Wildcat-Zirkular Nr. 50/51 - Mai/Juni 1999 - S. 19-33 [z50jugos.htm]


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Auch das jugoslawische Regime hatte Gründe für den Krieg

Die jugoslawische Regierung präsentiert sich als Opfer der NATO-Aggression. Bei nüchterner Betrachtung stellt sich aber die Frage: Warum hat sie sich in Rambouillet für die Bombenangriffe entschieden, statt vor dem NATO-Diktat zu kapitulieren wie alle anderen Balkanstaaten auch? Und warum bleibt sie auch nach über zwei Monaten verheerender Bombardements dabei?

Abgesehen von geopolitischen Überlegungen steht hinter dem Krieg vor allem ein Konflikt um die Organisation der Ausbeutung in Jugoslawien. Seit die Regimes in Osteuropa vor 10 Jahren vor dem offenen und verdeckten Widerstand der ArbeiterInnen kapitulierten und sich mit fliegenden Fahnen dem Westen ergaben, sind dort große Teile der Industrie stillgelegt worden, das bisherige soziale Sicherungssystem zerstört und verschiedene Versuche unternommen worden, Ausbeutung nach westlichem Muster zu organisieren. Dieser Prozeß ist in den einzelnen Ländern unterschiedlich weit fortgeschritten.

Die Besonderheit Jugoslawiens war zum einen der extrem blutige Verlauf dieser »Transformation«, der jetzt in den NATO-Bombardements gipfelt. Zum anderen hat das Regime Restjugoslawiens aus Sicht des Westens versagt und stellt sich als »reformfeindlich« dar. Statt die Privatisierung der Wirtschaft und die Zerschlagung der Großbetriebe durchzusetzen, ging es immer wieder vor den Protesten der ArbeiterInnen in die Knie. Aus Sicht des Westens mußte diese Art von Politik bestraft werden.

Trotzdem ist der Eindruck falsch, daß das jugoslawische Regime in Rambouillet hart blieb, um mit der nationalen Souveränität eine eigenständige Wirtschaftspolitik durchzusetzen. Das Regime hat keine zum westlichen Modell alternative wirtschaftspolitische Vision - Milosevic selbst war Ende der 80er Jahre einer der Vordenker der jugoslawischen Privatisierungspolitik gewesen. Das Regime hat immer Reformen gewollt und in den letzten zehn Jahren auch mehrere Anläufe gemacht, die aber alle erfolglos steckenblieben.

Die Situation der letzten Jahre stellte sich als umfassende Blockade dar. Obwohl die Großbetriebe seit Jahren rechnerisch bankrott waren und die Produktion auf weniger als die Hälfte des Niveaus von 1989 gefallen war, wurde fast niemand entlassen. Statt mit radikalen Reformen einen neuen produktiven Zyklus in Gang zu setzen, hat die staatlich-betriebliche Managerklasse von der Substanz gelebt und mit den inoffiziellen Gold- und Devisenreserven des gesamtjugoslawischen Staats das Außenhandelsdefizit finanziert. Die ArbeiterInnen wiederum verbunkerten sich bei ständig sinkenden Einkommen in den Großbetrieben und den Resten des Sozialstaats, setzten aber dem Regime politisch nichts entgegen. Nach den Streikwellen 1987/88 trat die jugoslawische Arbeiterklasse nicht wieder als eigenständige politische Größe in Erscheinung. Trotz massenhafter Desertionen und wiederholter großer Jugendproteste konnte das Regime die Kriege in Kroatien, Bosnien und Kosovo zur nationalistischen Mobilisierung nutzen - und sich gleichzeitig in der Konkurrenz mit der politischen Opposition immer als »links« und arbeiterfreundlich darstellen.

Nach Einschätzung der Wirtschaftsexperten sind die inoffiziellen Finanzreserven Jugoslawiens inzwischen verbraucht. Jugoslawien stand zunehmend alternativlos vor der Aufgabe, die »Transformation« endlich anzugehen - ohne daß dies innenpolitisch leichter durchsetzbar gewesen wäre als in den Jahren zuvor.

In dieser Situation kann die »warme Sanierung« der schrottreifen Fabriken von außen, durch die NATO-Bomben, zur realistischen Option geworden sein. Ein solcher Weg ist extrem riskant, eröffnet aber die Möglichkeit, die Blockade zu durchbrechen: die alten Betriebe abzureißen und im Rahmen eines Wiederaufbauprogramms ganz neu anzufangen. Entscheidend wird für die herrschende Klasse Jugoslawiens sein, ob es ihr gelingt, sich unter den Bomben als einzige anti-imperialistische Kraft darzustellen und sich damit dem internationalen Kapital nach dem Krieg als einzige glaubwürdige Vermittlungs- und Kontrollinstanz über die jugoslawische Arbeiterklasse zu empfehlen.

