Wildcat-Zirkular Nr. 52/53 - Juli 1999 - S. 6-14 [z52klass.htm]


[Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt] Zirkular: [Nr. 52/53] [Ausgaben] [Artikel]

Krieg, »Dritter Weg«, neue Klassenverhältnisse

In der öffentlichen Meinung wurde sehr schnell ein Zusammenhang hergestellt zwischen der Beteiligung der rosa-grünen Regierung an einem Angriffskrieg und der Entschlossenheit, mit der sie nun einen radikalen Umbau des Sozialstaats durchpeitschen will. [1] Und tatsächlich fallen deutliche Parallelen im Regierungshandeln ins Auge. Dem allzu leicht vollzogenen »Tabubruch« des Kriegs »von deutschem Boden aus« folgte prompt der sozialdemokratische »Tabubruch« - ideologisch mit dem Blair/Schröder-Papier, praktisch mit der Einleitung eines harten Sparkurses vor allem gegen die Töpfe des Sozialstaats.

Mit dem zweiten Teil des Balanceaktes dürften die Grünen weniger Schwierigkeiten haben, sie profilieren sich schon lange an der Seite von Modernisierern wie Hombach als grüne Mittelstandspartei. Die Sozialdemokratie hingegen muß mit dem »Dritten Weg« ein ganzes Stück ihrer bisherigen Identität und ihrer Anbindung an das gewerkschaftliche Milieu über Bord werfen. Aber als Regierungspartei hat sie kaum Alternativen, so wie ihre Beteiligung am Krieg keine freie Entscheidung oder deutsche Bösartigkeit war. Dabei geht es nicht um die Frage, ob wir die rührende Anekdote Fischers über die 15 Minuten, die man ihnen in Washington zur Entscheidung für oder gegen den Krieg gelassen habe, glauben sollten. Die letztendlich gemeinsame Entscheidung der NATO-Länder für Krieg ist vor dem Hintergrund der langfristig krisenhaften Entwicklung des globalen Kapitals zu sehen. Das verzweifelte Wegbomben sämtlicher Widerstände und Blockaden der Kapitalverwertung tritt nach Außen als militärischer Terror auf und macht sich nach Innen als Durchmarsch zur Mobilisierung von Arbeitskraft geltend. Denn darum geht es bei allen Sparmaßnahmen und Umbauplänen - und bei den neuen Projektionen für eine zunehmende Einwanderung in die BRD. Es geht nicht um irgendeine fiktive »Obergrenze« von Staatsverschuldung, sondern um die Frage, wieviel Arbeit vom Kapital zu welchem Preis eingesaugt werden kann.

Es war schon immer die Aufgabe des Sozialstaats, die Mobilisierung von Arbeitskraft für die Ausbeutung abzusichern. Aber der Sozialstaat kann nur flankierend wirken, entschieden wird die Frage dort, wo das Herauspumpen der lebendigen Arbeit stattfindet: an den neuen und alten Orten der Ausbeutung. Dort sucht das Kapital nach Lösungen für seine Krise und dort entscheidet sich letztendlich die Frage, ob dieses barbarische Produktionsverhältnis samt seiner Kriege weiterexistieren wird oder nicht.

Der Pazifismus, der sich nach einem friedlichen Kapitalismus sehnt, toleriert die Ausbeutung und die Erniedrigung der Menschen durch Arbeit genauso, wie die Illusionen in den Sozialstaat von der Ausbeutung absehen. Politische Perspektiven, die sich nicht an der Aufrechterhaltung der alltäglichen Grausamkeiten beteiligen wollen, müssen daher jenseits von Friedensbewegung, Märschen gegen die Arbeitslosigkeit oder Kampagnen für ein Existenzgeld ausloten, wo die Sprengsätze in den neuen Klassenverhältnissen liegen.

  1. Militärische Siegerpose und Entschlossenheit zur sozialen Radikalkur
  2. Die ungelöste Krise der Verwertung
  3. Sozialstaatsumbau: Mobilisierung von Arbeitskraft
  4. Perspektiven: Weder Pazifismus, noch Sozialstaatsillusionen!

