Wildcat-Zirkular Nr. 55 - März 2000 - S. 57-72 [z55azvfr.htm]


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Die »35 Stunden« gegen das Proletariat

Die Politik der Arbeitszeitverkürzung in Frankreich

Mouvement Communiste (Paris/Brüssel, Mai 1999)

1. Einleitung

Das Gesetz Aubry (Juni 1998) zur Einführung der 35-Stunden-Woche ist nur eine weitere der seit zwanzig Jahren durchgeführten Maßnahmen, die sich gegen die Arbeiter richten. Nach der Umstrukturierung des Kapitals in den Branchen, in denen die Arbeiterklasse über eine objektive und auch subjektive Stärke verfügt hatte (Stahl, Auto, Schiffbau), mußte das Proletariat große Niederlagen hinnehmen. Zu Beginn der 80er Jahre bildete die Linke an der Macht (PS-PCF, sozialistische und kommunistische Partei) die Speerspitze in dieser Offensive des Kapitals, wobei sie sich auf ihre institutionelle Funktion als politischer Repräsentant der ausgebeuteten Klassen und auf ihre gewerkschaftlichen Netze im Herzen der Klasse stützen konnte. Es war in erster Linie diese Linke, die den Notwendigkeiten der Kapitalakkumulation nachkam, indem sie die erforderlichen Gegenreformen auf der staatlichen Ebene anstieß und gesellschaftspolitische Experimente durchführte.

Seit fast 25 Jahren ist der französische Kapitalismus mit Entwertungskrisen konfrontiert, deren Breite und Tiefe weiter zunehmen (siehe die Krise 1991/92): historische Verlangsamung seiner Akkumulationsrate, Niedergang auf der weltweiten imperialistischen Bühne. Deshalb greift er das Proletariat so intensiv an, wie es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr geschehen ist. Flexibilisierung, Prekarisierung, Individualisierung waren die großen Parolen auf seinen Fahnen. Mit der Anwendung dieser Parolen wurde der Arbeitsmarkt in den letzten zwanzig Jahren vollständig umgekrempelt.

2. Die Wende von 1982

2.1 Nochmal zurück

Das Gesetz Aubry ist der würdige Erbe der Anordnung zur Arbeitszeitverkürzung vom 16.Januar 1982. Heute will sich die Linke nur noch daran erinnern, daß dieses Gesetz den Übergang von der 40- zur 39-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich sowie die fünfte Woche bezahlten Jahresurlaub brachte. Die Arbeiterklasse hat aber nicht vergessen, daß diese Anordnung lediglich für die gesetzlichen Mindestlöhne (SMIC) den vollen Lohnausgleich vorgesehen hatte. Schon damals stand die »Umverteilung der Arbeit« und der Einkommen auf der Tagesordnung.

Darüberhinaus ging es um eine Reorganisation der Arbeit, um den Auslastungsgrad der Anlagen zu optimieren, und um die Einschränkung der Reallohnsteigerungen. Dies führte Anfang 1982 zu einer Welle von Konflikten und Streiks, bei denen die Forderung nach vollem Lohnausgleich im Mittelpunkt stand. Manchmal richteten sich diese Kämpfe auch gegen eine neue Arbeitsorganisation, mit der die Samstagsarbeit eingeführt und mit Hinweis auf die fünfte Urlaubswoche branchenüblicher oder altersabhängiger Zusatzurlaub infrage gestellt wurde. Erst angesichts dieser massiven Arbeitermobilisierung (z.B. gingen von 1969 bis 1977 nur halb soviel Tage durch Streiks verloren wie allein im Jahr 1982, von 1978 bis 1981 sogar fünf- bis sechsmal weniger) verzichtete die damalige Regierung auf ihr Vorhaben.

Am Ende dieser Streikwelle war von der Anordnung vom 16. Januar folgendes übriggeblieben: die Verallgemeinerung flexibler (individualisierter) Arbeitszeiten, die wöchentlich wechseln können, was zum Wegfall von Überstundenbezahlung führt; die Ermöglichung von Wochenendschichten durch Aufhebung der allgemeinen Sonntagsruhe; die Möglichkeit, Frauen in der Industrie bis 24 Uhr, statt wie bisher bis spätestens 22 Uhr arbeiten zu lassen.

Was der Regierung Giscard-Barre Ende der 70er Jahre aufgrund des gewerkschaftlichen Widerstandes nicht gelungen war, wurde also innerhalb weniger Wochen im Namen des »Gemeinsamen Programms« (Wahlplattform der PS, PCF und anderer linker Parteien von 1973) umgesetzt: die Linken und die Gewerkschaften waren schlagartig »vernünftig« geworden. Nachdem die zunehmende Flexibilisierung durchgesetzt war, ging es für die Regierung noch um die Frage der Löhne, denn die Arbeiter wehrten sich dagegen, die Arbeitszeitverkürzung mit Lohnsenkung zu bezahlen. Dieses Problem wurde mit der berühmten »Wende der Härte« [tournant de la rigueur] gelöst, in deren Verlauf mit dem Gesetz vom 22. Juni 1982 - dem sowohl die Stalinisten wie die Sozialdemokraten zustimmten - ein institutioneller Preis- und Lohnstopp eingeführt wurde.

Mit der Anordnung von 1982 war die Büchse der Pandora geöffnet worden: Flexibilisierung, Jahresarbeitszeit, Individualisierung der Arbeit. Für Jacques Rigaudet, den damaligen »Sozial«-Berater von Michel Rocard, lag eben darin - jenseits der hohlen Phrasen von freier Zeit und Abbau der Arbeitslosigkeit - ihr wesentlicher Verdienst: »Die Anordnung von 1982 hatte einen neuen Begriff in das Arbeitsgesetzbuch [Code du travail] eingeführt: die Anpassung der Arbeitszeit [modulation des horaires]. Seit Inkrafttreten des Arbeitsgesetzbuchs war es damit zum ersten Mal überhaupt möglich, durch Verhandlungen und Abkommen von kollektiven Regelungen abzuweichen.« Die späteren Links- und Rechtsregierungen haben diesen Kurs weiterverfolgt. Durch eine Unzahl von Gesetzen wurden die Ausweitung neuer Arbeitsformen wie Teilzeit, Leiharbeit und »graue« Arbeit (TUC, SIVP, CES, CRE, emploi jeunes) [1] gefördert, die Entwicklung zur Jahresarbeitszeit eingeleitet (Delebarre, Séguin), die Nachtarbeit für Frauen in der Industrie wieder eingeführt, die Sozialabgaben gesenkt (d.h. der indirekte Lohn gekürzt), usw..

