß Harald G. und Sabine E. bei den Schüssen auf die Beine des damaligen Vorsitzenden Richters des Bundesverwaltungsgerichts Günter Korbmacher im Jahre 1987 beteiligt gewesen seien. Außerdem soll Sabine im Jahre 1986 einen Anschlag auf den einstigen Leiter der Berliner Ausländerbehörde Harald Hollenberg mitgewirkt haben - strafrechtlich sind diese Vorwürfe nach Angaben der BAW verjährt.

Harald hat 1994 die Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM) mit begründet. Die FFM ist vor allem durch ihre kritische Recherche und durch ihre Publikationen zu den Auswirkungen der Festung Europa auf Flüchtlinge in den Grenzregionen sowie in den mittel- und osteuropäischen Ländern bekannt geworden. In den mittlerweile fünf Jahren FFM hatte Harald entscheidenden Anteil an der Recherche- und Öffentlichkeitsarbeit. So hat er die Dokumentationsstelle »Menschenrechtsverletzungen an der Grenze« mit aufgebaut. Er hat den Versuch der staatlich erzwungenen Einbeziehung gesellschaftlicher Gruppen in die Ausgrenzung von Flüchtungen und MigrantInnen anhand der Verurteilungen von TaxifahrerInnen an den östlichen Grenzen Deutschlands recherchiert und öffentlich gemacht. Zuletzt beteiligte er sich an der Beobachtung eines Prozesses in Cottbus. Dort stehen junge Nazis vor Gericht, die im Februar 1999 einen algerischen Flüchtling in Guben in den Tod gehetzt hatten. Die Verhaftung von Harald reißt nicht nur eine große Lücke in die ohnehin personell schwierige Situation der FFM, sondern auch in die flüchtlingsunterstützenden Netze wie den Flüchtlingsrat Brandenburg, dem Harald ebenfalls angehört. Eines seiner künftigen, von ihm bereits mit vorbereiteten Projekte ist die Mitarbeit am »Internationalen Menschenrechtsteam an der Grenze«; damit soll die kritische Beobachtung der polizeilichen Fahndungs- und Behandlungspraxis gegenüber Flüchtlingen an der östlichen Schengener Außengrenze zum regulären Aufgabenfeld international anerkannter Menschenrechtsgruppen werden.

Axel ist mit dem MehringHof seit seinem Bestehen eng verbunden. Bevor er die Stelle als Hausmeister antrat, war er Mitglied des Kneipenkollektivs Spectrum, das er seinerzeit mit gründete. Das legendäre »Specci« war eine der ersten kollektiv geführten Berliner Szenekneipen und zog 1980 mit den ersten Projekten in den MehringHof ein. Das Spectrum war ein Ort, wo regelmäßig Solidaritätskonzerte, -feten und politische Veranstaltungen zu den verschiedensten Themen stattfanden, die die Linke in den 80er Jahren bewegten. Nach Auflösung des Kollektivs wurde der Gewinn in ein Schulbauprojekt in Nicaragua gesteckt und in eine Seifenmanufaktur für salvadorianische Flüchtlingsfrauen. Gegen Ende der 80er Jahre hatte Axel an der Errichtung eines kommunalen Radios im Süden Nicaraguas mitgewirkt. Bis zu seiner Verhaftung war er in dem »Initiativkreis gegen den Schlußstrich« aktiv, der sich in Berlin im Zusammenhang mit dem geplanten Mahnmal für die ermordeten europäischen Jüdinnen und Juden gebildet hatte. Der Initiativkreis wendet sich dagegen, dass mit dem Holocaust-Mahnmal ein historischer Schlußstrich unter die deutsche Vergangenheit gezogen wird und es als Symbol einer abgeschlossenen Geschichte funktionalisiert wird. Axel, wie viele andere von uns, gehört jener Generation an, für deren Politisierung die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus ausschlaggebend gewesen ist.