1. Militärische Siegerpose und Entschlossenheit zur sozialen Radikalkur

Seitdem sie an der Regierung ist, hantiert die rosa-grüne Regierung mit einer Mischung von sozialpolitischem Tabubruch und Konsensstiftung. 1998 schockte Oskar Lafontaine auf einem Gewerkschaftstag seine ZuhörerInnen mit dem Vorschlag, die Arbeitslosenversicherung in eine steuerfinanzierte Grundsicherung - sprich Sozialhilfe - umzuwandeln. Gleichzeitig wurden Gewerkschaften und Unternehmer im Bündnis für Arbeit zusammengeholt, um den Umbau des Sozialstaats »im Konsens« zu organisieren. In den ersten Tarifabschlüssen nach dem Regierungswechsel wurden etwas höhere Lohnsteigerungen vereinbart als in den letzten Jahren üblich. Die Unternehmer murrten, aber schon damals erklärten Gewerkschaftschefs wie Zwickel die längerfristige Strategie: man habe den Arbeitern zeigen müssen, daß auch sie was von den neuen politischen Verhältnissen haben, bevor man im Rahmen der Bündnisgespräche soziale Einschnitte verhandeln könne. Denselben Charakter haben die »Korrekturen« der von der Kohl-Regierung vorgenommenen Gesetzesänderung bei der Lohnfortzahlung, beim Kündigungsschutz oder beim Arbeitslosengeld. Sie sollen unterstreichen, daß mit dem Regierungswechsel tatsächlich ein Politikwechsel stattfindet, ohne die tiefsten Einschnitte rückgängig zu machen. So wird die ohnehin unnütze dreimonatige Meldepflicht für Arbeitslose aufgehoben, die jährliche dreiprozentige Absenkung der Arbeitslosenhilfe aber beibehalten.

Aber die neue Regierung steckt in dem Dilemma, einerseits in Abgrenzung zur Kohl-Regierung eine Rückkehr zum traditionellen Sozialstaat zu propagieren, andererseits zur Ankurbelung der Wirtschaft auf einen radikalen Umbau des Sozialstaats zu setzten. Am deutlichsten ist dies an den Reformgesetzen für die geringfügige und scheinselbständige Beschäftigung geworden. Zunächst wurden vollmundige Reformversprechen unter dem Druck der Wirtschaft kleingekocht, dann wurde ein bürokratisches Regelwerk verabschiedet, von dem absehbar war, daß es von der unternehmerischen Kritik an der sozialstaatlich abgesicherten Beschäftigung öffentlich zerpflückt werden konnte. Sozialdemokratischen und grünen »Modernisierern« mag das ganz recht gewesen sein, weil sie mit dieser Kritik im Rücken um so heftiger ihre für umfassenderen Pläne für einen Umbau des Sozialstaats und die staatliche Förderung von Billiglohnarbeit werben konnten. Vor dem Krieg war die Regierung allerdings an dieser Front festgefahren.

Wir wollen nicht behaupten, daß sich die Entscheidung zum Krieg in erster Linie aus einer »Flucht nach Außen« aus der festgefahrenen innenpolitischen Situation erklären läßt. Aber das Schröder-Regime hat von Anfang an versucht, die Kriegsbeteiligung und die Niederhaltung jeglicher Opposition gegen den Krieg innerhalb der Partei oder der Gewerkschaften auch für einen Durchbruch an der sozialpolitischen Front nutzbar zu machen. Als der »Spiegel« Anfang Mai das Papier der Benchmarking-Arbeitsgruppe innerhalb des Bündnis für Arbeit zur Förderung eines Niedriglohnsektors veröffentlichte und daraus eine Titelstory »Radikalkur gegen die Arbeitslosigkeit« machte, war dies keine journalistische Laune, sondern ein gezielter Affront gegen die Gewerkschafter im Bündnis. Das Strategiepapier war dem »Spiegel« zugespielt worden, bevor die Gewerkschafter es zu sehen bekommen hatten. Schröder/Hombach signalisierten damit, daß sie nicht länger bereit sind, ihre Pläne in ständigen Diskussion zerfleddern zu lassen.