Das Gesetz Aubry steht ganz in dieser Kontinuität. Seine wesentlichen Neuerungen liegen darin, daß es das Unternehmen als Ort der Rechtsschöpfung institutionalisiert, eine für alle Beschäftigten gleiche Sozialgesetzgebung beendet, zwei unterschiedliche Mindestlöhne einführt und die Entwicklung zur Jahresarbeitszeit beschleunigt, womit logischerweise die Überstundenbezahlung abgeschafft wird.

2.2 Ein exemplarischer Kampf

Aber zunächst noch einmal zurück zu der Streikwelle von 1982. In der Libération vom 19.2.1982 findet sich eine der seltenen Spuren, die diese Streikbewegung hinterlassen hat. Unter der Überschrift »130 Arbeitsplätze sind keinen Samstag ohne Rugby wert« und dem Untertitel »Der Geschäftsführer von Roudière sagt, die 36-Stunden-Woche würde die Einstellung von 130 Personen ermöglichen. Die Beschäftigten weisen diese neue Organisation zurück, weil sie samstags arbeiten müßten« ist zu lesen: »'Das sind Egoisten, ihnen sind die Arbeitslosen schnuppe', murmeln die Bewohner in Pasy d'Olmes en Ariège (1600 erfaßte Arbeitslose). 'Ihre Weigerung ist skandalös'« klagen die Stadtverordneten und die Mitglieder des lokalen Komitees für Arbeitsplätze [2]. »Altmodische Verhaltensweisen haben ein langes Leben«, philosophiert seinerseits Jean Arpentinier, Geschäftsführer von Roudière, des bedeutendsten Textil-Unternehmens in der Region mit 1587 Beschäftigten... Die Spannung begann am 11.Februar zu steigen. Die Reorganisation der Arbeit sah eine Verkürzung auf 36 Stunden für die Schichtarbeiter vor, die Einrichtung einer dritten Schicht und die Einstellung von 130 Personen, darunter 20 Zeitvertragler, die später fest eingestellt werden sollten.

Seit zwei Monaten gärt hier die Wut, und die Arbeiter erklären sich streikbereit, falls ein solcher Vertrag unterzeichnet würde. Sie wollen samstagnachmittags nicht arbeiten, wie es die neue Reorganisation der Arbeit vorsieht. »Man hat uns schon mal reingelegt, 1978 mit dem Samstagvormittag, wir werden damit nicht noch einmal anfangen«, sagt Gilbert aus der Kämmerei. Die Opposition ist noch stärker unter den Frauen, die die Hälfte der SchichtarbeiterInnen ausmachen. »Man hat jetzt schon kein Leben. Wenn wir dann auch noch samstags arbeiten müssen, dann wären wir die einzigen in dieser Stadt, die sich am Wochenende nicht erholen können. Schon wegen der Kinder machen die Paare Gegenschicht (der eine fängt um 5 Uhr an, der andere um 13 Uhr) und sehen sich nicht mehr. Mit Samstagsarbeit wären wir noch mehr von der Welt abgeschnitten.« Die neue Arbeitsorganisation sieht in der Tat vor, daß an 6 von 8 Samstagen bis um 20 Uhr gearbeitet wird. Im Austausch bietet man ihnen zwei aufeinanderfolgende freie Tage unter der Woche und zwei dreitägige Wochenenden alle 8 Wochen an. Aber nichts zu machen. Die Schichtarbeiter wollen ihren Samstag behalten ... und samstags arbeiten, »das heißt auch Sonntagsarbeit akzeptieren. Wir sind in der Textil- und nicht in der Stahlbranche. Es gibt keinerlei technologische Notwendigkeit, 24 Stunden am Tag zu arbeiten«, sagt Jean Pierre aus der Kämmerei. Die Geschäftsleitung hat im gesamten Februar und März die Lohnzugeständnisse aufgestockt und vorgeschlagen, die 36-Stunden-Woche wie 40 zu bezahlen, ab Ende 1984 ein vollständiges 13.Monatsgehalt zu bezahlen, sie hat erklärt, daß »es nicht darum geht, die Leute sonntags arbeiten zu lassen«.

Eine Lokalzeitung stellte die Frage: Sind die Arbeiter reaktionär? Wir zitieren auszugsweise aus einem Text, den die Beschäftigten von Roudière verteilt haben:

»Fünfhundert Beschäftigte lehnen den Plan eines Geschäftsführers ab, der 200 Arbeitsplätze schaffen würde. Sind diese Arbeiter Reaktionäre? Warum widersetzen sie sich einem Führer des Französischen Unternehmerverbands CNPF, der das 'Spiel der Macht spielt', die heute links ist? Worum geht es bei diesem Projekt? Übergang zu 36 Stunden bei gleichzeitiger Lohnkürzung für mehrere Monate und Ausweitung der Maschinenlaufzeiten bis Samstag abends. Die Geschäftsleitung rechnet vor, daß dadurch 200 neue Arbeitsplätze geschaffen würden. Ablehnung durch die Arbeiter: 36 Stunden sind gut, aber es ist nicht gleichgültig, wie! Bei unseren heutigen Reallöhnen können wir eine Lohnkürzung nicht hinnehmen. Die Verlängerung der Arbeitswoche mit der Folge, daß wir nur noch alle zwei Monate einen freien Samstag haben, können wir nicht hinnehmen, weil uns das noch stärker aus dem sozialen Leben herausreißen würde. Die Erpressung mit der Arbeitslosigkeit ist unanständig: Die Arbeiter sind an diesem 'unwürdigen' Zustand nicht schuld, sondern seine hauptsächlichen Opfer. Die Lokalpresse beteiligt sich am Meinungskampf, ohne ein Wort dazu zu sagen, was die Gründe für unsere 'Reaktion' sind. Die besonderen Bedingungen dieser Arbeiter werden überhaupt nicht berücksichtigt oder erwähnt. Sie wissen, daß der ökonomische Wahnsinn ihr Leben verstümmelt, daß ein Tag unter der Woche nicht so viele Freizeitmöglichkeiten bietet wie der Samstag. Lokale Situation, partieller Konflikt - wer geht denn überhaupt auf ihre besonderen Erfahrungen ein, jenseits von Gewerkschaftsstrategien und Unternehmermanövern, und anders als im Rahmen der Wirtschaftsstatistiken einer Welt, die ihr Leben auf einen Wirtschaftsfaktor reduziert.«