Bei der Erstürmung des MehringHofes nahmen die strafverfolgenden Behörden gezielt in Kauf, daß durch die Durchsuchung wieder einmal das politische und kulturelle Projekt MehringHof, das über 30 Gruppen, Initiativen und Gewerbebetriebe unter seinem Dach vereint und über 120 Menschen einen Arbeitsplatz bietet, zum Vorführ-Objekt verschiedener JournalistInnen und PolitikerInnen wurde. Die zwanzigjährige Geschichte des MehringHofes steht für eine unabhängige, unbequeme und vielfältige Kultur des Protestes und für ein Engagement für eine gerechte Gesellschaft. Neben gewerblichen Einrichtungen wie Verlagen, einer Druckerei, einem Fahrradladen und einem linken Buchladen finden hier unterschiedliche soziale, kulturelle und politische Initiativen Platz. In der letzten Zeit hat der gesamte MehringHof eine übergreifenden Initiative für »Flüchtlinge ohne Papiere« beschlossen. So entschieden sich anläßlich des 20-jährigen Jubiläums alle MieterInnen für die praktische Solidarität mit Flüchtlingen, MigrantInnen und Illegalisierten durch die Übernahme einer Patenschaft.

Zum Sonder-Beweismittel des Bundeskriminalamts und der Bundesanwaltschaft: »Kronzeuge« Tarek M.

Die Durchsuchung des MehringHofs und die Haftbefehle beruhen - nach Angaben der Ermittlungsbehörden - ausschließlich auf den Anschuldigungen des »Kronzeugen« Tarek M. Der Vorwurf, dass im MehringHof Sprengstoff und Waffen gelagert wären, wurde bereits zu Beginn der Polizeiaktion zu einem Schlag ins Wasser: im MehringHof wurde nichts davon gefunden. Tarek M. hat sich offensichtlich als »Kronzeuge« den Ermittlungsbehörden angedient, belastet sich selbst und hofft nun darauf, durch Angaben, die andere belasten, ungeschoren davon zu kommen.

Diesen Rollenwandel im laufenden Ermittlungsverfahren versucht die Bundesanwaltschaft (BAW) mit Hilfe der am 31.12.1999 ausgelaufenen Kronzeugenregelung durchzusetzen. Die Mehrheit der Richter- und Anwaltschaft bezeichnet den Rollenwandel vom potentiellen Angeklagten zum Zeugen der Anklage wie insgesamt die Kronzeugenregelung als Verstoß gegen ein fundamentales strafprozessuales Prinzip. Kronzeugen werden von den Ermittlungsbehörden bei so genanntem Ermittlungsnotstand aufgebaut, das heißt in Situationen, in denen es keine Beweismittel gibt. Die strafverfolgenden Behörden verhören den Kronzeugen während der Ermittlungen und Strafprozesse weiter und können sie, die sich auf das Versprechen des Straferlasses und des späteren Zeugenschutzprogramms eingelassen haben und sich in absoluter Abhängigkeit von seinen Verhörern befinden, je nach Opportunität auf neue Fährten setzen. Damit ist der Manipulation der Ermittlungsverfahren und der Strafprozesse durch BKA, BAW und andere Behörden Tür und Tor geöffnet. Sie verschaffen sich damit ein von ihnen selbst kontrolliertes Instrument der Beweisproduktion.

In der Praxis hat dieses Sonder-Beweismittel mehrfach dazu geführt, dass die Kronzeugen in den Strafverfahren angesichts ihrer sinkenden Glaubwürdigkeit immer absurdere Beschuldigungen vorbrachten. Denn sie klammern sich in ihrer Angst, den Erwartungen der Justiz nicht entsprechen zu können, an das Versprechen, dass der Strafnachlass um so höher ausfallen wird, je gravierender die Taten sind, von denen Kronzeugen angeblich sprechen können.