Ein paar Tage nach dem proklamierten »Ende« des Kriegs gegen Jugoslawien stellten Blair und Schröder in London ein Papier zu den zukünftigen Positionen der Sozialdemokratie vor, das bewußt einen reinigenden Schockeffekt bei der eigenen Partei und den Gewerkschaften hervorrufen sollte. Dem Angriffskrieg soll der Angriff auf die Rigiditäten in der Arbeiterklasse folgen. Die Kernthesen des Papiers besagen:

Innenpolitisch hat das Papier seine Schockwirkung nicht verfehlt. Es hagelte sofort kritische Einwände und Warnungen, die sozialdemokratische Identität nicht völlig aufzugeben. Von Schröder und den Grünen - die das Papier sofort als richtiges Signal zur richtigen Zeit begrüßten - ist dieser Streit einkalkuliert. Mit ihm soll die neue Linie mit öffentlich zelebrierten Bauchschmerzen als Grundlage des weiteren Regierungshandelns durchgesetzt werden, so wie es die Grünen in der Frage des Krieges auf ihrem Bielefelder Parteitag vorgeführt haben. Bei dem 30-Milliarden-Sparpaket von Finanzminister Eichel bleibt noch offen, inwieweit es der erste praktische Einstieg in die Umsetzung der neuen Strategie des »Dritten Weges« ist. Die SPD-Linke, die sich den Erfordernissen der Haushaltssanierung nicht verschließt, möchte eben diesen Eindruck vermeiden. Umso mehr geht es Schröder und den Grünen darum, die Spardiktate in den Zusammenhang eines generellen Strategiewechsels zu stellen. Die einzelnen Einsparungen für sich betrachtet ergeben noch keinen generellen Strategiewechsel im Vergleich zu bisherigen sozialpolitischen Einsparmaßnahmen. Aber zum einen werden sie in Zusammenhang mit einem radikalen Umbau gestellt, wie die allmähliche Ablösung der staatlichen Umlagerente hin zu einer stärker privat finanzierten und kapitalgedeckten Rente oder die geplante Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Zum anderen versuchen sich Eichel und Schröder von der bisherigen Verhandlungslogik gegenüber den Verbänden frei zu machen, wie es der Kanzler gerade den Bauern gegenüber demonstriert hat. Denn alle Strategien für einen Umbau des Sozialstaats, die auf einen Konsens der verschiedenen Interessenvertretungen auf der politischen Bühne aufbauen, finden heute in der anhaltenden Stagnation der Kapitalverwertung eine definitive Grenze.

2. Die ungelöste Krise der Verwertung

Hinter den oberflächlichen Parallelen zwischen der Entscheidung zum Krieg und der Entschlossenheit zur sozialpolitischen Radikalkur steckt ein tieferer Grund, der beide Strategien verbindet. Seit dem Ende des Nachkriegsbooms Mitte der 70er Jahre sind die Zuwachsraten von Sozialprodukt und Investitionen mit jedem weiteren Kriseneinbruch immer weiter zurückgegangen. Die anfänglichen Hoffnungen auf einen neuen Boom mit dem weltweiten »Sieg des Kapitalismus« 1989/91 haben sich spätestens 1997 zerschlagen, als sich die tiefe Krise der Träger einer neuen Entwicklungshoffnung in Südostasien in einem beispiellosen Crash der Finanzmärkte Bahn brach und sich kurz darauf die krisenhaften Entwicklungen auch in Brasilien und Rußland zeigten. An die Stelle der Hoffnung auf eine rasche »Transformation« der ehemals sozialistischen Staaten zu einer blühenden kapitalistischen Ökonomie ist das Gespenst der Rückkehr von Deflation und Depression getreten. Die Entscheidung für Krieg ist sowenig eine glaubwürdige »Lösung« dieser Stagnation wie der radikale Umbau des Sozialstaats. Aber beide sind verzweifelte Versuche, aus der globalen Stagnation herauszukommen, d.h. immer radikaler und aggressiver gegen alles vorzugehen, was der Kapitalverwertung im Wege stehen könnte.