2.3 Modernität = Produktivitätssteigerung

»Lokale Situation, partieller Konflikt« - der Versuch, das Gesetz zur »Arbeitszeitverkürzung« auf betrieblicher Ebene umzusetzen, führte zu tausenden solcher Konflikte. Die Lokalpresse war voll mit solchen Meldungen, aber in der überregionalen Presse wurden diese Konflikte kaum erwähnt. Die Gewerkschaften verhandelten Betrieb für Betrieb über die Anwendung des Gesetzes und erklärten den Beschäftigten nicht, daß es sich bei ihren Problemen keinesfalls um spezielle, örtliche Einzelfälle handelte. Die Linksregierung verschaffte ihnen Möglichkeiten, enger in die Verwaltung der Unternehmen einbezogen zu werden, und daher standen sie dem Gesetz insgesamt wohlwollend gegenüber.

Die Arbeiter hatten sich gegen das grundlegende Gesetz der »modernen« Industrie gestellt: Steigerung der Produktivität. Im Austausch gegen eine Stunde Arbeitszeitverkürzung sollten die Beschäftigten einer Reorganisation der Arbeit zustimmen, die zur Verlängerung der Maschinenlaufzeiten pro Tag und pro Woche geführt hätte. Von den Linken werden die Gesetze zur Arbeitszeitverkürzung als Mittel zum Abbau der Arbeitslosigkeit dargestellt. Wenn wir aber ihre innere Logik betrachten, fällt auf, daß es vor allem um Produktivitätssteigerung geht, das heißt um die Produktion derselben Waren mit weniger Beschäftigten. Ein dritter Aspekt der Gesetze zur Arbeitszeitverkürzung ist noch weniger beachtet worden: in den Branchen, in denen bereits weniger als 39 Stunden gearbeitet wurde, diente das Gesetz zur Verlängerung der Arbeitszeit auf 39 Stunden. Dies betraf vor allem die Staatsangestellten. Die Presse berichtete über einige Konflikte um diese Frage und mokierte sich über die »Privilegien« der Beamten. Dabei wurde vergessen, daß mit der besonderen Arbeitszeitregelung im Öffentlichen Dienst früher dessen niedrigeres Lohnniveau gerechtfertigt worden war.

Am allerwenigsten wurde begriffen, daß das 39-Stunden-Gesetz durch die Reorganisation des unmittelbaren Produktionsprozesses eine Verlängerung der Arbeitszeit möglich machte. Bei einer offiziellen Arbeitszeit von 40 Stunden arbeitet niemand wirklich 40 Stunden. Der Widerstand gegen die Herrschaft des Kapitals findet nicht nur in Kampfperioden, sondern tagtäglich statt. Dieser Kampf kann kollektiv und/oder individuell sein, und er zielt darauf, mit allen möglichen Mitteln die Pausen zu verlängern. [3] Vor allem gibt es kollektive Pausen, die mit dem Essen usw. zusammenhängen, die nach und nach ausgeweitet werden. Aufgrund des Kräfteverhältnisses können die Chefs diese Pausen nicht einfach verkürzen. Jede Neuverhandlung der Arbeitszeiten ist für die Geschäftsleitungen der geeignete Moment, um diese Pausen in Frage zu stellen. Hier liegt vielleicht einer der am wenigsten bekannten Gründe für die Bewegungen von 1982 und der folgenden Jahre gegen die Anwendung des Gesetzes zur »Arbeitszeitverkürzung«.

3. Die Politik der Regierung 1998

3.1 Das Unternehmen als Ursprung des Rechts

Durch das Gesetz Aubry kommt es zu einer Wende im Verhältnis zwischen Staat, Unternehmen und Arbeiterklasse, die das Ende einer Epoche markiert: nämlich der des regulierenden Staates, der von oben sowohl den Unternehmern wie der Arbeiterklasse die gesellschaftlichen Spielregeln auferlegte. Im Gegensatz zu den Gesetzen von 1936 und 1982, die staatliche Durchführungsverordnungen vorsahen, bleibt die Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung jetzt den betrieblichen oder branchenweiten Verhandlungen überlassen. Das Gesetz bestimmt lediglich den Stichtag, zu dem es umgesetzt werden muß, die Einzelheiten werden dann für jede Branche und vor allem für jedes Unternehmen getrennt ausgehandelt. So wie es die Arbeitsministerin Martine Aubray in der Nationalversammlung erläutert hat: »Das Gesetz empfiehlt die Rückkehr zu so weit wie möglich dezentralen Tarifverhandlungen und eine große Elastizität bei den Modalitäten der Arbeitszeitverkürzung, womit den Unternehmen die Verbesserung ihrer Konkurrenzfähigkeit ermöglicht werden soll.« Die Ausbeutungsbedingungen werden sich damit noch weiter auffächern und die Spaltungen des Proletariats vertiefen: hier Jahresarbeitszeitregelungen, dort Einstellung als Teilzeitkräfte, hier Lohnkürzungen, dort individuelle Lohnerhöhungen usw..

3.2 Das Ende einer einheitlichen Gesetzgebung

Neben der Aufsplitterung bei seiner konkreten Umsetzung vertieft das Gesetz zwei große Spaltungen: diejenige zwischen den Arbeitern im öffentlichen und denen im privaten Sektor (denn die Arbeitszeitverkürzung betrifft nur den Privatsektor) und jene zwischen den Arbeitern in Betrieben mit mehr als 20 Beschäftigten (die zum 1. Januar 2000 auf 35 Stunden übergehen) und den übrigen (die bis zum Jahr 2002 warten müssen). Die Regierung sieht noch weitere Anpassungen für sehr kleine Betriebe vor. Dies ist das Ende einer einheitlichen Gesetzgebung für alle Arbeiter.