Osteuropa: schwierige Transformation

Im Laufe der 80er Jahre wurde in den staatskapitalistischen Ökonomien Osteuropas immer deutlicher, daß sich auf den bisherigen Wegen keine verstärkte Ausbeutung mehr durchsetzen ließ - weder durch Steigerung der Arbeitsleistung noch durch Verarmung der ArbeiterInnen. Die Produktivitätsentwicklung stagnierte. Der Rüstungswettlauf stieß in diese Wunde - nur insofern macht das Schlagwort vom »Totrüsten« durch den Westen einen Sinn.

Die Regimes, die es mit den kämpferischsten ArbeiterInnen zu tun hatten - Polen und Jugoslawien -, nahmen schon in den 70er Jahren größere Kredite im Westen auf, um sich das nötige Kapital für einen produktivitätssteigernden großen technologischen Sprung zu holen und damit auch die Klassenzusammensetzung der 60er Jahre zu überwinden. Tatsächlich wurden die westlichen Kredite aber weitgehend in steigenden Arbeiterkonsum umgesetzt. Das Ergebnis war eine beträchtliche Auslandsverschuldung und gleichzeitig eine immer selbstbewußtere Arbeiterklasse.

Das Zentrum der ArbeiterInnenmacht waren wie im Westen die Großbetriebe. Und ähnlich wie im Westen, wo Kapitalisten und Wissenschaftler seit den 80er Jahren intensiv über »postfordistische« Umstrukturierungen diskutierten, wurde das Problem auch in Osteuropa in den Planungsstäben diskutiert. Diese Technokraten kamen zunehmend zu der Auffassung, daß grundlegende Veränderungen notwendig waren, die sich unter den Bedingungen des realsozialstischen Einparteienstaats nicht durchsetzen ließen. In der Sowjetunion waren die Technokraten die treibenden Kräfte hinter der Perestrojka, in Polen übergaben sie nach den für beide Seiten ergebnislosen Streiks in der Stahl- und Werftindustrie 1988 die Macht relativ umstandslos an den »runden Tisch«.

Nach 1990 gingen die neuen Regimes (in denen sich nationalistische Clowns aus der ehemaligen Opposition mit reformerischen Technokraten aus den alten Regimes abwechselten) umgehend an die Zerschlagung der Großbetriebe: Im gesamten Bereich des ehemaligen RGW ging die industrielle Produktion zwischen 1990 und 1995 drastisch zurück. Der konkrete Weg sah allerdings unterschiedlich aus. Während in der DDR innerhalb kurzer Zeit fast die gesamte alte Produktionsbasis stillgelegt und ein Großteil der ArbeiterInnen in die Auffang- und Recyclingprogramme des BRD-Sozialstaats kanalisiert wurde, sind z.B. in Weißrußland oder Jugoslawien noch fast alle alten Betriebe vorhanden. Allerdings haben diese - abgeschnitten von alten Zulieferstrukturen und Märkten - ihre Produktion stark zurückgefahren. Viele ArbeiterInnen wurden in Zwangsurlaub geschickt. Die allermeisten bekommen Löhne, von denen sie nicht leben können, und sind auf ihren Schrebergarten und/oder Nebenjob in der »Schattenwirtschaft« angewiesen.

Die ersehnten neuen Investoren aber lassen immer noch auf sich warten. Um Osteuropa als Produktionsstandort, d.h. seine Einbindung in die integrierten Produktionsketten Westeuropas interessant zu machen, müßten die osteuropäischen ArbeiterInnen bereit sein, in verkleinerten Firmen hart zu arbeiten und auf politische Streiks, Demos und Aufstände zu verzichten. Mehr noch: Damit massive Investitionen sich wirklich lohnen, müßten neue regionale produktive Klassenzusammensetzungen entstehen. Diese aber sind trotz einiger größerer Investitionen in den fortgeschrittensten »Reformstaaten« nicht in Sicht.