In der Theorie knüpft das Modell des Dritten Weges daran an, daß »Arbeit« und Beschäftigung als Grundlage für eine Interessensidentität zwischen Kapital und Arbeiterklasse dienen können. Wenn mehr gearbeitet wird, steigt das Lohnvolumen der Arbeiterklasse und gleichzeitig können die Profite steigen. In Zeiten des Bomms konnte die Sozialdemokratie daraus die Legitimation ihrer Reformperspektiven beziehen. Lohn und Profit sollten ihre Gegensätzlichkeit verlieren und gleichermaßen wachsen können. Mit dem »Dritten Weg« will die Sozialdemokratie daran anknüpfen und sich als Alternative zur neoliberalen Ideologie empfehlen, die vor allem die Gegensätzlichkeit betonte: Löhne runter, damit die Profite wieder steigen.

Unter den Bedingungen der Stagnation ist das aber nicht als Konsensstrategie machbar, weil sich die Reihenfolge der Maßnahmen umkehrt: es entstehen nicht erst neue Arbeitsplätze, für die dann durch Reformen bessere Bedingungen geschaffen werden, sondern es müssen zunächst Bedingungen geändert werden - in der Hoffnung, dann zu mehr Arbeitsplätzen zu kommen. Die Sozialdemokratie landet damit bei derselben Gegensätzlichkeit von Lohn und Profit wie die neoliberale Ideologie und kann nur auf zwei Unterscheidungsmerkmale verweisen: erstens will sie die für das Kapital notwendigen Lohnsenkungen mit Einkommenssubventionen für die ArbeiterInnen abfedern, und zweitens will sie mit umfassenderen workfare-Programmen den direkten Druck in die Arbeit verstärken, woran Kohl oder Thatcher gescheitert waren.

Insgesamt läuft das darauf hinaus, daß sie sich zwar um einen Konsens und um die Einbindung der Gewerkschaften bemühen wird, daß sie aber genauso den politischen Willen und die Entschlossenheit zu sozialpolitischen »Grausamkeiten« aufbringen muß. Ob sie damit durchkommt, wird sich weniger am aktuellen Gemoser von Verbänden und Gewerkschaften entscheiden, sondern daran, ob es ihr gelingen wird, über sozialpolitische Reformen die Mobilisierung von Arbeitskraft für die kapitalistische Verwertung auszuweiten. Im Schröder-Blair-Papier heißt es: »Das System der Steuern und Sozialleistungen muß sicherstellen, daß es im Interesse der Menschen liegt, zu arbeiten.« Das »Interesse« der Menschen zu arbeiten beruht in erster Linie auf ihrer Eigentumslosigkeit und ihrer Enteignung von allen kollektiven Lebensmöglichkeiten im Kapitalismus, was ihnen als vereinzelte Arbeitskraft keine andere Wahl läßt, als für Lohn zu arbeiten. Der Sozialstaat ist Teil dieser Enteignung, aber es ist eine klassenpolitische Frage, ob und wie weit diese Trennung der vergesellschafteten Individuen von der eigenen produktiven Macht gelingt.

3. Umbau des Sozialstaats zur Mobilisierung von Arbeitskraft

Die OECD - der wirtschaftspolitische Think Tank der westlichen Industriestaaten - hat 1994 in einer »Job Study« die Rigiditäten der europäischen Arbeitsmärkte kritisiert und sie für die hohe strukturelle Arbeitslosigkeit in diesen Ländern verantwortlich gemacht. Verbunden damit war eine detaillierte Liste von Empfehlungen, was in den einzelnen Ländern geändert werden müsse. Dieses Jahr hat der IWF in seinem jährlichen Bericht über die weltweite wirtschaftliche Entwicklung dem Thema ein eigenes Kapitel gewidmet und fordert die zügige Umsetzung der OECD-Vorschläge. Dabei zählt er Deutschland und Frankreich zu den Ländern, die bisher kaum Fortschritte beim Abbau der »Verkrustungen« auf den Arbeitsmärkten gemacht haben und daher immer noch unter hoher Arbeitslosigkeit leiden.