3.3 Die Einführung von zwei Mindestlöhnen

Der auf die Stunde berechnete Mindestlohn (SMIC=salaire minimum interprofessionnel de croissance) bleibt für die Beschäftigten mit 39-Stunden-Woche gleich (um ein 11,4 prozentiges Ansteigen der Kosten zu vermeiden), während der SMIC der »Glückspilze« mit einer 35-Stunden-Woche, auf den Monat umgerechnet wird. Somit bezahlen diese ihre neu gewonnene Freizeit sehr teuer, sie werden nur noch 5420 Francs im Monat verdienen. Der Lohn wird fast eingefroren, der monatliche Mindestlohn (RMM = rémunération mensuelle minimale) - so nennt man das nun - wird von eventuellen kleinen Nachbesserungen am Stunden-SMIC ausgenommen: »(...) eine geringe Neuberechnung des neuen 'Monats-SMIC' durch den Staat würde ein zusätzliches Zeichen von Strenge an die Unternehmenschefs geben, die aufgrund der 35-Stunden-Woche noch weniger zu Lohnerhöhungen bereit sind« (Le Monde vom 29. Januar 1998).

3.4 Jahresarbeitszeitregelungen

Im Zentrum des Regierungsprojekts steht die Einführung von Jahresarbeitszeiten, was ganz auf der Linie der Gesetze Séguin und Giraud liegt, die den Unternehmen das Abweichen von den gesetzlichen Arbeitszeitregelungen erlaubt und die Jahresteilzeit eingeführt hatten. In ihrer Antwort auf einen kleinen Bauunternehmer, der wegen des neuen Gesetzes besorgt war, erklärte die Arbeitsministerin im Parisien vom 27. Januar: »Warum sagen Sie, Sie könnten nicht auf 35 Stunden umstellen? Niemand wird Ihnen vorschreiben, wie Sie Ihr Unternehmen organisieren. Sie können mehr arbeiten, wenn Sie eine Baustelle fertig machen müssen, und danach werden die Arbeiter das wieder ausgleichen, wenn es weniger Arbeit gibt. Es wird eine mittlere Arbeitszeit geben: auf die Woche, auf den Monat, oder aufs Jahr gerechnet, das kommt ganz darauf an. Wir werden keine tägliche Arbeitszeit von 7 Stunden erzwingen.«

In der Nationalversammlung bestätigte Martine Aubry am 29. Januar: »Die Arbeitszeitschwankungen können aufs Jahr gerechnet ausgeglichen werden, wenn darüber Verhandlungen stattgefunden haben und wenn keine übergeordneten Rechte tangiert werden. Für diese Schwankung setzen wir uns ein.« Bei Jahresarbeitszeit brauchen die Unternehmer keine Überstunden mehr zu bezahlen. Denn wenn die Arbeitszeit aufs Jahr gerechnet wird, müssen die Wochen, in denen aufgrund von Unwägbarkeiten der Produktion 42, 44 oder 48 Stunden gearbeitet wird, keine Überstundenzuschläge (von 25 Prozent, oder 50 Prozent bei Nachtarbeit) mehr bezahlt werden, mit dem Argument, daß in den ruhigen Wochen die Arbeitszeit unter 35 Stunden sinken kann.

Die Wochenarbeitsstunden, ab denen für die Überstunden ein Pausenausgleich von 50 Prozent gewährt werden muß (in Unternehmen mit mehr als 10 Beschäftigten) wird von bisher 42 Stunden ab 1999 auf 41 Stunden gesenkt. Eigentlich hätte die Schwelle mit der Arbeitszeitverkürzung bei 38 Stunden liegen müssen, aber die Linksregierung wollte auf diese kleine Geschenk an die Unternehmer nicht verzichten.

Angesichts fehlender Lohnkämpfe ist klar, daß für viele Proletarier die Überstunden das einzige Mittel zur Sicherung ihres Reallohns sind. [4] Die Jahresarbeitszeiten bedeuten also eine Lohnkürzung, die mit dem Gesetz Aubry auch beabsichtigt ist. Von den Lobsängern der Arbeitszeitverkürzung wird das natürlich nicht offen hinausposaunt. Aber in der gedämpften Atmosphäre der Nationalversammlung erklärte Jean le Garrec, der PS-Berichterstatter für das Gesetz, nach einer Höflichkeitsgeste in Richtung des UDF-Abgeordneten Gilles de Robien [5] ganz offen: »Alles kann auf den Tisch gepackt werden, insbesondere Fragen, welche die Elastizität der Organisation betreffen. Nichts hindert daran, sich zyklische oder jährliche Rahmen vorzustellen: in vielen Abkommen finden wir Jahresregelungen. Eines der mit den Verträgen verfolgten Ziele war die Beherrschung der Lohnsumme.«

Die Logik der Umverteilung von Arbeit geht aufs Ganze: für die Arbeitszeitverkürzung sollen die Beschäftigten auf Lohn verzichten. Nur so kann es den Experten der Regierung zufolge gelingen, mit diesem Projekt die Arbeitslosigkeit zu verringern. »Es liegt nun bei den Unternehmern und den Vertretern der Beschäftigten, die Entwicklungen festzulegen, die den Beschäftigten gerecht werden und den ökonomischen Perspektiven des Unternehmens angemessen sind«, insistiert Frau Aubry. »In Zukunft sollte bei der Lohnentwicklung die Arbeitszeitverkürzung berücksichtigt werden (...). Ich bin sicher, daß die Beschäftigten ihren Teil dazu beitragen werden, daß es morgen mehr Beschäftigte in ihren Unternehmen gibt.« Einfrieren der Löhne gegen Arbeitszeitverkürzung und Schaffung von Arbeitsplätzen - das ist für die Regierung die Lehre aus dem Mißerfolg des 39-Stunden-Gesetzes (70 000 Arbeitsplätze wurden im ersten Halbjahr 1982 in den nicht-landwirtschaftlichen Sektoren zusätzlich geschaffen oder nicht abgebaut). Die egoistischen Arbeiter, die 1982 streikten, hatten die wunderbaren anfänglichen Absichten scheitern lassen.