Die Partei der Grünen, die im Vorwahlkampf zu den letzten Bundestagswahlen die ersatzlose Streichung nicht nur der Kronzeugenregelung, sondern auch des Paragrafen 129 a und aller anderen politischen Sondergesetze der 70er Jahre beantragte, schrieb am 11.12.1997 zur Kronzeugenregelung: »Sie provoziert zum einen Falschaussagen und eröffnet die Möglichkeit der Einflussnahme durch die Ermittlungsbehörden auf den Zeugen. Dies wird eindrücklich durch den Fall Nonne belegt, der im Zusammenhang mit der Aufklärung des Mordes an Alfred Herrhausen steht. Nonne widerrief seine bereits zuvor gestandene Beteiligung an dem Anschlag und seine Angaben über den Tathergang und die Tatbeteiligten. Seine Falschaussagen seien unter Druck der Ermittlungsbehörden mit Geldzusagen veranlasst worden.«

Wir fordern die sofortige und bedingungslose Freilassung von Axel H., Harald G. und Sabine E. und protestieren gegen die Abschiebung von Frank L. und Alicia L.!

In einer Zeit,

brauchen wir vielfältige Politikformen, die diesen Entwicklungen gegensteuern und sie aufhalten.

Homepage: http://www.freilassung.de
Spendenkonto: Martin Poell Kto.-Nr. 2705-104
Stichwort »Freilassung«
Postbank Berlin BLZ 100 100 10


Zum historischen und aktuellen Hintergrund

Ohne die Absicht, die Geschichte linker Gruppen und Bewegungen im Moment der Repression stellvertretend zu schreiben, sind dennoch folgende Anmerkungen angebracht.

Die vorgeworfenen Aktionen richteten sich gegen die staatliche Flüchtlingspolitik und fanden 1986/87 zu einem Zeitpunkt statt, als die Regierung, viele Politiker, Behörden und Medien das durchzusetzen begannen, was heute barbarischer Alltag geworden ist: Im Rahmen regelrechter Kampagnen setzten sie damals Abschiebeknäste und Sammellager ein, setzten Gutscheine statt Bargeld und die Abschiebungen in Folterstaaten durch.

Zu einem ersten Fanal wurde 1983 der Tod von Kemal Cemal Altun: Er hatte sich nach Ablehnung seines Asylantrages aus dem Fenster des Bundesverwaltungsgerichtes (Berlin) gestürzt, um seiner Abschiebung in die Türkei zu entgehen. In der Neujahrsnacht 1983/84 verbrannten sechs Flüchtlinge in Abschiebehaft in Polizeiarrestzellen am Berliner Augustaplatz (Abschiebeknäste waren damals noch nicht etabliert). Sie hatten gegen ihre Einkerkerung, die Überbelegung und die menschenunwürdige Behandlung protestieren wollen. Ihre Wärter waren nicht zur Stelle, um ihnen während des Brands aufzuschließen. Einzelne Behörden und Beamte setzten die staatlichen und medialen Hetzvorgaben mit eigener Energie und rassistischem Vorsatz in eine Flüchtlingspolitik um, zu einer Zeit, als sie noch nicht vollends in Spezialgesetze gegossen war.

1986 betrieb der Berliner Senat - bundesweit mit einer so genannten Sommerkampagne vorpreschend - eine Zuspitzung der Situation. Die Berliner Polizeibehörden nahmen internationale Spannungen zum Anlass, alle Berliner Flüchtlingsheime in Großrazzien zu durchkämmen und besonders alle Flüchtlinge aus dem arabischen Raum zu kontrollieren. Die Nord-Süd-U-Bahn, die an der Ostberliner Friedrichstraße hielt, wurde zum Ort tagelanger Polizeimanöver, bei der alle mitfahrenden ImmigrantInnen und Flüchtlinge - als »ausländisch Aussehende« stigmatisiert - kontrolliert werden sollten. Schließlich bewog die BRD die DDR dazu, das »Loch in der Mauer« für Flüchtlinge zu stopfen, die keinen anderen legalen Weg in die BRD mehr hatten als die nichtregistrierte Einreise über den damaligen Grenzbahnhof Friedrichstraße. Die Senatoren Kewenig und Lummer wollten mit der massenhaften Abschiebung von Palästinensern in den libanesischen Bürgerkrieg ein grausames Exempel für die künftige Abschiebepolitik statuieren.