Dabei geht es um die »Unterauslastung« eines zentralen Produktionsfaktors, der Arbeit. Wichtiger als offizielle Arbeitslosenzahlen ist für den IWF der Anteil an der erwerbsfähigen Bevölkerung der nicht arbeitet - und dieser sei in der BRD einfach zu hoch (36,5 Prozent gegenüber 26,5 Prozent in den USA oder 21,9 Prozent in der Schweiz). Für die Profitrate ist unter den Bedingungen des sozialstaatlich regulierten Arbeitsmarktes nicht allein der individuelle Lohn entscheidend, sondern die Frage, wieviel des gesellschaftlichen Gesamtprodukts für das »Durchfüttern« der gesamten Arbeiterklasse - einschließlich Rentnern, Schulkindern, Hausfrauen usw. - aufgewandt werden muß. Wieviel kostet die Reproduktion der Arbeiterklasse und wieviel lebendige Arbeit läßt sich aus ihr herauspumpen? Sozialstaatliche Leistungen wie Arbeitslosengeld sind laut IWF durchaus produktiv, wenn sie die Anpassungsbereitschaft und Flexibilität der Arbeitskräfte erhöhen. Sie werden aber unproduktiv, wenn sie Nichtarbeit zu einer gesellschaftlichen Option machen. Dann stellen sie »Störungen« auf den Arbeitsmärkten dar, die durch »Strukturreformen« beseitigt werden müssen.

Der IWF weist in dem Zusammenhang darauf hin, daß es bei solchen Strukturreformen darauf ankommt, sie schlagartig und umfassend umzusetzen, weil es sonst immer wieder zu Anpassungsprozessen im Klassenverhalten kommt, d.h. einzelne Kürzungen oder Verschlechterungen führen dazu, daß die ArbeiterInnen auf andere Leistungen ausweichen. In Deutschland hat z.B. die Erleichterung von befristeten Arbeitsverhältnisse nicht nur als Disziplinierung gewirkt, sondern auch dazu geführt, daß es normaler wurde, anschließend Arbeitslosengeld zu beziehen. Die Notwendigkeit einer »Radikalkur«, wie sie die Schröder-Berater im Bündnis für Arbeit fordern, ergibt sich also nicht aus einer fiktiven Schallmauer in der Staatsverschuldung, sondern aus dem Zusammenhang zwischen sozialstaatlichen Regelungen und Klassenverhalten.

»Viele der Störungen des Arbeitsmarkts, die zu hohen Raten von struktureller Arbeitslosigkeit führen, stehen in Wechselwirkung zueinander. Daraus ergibt sich umgekehrt, daß auch die Strukturreformen, die auf eine Beseitigung dieser Störungen zielen, sich komplementär zueinander verhalten, d.h. sich gegenseitig verstärken können. Das könnte der Grund dafür sein, daß viele der geringfügigen oder allmählichen Reformen, die in den 90er Jahren in Europa durchgeführt wurden, nur einen geringen Einfluß auf die gesamte Arbeitslosigkeit hatten, während eine deutliche Senkung der strukturellen Arbeitslosigkeit nur in den Ländern erreicht werden konnte, wo Arbeitsmarktreformen sowohl radikal wie umfassend durchgeführt wurden.« [2]

Die Dramatik der Frage von Arbeitskraftmobilisierung geht allerdings in mittelfristiger Perspektive weit über das Problem der inländischen Erwerbsbeteiligung hinaus. Industrieländer wie die Bundesrepublik stehen vor dem Problem einer stagnierenden oder rückläufigen Bevölkerungsentwicklung und zunehmenden »Überalterung«, das sich in den nächsten Jahren zuspitzen wird. Nach den Prognosen der Arbeitsmarktforscher wird das Erwerbspersonenpotential ab 2010 stark zurückgehen - und zwar selbst dann, wenn die Erwerbsquote der Frauen auf ein unwahrscheinlich hohes Maß weiter ansteigt. [3] Ohne Zuwanderung würde das Erwerbspersonenpotential von 1996 ca. 41 Millionen Arbeitskräften bis 2040 auf ca. 26 Millionen zurückgehen. Um die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte annähernd stabil zu halten, wäre laut IAB-Studie eine jährliche Einwanderung von einer halben Million Menschen erforderlich.