4. In den Unternehmen

Als klar war, daß die Arbeitszeitverkürzung als trojanisches Pferd für eine Reorganisation des Arbeitsprozesses und eine Absenkung oder Einfrierung der Löhne diente, haben die Unternehmer nicht das Gesetz Aubry abgewartet, um die Arbeitszeit in den Betrieben zu verkürzen. Alle Gesetzesprojekte der letzten zwanzig Jahren haben den Unternehmen die Möglichkeit geschaffen, auf lokaler Ebene kürzere Arbeitszeiten zu vereinbaren. Die begeisterten Anhänger der Arbeitszeitverkürzung sollten sich klarmachen, daß diese für das Proletariat kein Gut an sich darstellt, sondern immer davon abhängt, wie sie angesichts eines bestimmten Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen umgesetzt wird und welche Auswirkungen sie dann hat.

Seit fünfzehn Jahren ist nicht zu übersehen, daß dieses Kräfteverhältnis für die Arbeiterklasse sehr ungünstig ist, vor allem aufgrund einer riesigen industriellen Reservearmee. Wozu eigentlich eine Arbeitszeitverkürzung, wenn die Proletarier sie mit (nominaler und realer) Senkung der Löhne, Arbeitsflexibilität, Verschärfung der Taktzeiten (Arbeitsintensivierung) und Schichtarbeit (Verlängerung der Maschinennutzungszeiten) teuer bezahlen müssen? Wenn wir uns die in den letzten Jahren zwischen Unternehmern und Gewerkschaften abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen anschauen, wird dieser Schwindel nur zu deutlich. In den meisten Fällen konnte der Unternehmer mit der Androhung von Entlassungen und unter Mithilfe der Gewerkschaften erreichen, daß Nominallohnsenkungen von bis zu zehn Prozent im Tausch gegen Arbeitszeitverkürzung hingenommen wurden.

Einige Beispiele sollen diese Entwicklung illustrieren:

Diese Art von Arbeitszeitverkürzung, deren Kosten durch die Reorganisation und stärker noch durch Lohnsenkungen kompensiert werden, entspricht genau den Bedürfnissen der Unternehmen mit hoher Kapitalintensität. Um den Anteil des fixen Kapitals zu verringern, sind diese Firmen existenziell auf eine Beschleunigung des Kapitalumschlags angewiesen, wodurch der in den Maschinen enthaltene Wert immer schneller übertragen wird. Der Wert der produzierten Waren verringert sich dann, weil sich der Wert des fixen Kapitals auf eine größere Menge von Waren verteilt. Die Unternehmen, die als erste eine solche Reorganisation der Arbeit einführen, können Extraprofite machen, da der individuelle Wert der von ihnen produzierten Waren unter deren durchschnittlichen Wert sinkt.

So konnte Hewlett-Packard mittels der Reorganisation der Arbeit und ohne neue Investitionen in fixes Kapital die Produktion verdreifachen und die Produktivität verdoppeln. Bei Renault-Flins wurden 300 zusätzliche Wagen auf diese Weise produziert. Die Unternehmen jubeln: Aufgrund der Produktionssteigerung und der Arbeitszeitverkürzung müssen sie zwar neue Leute einstellen (200 in Flins, 40 bei Hewlett-Packard), aber das Anwachsen der Lohnsumme wird von der durch die Neuorganisation des Arbeitsprozesses erzielten Produktivitätssteigerung und dem Stellenabbau, der in anderen Produktionsbereichen weitergeht, mehr als ausgeglichen. (Zudem werden die Neueingestellten schlechter bezahlt, was eine der Ursachen für den Konflikt von 1995 in Flins war.)

Es sind bereits erste Betriebsvereinbarungen abgeschlossen worden, die den Übergang zur 35-Stunden-Woche im Jahr 2000 vorwegnehmen. Sie zeigen deutlich, daß die Arbeitszeitverkürzung für die Arbeiter Lohnsenkung bedeutet. So haben die Gewerkschaften FO und CFDT bei dem deutsch-französischen Hubschrauberhersteller Eurocopter am 1.April eine Vereinbarung unterzeichnet, die ab dem 1. Januar 1998 die Einführung der 36-Stunden-Woche und ab dem 1. Januar 1999 der 35-Stunden-Woche vorsieht. Der Preis dafür ist die Einführung von Jahresarbeitszeit (durch Wechsel zwischen Vier- und Fünf-Tage-Woche) und der Verzicht auf den vollen Lohnausgleich (60 Prozent Ausgleich für diejenigen mit einem Lohn über 10.000 Francs und 90 Prozent für die anderen). Bei einem Lohn von 10.000 Francs bedeutet das einen Lohnverlust von monatlich 1000 Francs, bei einem Lohn in Höhe des Mindestlohns (SMIC) beträgt der Verlust 350 Francs.

Im Bereich Handel, Banken und Versicherungen, wo die Arbeitszeit durch Rahmentarifverträge streng geregelt ist, [6] hat die Unternehmerseite schnell erkannt, welcher Nutzen sich aus dem Gesetz Aubry ziehen läßt. So erklärte Michel Freyche, der Präsident des französischen Verbandes der Banken (AFB), in einem Interview in der Zeitung Les Echos vom 13. Februar 1998: »(...) wenn sie vernünftig ausgehandelt wird, kann die Arbeitszeitverkürzung nützlich sein. (...) Wir wollen keine Verhandlungen über die 35-Stunden-Woche auf Branchenebene. Im Gegenteil, wir sind bereit, Gespräche auf der Ebene der Unternehmen anzuregen und zu erleichtern, das heißt, zu überprüfen, welche Hindernisse es im Rahmenvertrag für die Realisierung der Arbeitszeitverkürzung gibt.«

Die Unternehmer im Bereich Banken und Handel haben es also eilig, die Rahmenverträge zu kündigen, besonders das Dekret von 1937, das den Beschäftigten dieser Bereiche zwei aufeinanderfolgende Ruhetage unter obligatorischem Einschluß des Sonntags garantiert. Den Arbeitern dieses Bereichs wird folgendes »Geschäft« angeboten: Im Tausch gegen die 35-Stunden-Woche akzeptiert ihr die Jahresarbeitszeit (46 bis 48 Stunden in der Weihnachtszeit), Samstagsarbeit (sechsmal sechs Stunden), die Ausweitung der Schichtarbeit (Verlängerung der zulässigen täglichen Arbeitszeit, die durch das Dekret von 1937 bisher auf elf Stunden begrenzt war) - und »Lohnmäßigung«.