Die Investoren wollen »Sicherheit«. Damit ist letztlich gemeint, daß die nationalen Politiker nicht vor dem Klassendruck in die Knie gehen. Kaum ein westlicher Konzern war so mutig wie Fiat, die die Übernahme der alten Polski-Fiat-Werke im Sommer 1992 einweihten, indem sie einen 56tägigen harten Streik ohne jedes Zugeständnis niederschlugen - und damit durchkamen: Das gesamte Establishment stand geschlossen auf der Seite des Konzerns, und anders als 1980 blieben den ArbeiterInnen die Kirchentüren verschlossen. [1]

Aufstieg und Krise Jugoslawiens

Die aus dem antifaschistischen Partisanenkampf siegreich hervorgegangene Kommunistische Partei Jugoslawiens unter Tito hatte seit dem Bruch mit der Sowjetunion 1948 auf ökonomische Westanbindung bei gleichzeitiger Beibehaltung ihrer eigenen Rolle als staatskapitalistischer »roter Bourgeoisie« gesetzt. Schwerpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung war die Konsumgüterproduktion, v.a. für den Export. Etliche Zulieferbetriebe arbeiteten als verlängerte Werkbank für die BRD-Industrie. Institutioneller Rahmen war das Anfang der 50er Jahre eingeführte und Mitte der 60er Jahre ausgeweitete Selbstverwaltungsmodell, das einzelnen Betrieben die Möglichkeit gab, als profitorientierte Marktsubjekte direkt am internationalen Markt. aufzutreten. Die Selbstverwaltung der Republiken und Provinzen förderte die wirtschaftliche Konkurrenz zwischen diesen, was durch eine staatliche Umverteilungspolitik von reichen in arme Regionen ausgeglichen werden sollte. Die dabei entstehenden Konflikte drückten sich angesichts des ethnonational definierten Föderalismus zwangsläufig oft als »nationale« aus.

Ab 1968 gab es in Jugoslawien - wie auf der ganzen Welt - eine massive Welle von Streiks und Protesten. Auch die Belgrader Uni wurde unter der Parole »Nieder mit der roten Bourgeoisie!« besetzt. Die Republikführungen versuchten, teils mit Erfolg, diese Proteste nationalistisch zu kanalisieren. Die Bundesregierung reagierte widersprüchlich, einerseits mit einer Säuberungswelle 71/72 gegen »liberale« und nationalistische Funktionäre, andererseits mit verstärkter Kreditaufnahme im Westen, um die Ansprüche der ArbeiterInnen zu befrieden. Im Laufe der 70er Jahre stieg der Lebensstandard in den industrialisierten Regionen Jugoslawiens auf westeuropäisches Niveau.

Die neue Verfassung von 1974 verstärkte die Dezentralisierung - und die nationale Aufladung des institutionellen Konfliktmanagements: »Über jede Frage wurde zunächst innerhalb der Republik (Provinz) entschieden, und derart nationalisiert kehrte sie auf die Bundesebene zurück, wo dann eine 'Vereinbarung' erreicht wurde. Betrachtet man die Institutionen, konnte es keine anationalen Fragen mehr geben«[2]

Nach Titos Tod 1980 legte das Regime die in den Himmel gewachsene Staatsverschuldung offen und trat dem IWF bei. 1981 trat das erste IWF-Strukturanpassungsprogramm in Kraft, das Lohn- und Sozialkürzungen, die Freigabe der Verbraucherpreise und die Abwertung des Dinar vorsah. Erklärtes Ziel war die Steigerung der jugoslawischen Exporte auf Kosten des Binnenkonsums. Im Kosovo, einer der ärmsten und industriell rückständigsten Regionen Jugoslawiens, gingen die Proteste und Streiks gegen das IWF-Programm im März 1981 in Riots mit albanisch-nationalistischen Forderungen über. Der Ausnahmezustand wurde verhängt und die Riots brutal niedergeschlagen.

Die Angaben über den Erfolg der Strukturanpassungspolitik sind sehr widersprüchlich. Einerseits behauptete z.B. die New York Times im September 1984, daß der Lebensstandard seit 1980 um 40 Prozent gesunken sei. Andererseits gibt es Berichte über zahllose Kämpfe, v.a. in Form von innerbetrieblichen wilden Streiks. [3] Diese wiederum führten zu ständigen wilden Lohnerhöhungen. Da die Großbetriebe völlig mit den Banken verflochten waren, konnten mächtige Betriebsleitungen sich praktisch selbst Geld drucken, indem sie sich ein unbegrenztes Kreditlimit einräumten und damit die Forderungen der eigenen Belegschaft auf Kosten der Gesamtwirtschaft befriedigten.