1986/87 engagierte sich ein breites politisches Spektrum gegen die Razzien und für das Bleiberecht der Flüchtlinge, sowie für ihre menschenwürdige Unterbringung, Verpflegung und gegen ihre gesellschaftliche Ausgrenzung und Isolation: Die Alternative Liste initiierte ihre »Aktion Fluchtburg« (Verstecken von Menschen ohne Papiere); autonome und kirchliche Gruppen protestierten auf den Flughäfen gegen Abschiebungen; die RZ griffen mit militanten Aktionen ein; Stadtteilgruppen kauften die Gutscheine der Flüchtlinge auf und übten durch Blockaden der Supermarktkassen Druck auf die Lebensmittelketten aus, damit der Senat den Flüchtlingen wieder Geld auszahlte; Flüchtlingsgruppen organisierten Beratung, suchten die Lager auf und machten die unglaublich miserablen Zustände dort öffentlich, erteilten den Flüchtlingen Sprachunterricht und durchbrachen so die soziale Isolation. Das Verhältnis zwischen all diesen Gruppen war keineswegs widerspruchsfrei, dennoch war man/ frau in einen gemeinsamen Prozeß eingebunden, der von vielen Auseinandersetzungen und Diskussionen gekennzeichnet war.

Es ist aufschlussreich, die Erklärungen der RZ zu den Anschlägen auch jenseits der Frage nach der Art ihrer Aktionen zu lesen und in den Kontext der aktuellen deutsch-europäischen, inzwischen globalisierten Politik der Flüchtlingsabwehr und Migrationsverhinderung zu stellen. Denn nicht nur denjenigen, die diese Diskussionen der 80er Jahre mit geführt und den Protest gegen die Anfänge der Flüchtlingspolitik der BRD mit getragen haben, sondern auch Jüngeren drängen sich Kontinuitäten auf, was den Ausbau der Festung Europa anbelangt. Bei einem Rückblick scheinen freilich auch Diskontinuitäten und zahlreiche neue Ansätze in der Praxis und Diskussion antirassistischer und flüchtlingspolitischer Gruppen heute auf.

Ihre militanten Aktionen waren vor allem in Bereichen angesiedelt, die Brennpunkte aktueller Auseinandersetzungen waren. Dies galt auch für den Bereich der Flüchtlings- und Asylpolitik in den 80er Jahren. Die Aktionen in diesem Bereich zielten vor allem auf Sachbeschädigungen ab. Dazu zählten ein Anschlag gegen das Ausländerzentralregister (AZR) in Köln (September 1986) ebenso wie gegen die Außenstelle des Bundesamtes für die Anerkennung von Flüchtlingen in Dortmund (September 1987) oder gegen die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber in Berlin (Februar 1987). Anspruch dieser Aktionen, bei denen zumeist Akten und Datenbestände vernichtet wurden, war es, »Flüchtlingen einen Raum [zu] verschaffen, der nicht mehr staatlich kontrolliert und reglementiert wird.«

Zur Lebenssituation von AsylbewerberInnen in Berlin und andernorts findet sich in der Erklärung zum Anschlag auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber (ZSA): »Der auf niedrigstem Niveau eingeengte Lebensstandard und die Mißachtung elementarer Hilfeleistungen (...) ist nicht der Gipfel der Willkür, sondern die Methode eines logisch funktionierenden, rassistischen Verwaltungsapparates.«

Mit der heutigen Zwangsunterbringung in Sammelunterkünften, der Kürzung des Sozialhilfesatzes um mindestens 30 Prozent und seit einem Jahr der Politik des regelrechten Aushungerns bestimmter Flüchtlingsgruppen (Kriegsflüchtlinge aus Ex-Jugoslawien, besonders dem Kosovo) haben sich die Existenzbedingungen der Flüchtlinge weiter verschärft. Die Arbeits- und Bildungsverbote, die rassistische Schikane in den Behörden, eine gesundheitliche Mangelversorgung bis hin zur Streichung jeglicher medizinischer Versorgung und die Einschränkung der Bewegungsfreiheit über die Residenzpflicht sind nur einige Facetten eines Systems, das die Vertreibung von nicht erwünschten Menschen mit dem Mittel der Sozialpolitik durchsetzt.