Der Präsident der Union der Innenstadtkaufhäuser (UCV), Jacques Périllat, spricht klar aus, um was es geht: »Gegenwärtig ist für 40 Prozent der Vollzeitbeschäftigten samstags Ruhetag, obwohl das der Wochentag ist, an dem die größten Gewinne gemacht werden. Es wäre besser, wenn es nicht mehr als 20 Prozent wären.« Außerdem sieht er im Gesetz Aubry eine günstige Gelegenheit, um die Jahresarbeitszeit einzuführen, die es »möglich macht, daß die Beschäftigten im Dezember zur Weihnachtszeit 48 Wochenstunden arbeiten; zum Ausgleich dafür kommen sie so im Juni zur Vier-Tage-Woche.« Arbeitswochen mit 48 und sogar 52 Stunden sind im Handel häufig. Aber die Überstunden werden bezahlt, was nach Einführung der Jahresarbeitszeit nicht mehr der Fall sein wird.

Noch ein anderes Ziel ist für die Unternehmer bei der derzeitigen Welle von Rahmenvertragskündigungen wichtig: die Definition der Arbeitszeit. In zahlreichen Rahmenverträgen sind Umkleiden, Zwischenmahlzeiten und Duschen in der effektiven Arbeitszeit inbegriffen. Bereitschaftszeiten (wenn der Beschäftigte seinem Arbeitgeber zur Verfügung steht, ohne am Arbeitsplatz anwesend zu sein), die nicht zur effektiven Arbeitszeit gehören, werden bezahlt (siehe unten zum Streik bei Schindler).

5. Eine Jahrhundertforderung

Arbeitszeitverkürzung ist eine Jahrhundertforderung der Arbeiter. Es läßt sich sogar sagen, daß sie eine lebensnotwendige, auf die bloße biologische Existenz gerichtete Forderung war. Nachdem der auf dem Handwerk basierende Widerstand der Arbeiter gebrochen worden war, entwickelte sich mit der Einführung der maschinellen Produktion, mit der reellen Herrschaft des Kapitals, am Ende des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts ein regelrechter Kannibalismus der neuen Produktionsordnung.

Während die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, d.h. die Entwicklung der spezifisch kapitalistischen Produktionsweise (Maschinerie), zu einer enormen Steigerung der Arbeitsproduktivität führte und damit objektiv die Möglichkeit einer Verringerung der individuellen Arbeitszeit schuf, war ihre Durchsetzung in Europa von der Ausweitung der täglichen Arbeitszeit und dem Rückgriff auf Frauen- und Kinderarbeit geprägt.

In der Phase der Ausbreitung der Großindustrie (Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts) kombinierte das Kapital die Abpressung von absolutem Mehrwert durch Verlängerung der Arbeitszeit mit der Steigerung des relativen Mehrwerts durch die Senkung des Preises der Ware Arbeitskraft (der Anstieg der gesellschaftlichen Produktivität senkte auch den Wert der Waren, die in die Reproduktion der Arbeitskraft eingehen). In dieser Epoche sind tägliche Arbeitszeiten von 16 Stunden nicht unüblich.

Auch mit Unterstützung durch jene menschenfreundliche Fraktion der Bourgeoisie, die sich um die Degenerierung der Gattung »Arbeiter« Sorgen macht, wird die Arbeiterbewegung dieser Entwicklung Grenzen setzen: fortschreitende Verringerung der täglichen Arbeitszeit (12, 10, 8 Stunden) sowie Verbot von Kinderarbeit und Frauennachtarbeit. [7] Diese Kämpfe wiederum treiben im Verlauf der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts die Entwicklung der Maschinerie voran, da sie das Kapital dazu zwingen, die Abpressung von relativem Mehrwert zu verallgemeinern: »Sobald die allmählich anschwellende Empörung der Arbeiterklasse den Staat zwang, die Arbeitszeit gewaltsam zu verkürzen und zunächst der eigentlichen Fabrik einen Normalarbeitstag zu diktieren, von diesem Augenblick also, wo gesteigerte Produktion von Mehrwert durch Verlängerung des Arbeitstags ein für allemal abgeschnitten war, warf sich das Kapital mit aller Macht und vollem Bewußtsein auf die Produktion von relativem Mehrwert durch beschleunigte Entwicklung des Maschinensystems.« (Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 432).

6. Schlußfolgerung

Die Untersuchung der Regelungen, die zur Zeit mit Hilfe des Gesetz Aubry eingeführt werden, macht klar, daß es bei der Arbeitszeitverkürzung nicht darum geht, die Arbeitslosigkeit abzubauen, und erst recht nicht darum, die Arbeiter vom Fluch der Lohnarbeit zu befreien und ihnen mehr »freie« Zeit zu verschaffen - im Gegensatz zu dem, was die diversen verkommenen Elemente der »Mehrheits«-Linken von allen Dächern posaunen. Wir haben ausführlich gezeigt, daß die Umsetzung dieses Gesetzes zur Senkung der Nominal- und Reallöhne führt, die Unterwerfung unter die Zwänge der Kapitalverwertung intensiviert und damit auch die Ausbeutungsrate wieder steigen läßt. Im Gegenzug werden die Gewerkschaften vom kapitalistischen Staat stärker und umfassender in die Sicherung der kapitalistischen Ordnung einbezogen, um den sozialen Frieden aufrechtzuerhalten.

Diese Einbeziehung ist zwar nicht neu, aber es ist bemerkenswert, wie die Gewerkschaftsapparate von Jahr zu Jahr bei jeder neuen Maßnahme immer intensiver in die Regelung der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit eingebunden werden. Indem das Gesetz Aubry Verhandlungen auf Betriebsebene begünstigt, weist es den betrieblichen Gewerkschaftssektionen eine völlig neue wichtige Rolle zu. [8] So schließt sich der Kreis: Vom Wirtschafts- und Sozialrat bis zur kleinsten Betriebsabteilung, vom Allgemeinwohl des Staates bis zur Mikroökonomie des Betriebs ist die Gewerkschaft mehr als je zuvor die Institution, der die Aufgabe zukommt, die Erfordernisse der Kapitalverwertung in Krisenzeiten auf allen Ebenen der bürgerlichen Gesellschaft geltend zu machen.