Die Mobilisierung von Arbeitskraft war in der Geschichte des Kapitalismus nie eine nationale Frage, sondern stets aufs engste mit Migrationsbewegungen verknüpft. Die genannten Prognosen zeigen, welche Dramatik die Frage der Migration und der kontrollierten Einwanderung in den nächsten Jahren bekommen wird. Vor dem Hintergrund müssen die mit dem Krieg gegen Jugoslawien forcierten Instrumente des internationalen Flüchtlingsmanagements genauer bewertet werden.

Bei der Einwanderung geht es nicht allein um die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte, sondern auch um ihre Zusammensetzung und ihre Kosten. Die Einwanderung von Arbeitskraft aus dem Ausland ist für die Kapitalverwertung so günstig, weil die Reproduktion, Erziehung und soziale Absicherung dieses Teils der Arbeiterklasse für das Kapital zunächst viel geringere Kosten verursacht. Der Sozialstaat fungiert dabei als eine der materiell wirksamsten Spaltungslinien im Proletariat. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist die Verteidigung des Sozialstaats alles andere als Ansatzpunkt einer antikapitalistischen Strategie.

4. Perspektiven: Keine Illusionen in einen friedlichen oder sozialen Kapitalismus

Der moderne Sozialstaat hat sich von Anfang an im Kontext einer nationalstaatlichen Einbindung und Kontrolle der Arbeiterklasse herausgebildet. An die Stelle eigener Kampf- und Reproduktionsfonds der Arbeiterbewegung setzte er eine nationalstaatliche Absicherung der als Staatsbürger definierten Mitglieder der Arbeiterklasse und verband dies mit der bürokratischen Überwachung ihres Lebenswegs. Es ist daher auch kein Zufall, daß ausgerechnet der Erste Weltkrieg zum »großen Schrittmacher« der Sozialpolitik wurde, weil er die Organisationen der Arbeiterbewegung in den nationalen Staat und in die Verwaltung der Arbeitskraft einbezog. Der Krieg macht eine Mobilisierung und Kontrolle von Arbeitskraft in völlig neuer Dimension erforderlich, eine regelrechte »Menschenökonomie« für Krieg und Kriegsproduktion. Im Gegenzug zur Gewährung der langersehnten politischen Anerkennung und zur Einführung erster Mitbestimmungsorgane im »Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst« von 1916 beteiligten sich die Gewerkschaften daran, umfassende Arbeitsnachweise einzuführen - die Vorläufer der heutigen Arbeitsamtsbürokratie. Genauso bereitwillig übernahmen sie die Verantwortung für die Unterdrückung des Klassenkampfs. Die durch den Krieg erforderlich gewordene Wirtschaftsplanung und ihre Beteiligung daran sahen sie als Einstieg in den »Staatssozialismus«.

Seit es ihn gibt hat der Sozialstaat nicht nur die Arbeiterbewegung in den Staat eingebunden, er hat auch immer wieder große Teile einer antikapitalistischen Linken auf den Staat orientiert. In den aktuellen Kampagnen für ein »soziales Europa« drückt sich diese Staatsfixiertheit nur in neuer, eben europäischer statt nationalstaatlicher Form aus. Geradezu lächerlich ist der Versuch, diese Kampagnen für den sozialen Staat mit einer konsequenten Haltung gegen den Krieg zu verbinden. Das »soziale Europa« ist nur die Flankierung einer europäischen Staatsbildung, die nach außen zwangsläufig als kriegsführendes Europa zur Sicherung der kapitalistischen Ordnung auftritt. Der Krieg gegen Jugoslawien ist in dieser Entwicklungsperspektive nur ein erster Schritt gewesen. Der Pazifismus des »sozialen Europa« und die Illusion in den Sozialstaat rechtfertigen gleichermaßen eine staatlich organisierte kapitalistische Ordnung, die nur bitte schön friedlich und ohne allzu großes Elend für die Proletarier daherkommen soll. Vom Klassencharakter dieser Form von Gesellschaft wird in beiden Fällen abgesehen.