In der Erklärung zum Anschlag auf den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Korbmacher (September 1987) kann man/frau zum alten Grundgesetzartikel 16 lesen: »Das Asylrecht ist seinem Wesen nach eben nicht einklagbares Individualrecht konzipiert worden - vielmehr ist es von vornherein allen opportunen staatlichen Auslegungen und imperialistischen Dispositionen geöffnet worden und daher in seinem Kern ein Staatsschutzrecht. Folglich geht es heute nicht um seine Aushöhlung, sondern um seine Modernisierung zu einem paßgenauen Instrument imperialer Flüchtlingspolitik.« Korbmacher hatte in Urteilen gegen TamilInnen und KurdInnen Mitte der 80er Jahre die Linie vorgegeben: »Folter und Völkermord, die der 'Abwehr von Umsturzversuchen oder Gebietsabtrennungen dienen', sind keine politische Verfolgung, sondern notwendig, 'denn der Staat selbst, sein Gebietsbestand und seine Grundordnung sind Schutzgüter'.«

Jahre nach dem vielfältigen Widerstand gegen die staatliche Flüchtlings- und Asylpolitik hat die Bundesregierung unter Zustimmung einer großen Bundestagsmehrheit und begleitet von Medienhetze und Pogromen das Asylrecht faktisch abgeschafft. Innenminister Schily unternimmt derzeit Vorstöße, die allerletzten formalrechtlichen Reste des Asylrechts zu schleifen und die Aufnahme abgezählter Flüchtlingskontigente in die Krieg- und Aggressionspolitik der EU zu integrieren.

Die tödlichen Folgen dieser in Justiz und Verwaltung eingespielten Abschottungspolitik und Abschiebungspraxis lassen sich belegen: an allen deutschen Grenzen starben seit der Grundgesetzänderung 1993 88 Menschen beim Versuch, heimlich einzureisen; 54 Abschiebehäftlinge begingen angesichts der drohenden Abschiebung Selbstmord, mindestens 95 wurden bei einem Selbstmordversuch schwer verletzt; 5 Menschen starben während ihrer Abschiebung aufgrund von Mißhandlungen durch deutsche Beamte, 33 Abgeschobene wurden verletzt; 4 Personen wurden nach der Abschiebung im Heimatland ermordet, mindestens 86 wurden von Militärangehörigen oder Polizeibeamten im Herkunftsland verhaftet, mißhandelt oder gar gefoltert, 11 der Abgeschobenen verschwanden spurlos. Die tatsächlichen Zahlen dürften um vieles höher liegen. Europaweit sind mehrere Tausend Tote entlang der EU-Außengrenzen zu beklagen, ein Großteil von ihnen ertrank bei Schiffbrüchen im Mittelmeer.

Die EU ist dabei, ihr Flüchtlingskonzept zu erweitern und nicht nur auf Osteuropa und die Transitstaaten, sondern auch - über die auf dem EU-Sondergipfel im Oktober 1999 in finnischen Tampere verabschiedeten »Aktionspläne« - weltweit bis in die »Flüchtlinge produzierenden« Kriegs-, Bürgerkriegs-, Krisen- und Elendsgebiete auszudehnen. Die EU bereitet sich inzwischen darauf vor, auch militärisch in ihre von ihr reklamierten Hinterhöfe und Einfluss-Sphären militärisch einzugreifen, um eine Regionalisierung von Flucht und Migration zu erzwingen und Menschen auf der Flucht in geschlossene Flüchtlingslager umzuleiten und mit Waffengewalt festzuhalten.


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