Der kapitalistische Staat ist mehr denn je auf Verhandlungspartner angewiesen. Die Gleichgültigkeit der ausgebeuteten Klassen gegenüber den öffentlichen Angelegenheiten beunruhigt die herrschende Klasse, der bewußt ist, daß die Vermittlungsinstanzen geschwächt sind oder völlig fehlen. Der Staat hofft, daß diese »schlechten Franzosen« an der langen Leine der Gewerkschaften bleiben, aber deren Repräsentativität ist lächerlich. Sie bringen es sogar fertig, aus dem Nichts sogenannte repräsentative Organe zu erschaffen, wie sie es mit den angeblichen Arbeitslosenorganisationen gemacht haben: mit einem Etikett versehene Grüppchen, die niemals jemanden anderen repräsentiert haben als einige Linke, die Probleme mit der sozialen Vermittlung haben.

Der Kampf um Lohnerhöhung und Arbeitszeitverkürzung steht weiterhin auf der Tagesordnung. Das wird so bleiben, solange kapitalistische Produktionsverhältnisse herrschen.

Die Massenarbeitslosigkeit und die Entwicklung verschiedener prekärer Arbeitsformen haben die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung sicherlich zur einer zweitrangigen Sorge der Arbeiter werden lassen. Im Vordergrund steht heute die Zerstückelung und Aufspaltung des Arbeitstages, die Jahresarbeitszeit, die verrückten Arbeitszeiten [9] und die Ausweitung von Schichtarbeit sowohl in der Industrie als auch in den Büros.

Wenn es morgen zu einem allgemeinen Wiederaufschwung des Klassenkampfs kommt, könnten die Parolen der 35 oder 32 Stunden leicht als überängstlich und armselig erscheinen und hinter der wirklichen Bewegung zurückbleiben. Die Linke sei schließlich auch daran erinnert, daß die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung in der Tradition der revolutionären Arbeiterbewegung nie mit der Illusion verbunden war, dadurch Arbeitsplätze zu schaffen. Dasselbe gilt auch für Lohnerhöhungen, die von Linken und Stalinisten gefordert werden, um den Konsum wieder anzukurbeln und aus der Krise herauszukommen: damit degradieren sie den Arbeiterkampf zu einem Mittel für die Wiederingangsetzung der kapitalistischen Akkumulation. Gestern, heute und morgen ist es die Aufgabe von Revolutionären, zur Verteidigung der materiellen Interessen der Arbeiterklasse beizutragen, und zwar unabhängig vom Unternehmensinteresse oder der Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Ökonomie.

7. Ein schönes Beispiel:
Der Streik bei Schindler im März 1999

Die Wartungsarbeiter der Fahrstuhlfirma Schindler (3750 Beschäftigte in Frankreich, davon 750 im Raum Paris) haben vom 15. bis 24. März 1999 gestreikt. Sie kämpften gegen die Umsetzung das 35-Stunden-Gesetzes der französischen Regierung in ihrem Betrieb. Die Geschäftsleitung wollte im Tausch gegen die Arbeitszeitverkürzung eine Lohnkürzung von mindestens vier Wochenstunden erreichen. Zudem sollten die Löhne dieses Jahr nur um 0,5 Prozent erhöht (im Vergleich zu 2,8 Prozent 1998) und die Entlohnung der 24-stündigen Bereitschaftszeiten neu geregelt werden. Statt durchgehender Bezahlung dieser Zeit, sollten nur noch die tatsächlichen Einsätze gezahlt werden. [10]

Die Forderungen der streikenden Arbeiter waren einfach:

Der Streik begann in Paris am 15. März und weitete sich in die Provinz aus. Täglich fand eine Vollversammlung der Streikenden am Firmensitz in Vélizy, einem Vorort von Paris, statt, auf der über die Fortsetzung des Streiks und Aktionen entschieden wurde.

Jeden Tag marschierten die 300 Streikenden also durch die Straßen des Industriegebiets von Vélizy, um andere Arbeiter zu treffen. Am 19. März demonstrierten sie mit ihren Firmenautos auf den Champs Elysées.

Die Streikenden haben sich um Unterstützung bei anderen Fahrstuhl-Firmen (Otis, Kone, Thyssen) bemüht.

Die Geschäftsleitung von Schindler hat zwar Verhandlungen abgelehnt, aber die meisten ihrer Maßnahmen provisorisch zurückgezogen. Diesmal hat der Streik nicht mit einer Niederlage geendet, wie ein ähnlicher Kampf 1982 gegen die Einführung der 39-Stunden-Woche.

Dieser Streik ist sehr wichtig. Zum ersten Mal stellten sich Arbeiter offen, massiv und in wirksamer Weise gegen das Projekt der »Arbeitszeitverkürzung« von Regierung und Unternehmer, mit dem mehr Arbeit und weniger Geld durchgesetzt werden sollen. Leider ist ein ähnlicher Kampf bei Peugeot Sochaux anders verlaufen: die Auseinandersetzung dauerte nur einen Tag und blieb vollkommen auf den Rahmen der Fabrik beschränkt. Ähnlich war es bei der Post, wo immerhin hier und da gelegentlich kleine Kämpfe ausgebrochen sind.

(Mai 1999)


Fußnoten:

[1] TUC (travaux d'utilité collective = gemeinnützige Arbeiten) wurden 1984 für Arbeitslose zwischen 16 und 25 Jahren eingeführt. Für 20 Stunden Arbeit pro Woche bei der Kommune oder einem Verein bekamen sie 1200 Francs. Die Unternehmer verlangten die Ausweitung der TUC auf den Privatsektor, um auch in den Genuß dieser billigen Arbeitskraft zu kommen. Dadurch entstanden 1986 die von Linken und Rechten gemeinsam beschlossenen SIVP (stage d'insertion à la vie professionnelle = Einführungspraktika ins Berufsleben). Mit dieser Arbeitsform kann der Unternehmer unter dem Vorwand der Ausbildung, sechs Monate lang über jugendliche Arbeiter verfügen. Den 16-18jährigen muß er 775 Francs bezahlen, den 18-25jährigen 1230 Francs. Bei CES (contrat emploi solidariat) bekommt der Unternehmer bei der Einstellung von jugendlichen Arbeitslosen einen Zuschuß, bei CRE (contrat de retour) wird die Einstellung von von Langzeitarbeitslosen subventioniert.