Eine Perspektive sowohl gegen den Krieg wie gegen die neuen Versuche zur Ausweitung des Kapitalkommandos über unser Leben können wir nur gewinnen, wenn wir die explosiven Widersprüche in den sich verändernden Klassenverhältnissen in den Mittelpunkt stellen - von unten, ohne jeden Bezug auf den Staat und von vornherein über alle nationalen Begrenzungen hinaus! Dazu gehört auch, daß wir jede »Repräsentation« von proletarischen Bedürfnissen ablehnen, wie sie von den Inszenierern einer »Arbeitslosenbewegung« in Frankreich oder Deutschland versucht wird. Aus solchen Versuchen zur Repräsentation von Schichten, die aus den Vertretungsmechanismen der Gewerkschaften herausfallen, entwickelt sich höchstens eine neue Schicht von Vermittlern, die im Bedarfsfall vom Staat zur Kontrolle und Eindämmung wirklicher Kampfbewegungen herangezogen werden können. Der Krieg hat noch einmal deutlich gezeigt, wie wichtig es ist, mit allen diesen Versuchen von Vermittlung zum Staat zu brechen und eine klare Trennungslinie zu ihnen zu ziehen. Wir können nicht gegen den Krieg mit einer pazifistischen Haltung auftreten, ohne radikal die Tatsache zu betonen, daß der Kapitalismus die systematische Unfriedlichkeit zwischen der Arbeiterklasse und Staat/Kapital ist.


Fußnoten:

[1] Beispielhaft sind Ermahnungen wie diese: »Nachdem Kosovo monatelang auch die Schwächen der rot-grünen Koalition überlagert hatte, zeigt sich in Vorgehen und Inhalt jetzt der untrennbare Zusammenhang der beiden großen Themen in der beginnenden Nachkriegsphase. Deutschlands Rolle in Europa verändert sich, wird aktiver und ist doch längst noch nicht austariert oder gar verarbeitet. Gleichzeitig wird nach innen die Klärung der Reformziele unausweichlich für Regierungsparteien, die von der politischen Linken her kommen.« (FR, 12.6.99 »Die Umwertung der Werte« von Richard Meng) »Was der Kriegseinsatz der Deutschen im Kosovokonflikt zweifellos gebracht hat, ist ein Stilwechsel in der Performanz des politischen Führungspersonals. Es ist ein Wechsel vom Spaß an der Politik zum Ernst der politischen Verantwortung. Daran könnte man in Friedenszeiten anknüpfen, um von der Gesellschaft der Individuen das zu verlangen, was für die Zukunft des Landes nötig ist. Denn es scheint in der Wirtschafts- und Sozialpolitik die Zeit gekommen zu sein, da nicht nur vieles anders, sondern alles besser gemacht werden muß.« (SZ, 14.6.99 »Nach dem Krieg. Die neue Politikergeneration hat sich verändert« von Heinz Bude).

[2] Aus dem Sonderkapitel des »World Economic Outlook« 1999 des IWF »Chronic Unemployment in the Euro Area: Causes and Cures«.

[3] Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, IAB-Kurzbericht Nr. 4/1999 v. 20.5.99. Das Erwerbspersonenpotential setzt sich zusammen aus den Erwerbstätigen, den registrierten Arbeitslosen und der Stillen Reserve (d.h. den nicht als arbeitslos registrierten, aber arbeitsuchenden Personen).


[Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt] Zirkular: [Nr. 52/53] [Ausgaben] [Artikel]