[2] Offizielle Stelle, die Leuten helfen soll, über das Arbeitsamt Arbeit zu finden und/oder Unternehmer davon zu überzeugen sucht, in der Gegend mit Hilfe von öffentlichen Subventionen zu investieren. Anm.d.Ü.

[3] Es ist auch gut möglich, daß die aus den USA herübergeschwappte Welle von Rauchverboten nicht so sehr von der Sorge um die Volksgesundheit oder die durch Tabak verursachten Krankheitskosten motiviert ist, sondern durch die geschätzten 6 Prozent Arbeitszeit, die dabei verloren gehen, daß »man sich eine dreht«.

[4] Nach Angaben des nationalen Amts für Statistik- und Wirtschaftsforschung [INSEE] dauert die durchschnittliche Arbeitswoche der Lohnabhängigen real 41 Stunden 5 Minuten.

[5] Das Gesetz Robien von 1997 wurde bei Linken und Rechten als Wundermittel zur Vermeidung von Entlassungen (»defensive« Variante) oder sogar zur Schaffung von Arbeitsplätzen (»offensive« Variante) präsentiert: es sah eine Verkürzung der Arbeitszeit im Austausch gegen drastische Verringerungen der Sozialabgaben für die Unternehmer (bis zu 50 Prozent) vor. In zahlreichen Unternehmen wurden entsprechende Verträge unterzeichnet, die bei den Arbeitern die Illusion weckten, ab jetzt vor Entlassungen geschützt zu sein. Aber die ersten Illusionen wurden schnell zerstört. Wie z.B. bei der Firma in Nîmes, das die Strumpfhosen der Marke Well produziert: dort kündigte der Unternehmer genau ein Jahr, nachdem die Gewerkschaften einen Vertrag zur Erhaltung der 776 Arbeitsplätze unterschrieben hatten, den Abbau eines Drittels der Arbeitsplätze an. Grund: Die vorgesehene Produktion läßt sich auf dem Markt nicht absetzen (60 statt 100 Mio. Strumpfhosen). Ein grausamer Anlaß, um daran zu erinnern, daß die Schaffung von Arbeitsplätzen von der Akkumulationsrate und der entsprechenden Ausweitung des Marktes abhängt, und daß alle noch so durchdachten Berechnungen (Arbeitszeitverkürzung, Verminderung der Belastungen für die Unternehmer) in Krisenzeiten nichts bewirken - außer daß sich der Unternehmer Milliarden Francs vom Staat in Tasche stecken kann.

[6] Der Unternehmerverband der Zuckerfabrikanten Frankreichs hat soeben seine Entscheidung angekündigt, den Rahmentarifvertrag für die 12 000 Beschäftigten dieser Branche neuzuverhandeln. In der Zeitschrift Libération vom 6. März diesen Jahres erläutert ein führender Vertreter dieser Vereinigung den Grund: »Wir waren zur Kündigung gezwungen. Wir sind eine der wenigen Branchen, die einen Rahmenvertrag hat, der die Arbeitszeit festlegt.« Ausnahmsweise lohnt es sich hier, den Kommentar des Journalisten zu zitieren: »Adieu Urlaubstage, Betriebszugehörigkeitsregelungen, Überstundenausgleich und andere errungene Vorteile, die es in dieser gesunden und als Kartell organisierten Branche noch gibt, welche nur aus zwei großen Gruppen besteht: Eridania-Beghin Say, in deren Geschäftsführung ein gewisser Ernest-Antoine Seillière sitzt, und Générale sucrière Saint-Louis. Im Ausgleich für die 35-Stunden-Woche möchte die Unternehmerseite die Jahresarbeitszeit einführen, was es möglich macht, die Beschäftigten in der Hauptsaison 46 Stunden ohne Überstundenbezahlung arbeiten zu lassen und in der übrigen Zeit des Jahres 32 Stunden. Das französische Rahmentarifsystem wird wohl von der 'Konfektionskleidung' zum 'Maßanzug' übergehen.«

[7] Es versteht sich, daß diese Fortschritte nie endgültig sind und sich ungleichzeitig in verschiedenen Ländern durchsetzen. So wird die Zahl der Kinder, die heute in den Tretmühlen des Kapitals arbeiten, auf 250 Millionen geschätzt und nimmt auch in den Ländern des entwickelten Kapitalismus zu. Im Namen der Gleichheitberechtigung wurde 1988 in der Industrie die Frauennachtarbeit wiedereingeführt; große Teile des Proletariats arbeiten täglich 10 Stunden.

[8] Es handelt sich um ein kleines unverlangtes Geschenk an die Gewerkschaft. So sieht das Gesetz die Entlohnung der Beschäftigten vor, die zur Aushandlung des Übergangs zur 35-Stunden-Woche bevollmächtigt oder damit beauftragt sind, die Anwendung der Vereinbarung in den Ad-hoc-Komitees zu beaufsichtigen.

[9] Besonders der Fall der Kassiererinnen der großen Handelsketten, deren Arbeitstag - häufig Teilzeitarbeit - vollständig zerstückelt und diskontinuierlich ist. Ihre Arbeitzeit hat Unterbrechungen von drei Stunden (sie arbeiten von 10 bis 13 Uhr und dann wieder von 16 bis 20 Uhr), in denen sie nicht nach Hause gehen können. Angesichts einer durchschnittlichen Fahrtzeit zur Arbeit von zwei Stunden in den großen Ballungszentren, bedeutet dies, daß das Kapital in den großen Handelsketten den Teilzeitarbeitstag von 12 Stunden erfunden hat.
Zu den katastrophalen Arbeitsbedingungen der »Proletarier« im Handel und bei den großen Handelsketten siehe das Buch Aux Carrefours de l'exploitation von Grégoire Philonenko, hrsg. von Desclée de Brouwer, 1998.

[10] Dabei ist zu beachten, daß die Bilanz des Schindlerkonzerns im Jahr 1998 eine Nettogewinnsteigerung von 71,5 Prozent auf 153 Mio. Euro auswies gegenüber 89 Mio. Euro in 1997. Der Umsatz von Schindler ist 1998 um 6,3 Prozent auf 4,12 Mrd. Euro gestiegen, gegenüber 3,88 Mrd. Euro in 1997.


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