Das führte sowohl zur Überschuldung vieler Betriebe und damit des Bankensystems als auch zu einer durch die Lohnerhöhungen ausgelösten Inflationsspirale. 1986 trat die Bundesregierung zurück, und die neue Regierung kündigte einen sechsmonatigen Lohnstopp und Preiserhöhungen an. Sie versprach allerdings auch, daß Löhne bei entsprechenden Produktivitätserhöhungen überproportional steigen könnten, und legte damit die Basis für Spaltungen zwischen rentablen und unrentablen Belegschaften.

Trotz Abwertung des Dinar, einer Arbeitslosigkeit von 1,2 Millionen und 130 Prozent Inflation stiegen die Reallöhne aber weiter, und die Staatsgewerkschaften behaupteten: »Die Arbeiter fressen die Ausrüstung und die Maschinen auf.«

Massenstreiks und Nationalismus

Im Februar 1987 wurde ein Gesetz verabschiedet, das Lohnkürzungen und die Zurückzahlung zuviel gezahlter Löhne vorsah. Daraufhin kam es zu einer Welle wilder Streiks v.a. in Zagreb und Belgrad und zu Straßenschlachten mit der Polizei. Die Bundesregierung drohte mit dem Einsatz der Armee. Im Juli 1987 fuhren 5 000 streikende ArbeiterInnen einer Schuhfabrik bei Vukovar (eine etwa 50:50 serbisch-kroatisch »gemischte« Stadt und Belegschaft) nach Belgrad und stürmten und besetzten das Bundesparlament. [4] Insgesamt gab es im Sommer 1987 etwa 4 000 Streiks.

Mazedonien, Montenegro und Kosovo erklärten sich 1987 offiziell für zahlungsunfähig. 1988 nahmen die Streiks noch zu und griffen auf den öffentlichen Dienst (Schulen, Krankenhäuser, Müllabfuhr) über. Unter Parolen wie »Nieder mit dem faschistischen Regime!« und »Es lebe die Arbeiterklasse!« besetzten 30 000 ArbeiterInnen im Oktober 1988 die Stahlwerke in Titograd/Montenegro. Im Dezember 1989 streikten 650 000 ArbeiterInnen in Serbien, Mazedonien und Montenegro. Die Reallöhne stiegen 1989 jugoslawienweit um etwa 25 Prozent; das serbische Durchschnittseinkommen stieg auf das Niveau des slowenischen.

Die Politiker aller Landesteile traten verstärkt nationalistisch auf. Die Jahre 1987-89 waren nicht nur die Zeit der größten Streiks und ArbeiterInnendemos, sondern auch die Zeit der größten nationalistischen Mobilisierungen. Den Anfang machte die durch eine angebliche »antibürokratische Revolution« an die Macht gekommene neue Parteiführung Serbiens. Der neue Parteichef Milosevic war ein in den USA ausgebildeter Bank-Manager, der als Vorsitzender der sogenannten Milosevic-Kommission just in dieser Zeit marktorientierte Reformen forderte und die Jugoslawen aufrief, ihre »unbegründete, irrationale und primitive Angst vor der Ausbeutung« durch ausländisches Kapital aufzugeben. Er trat in diesen Jahren bei einer Reihe von (als »Sich-Ereignen des Volkes« bekanntgewordenen) serbisch-nationalistischen Massendemos auf, bei der größten im November 1988 in Belgrad waren eine Million Teilnehmer. Thema der Kundgebungen war die Unterdrückung von Serben in den autonomen Provinzen und den anderen Republiken, die in eine Linie mit dem Bürgerkrieg 1941-44 und letztlich dem jahrhundertelangen Leidensweg des serbischen Volks gestellt wurde. Angesichts zunehmender nationalistischer und separatistischer Tendenzen in den anderen Teilen Jugoslawiens wurde gefordert, daß »alle Serben in einem Staat« leben müßten: entweder durch eine Re-Zentralisierung Jugoslawiens oder durch eine Revision der innerjugoslawischen Grenzen. Auch in den anderen Republiken wurde versucht, den Klassenkonflikt als nationalen umzudeuten, nur daß dort neue nationalistische Oppositionsparteien die Führung übernahmen, während in Serbien die Regierungspartei selbst in die Offensive ging.

Die Bundesregierung Markovic versuchte 1989/90 noch ein letztes Mal, gegen die Klassenkämpfe und die 2 000-prozentige Inflation ein IWF-Programm durchzusetzen mit Haushalts- und Lohnkürzungen, Preiserhöhungen, der Abwertung des Dinar, der Schließung von Banken und vor allem der Möglichkeit, unrentable Betriebe in die Zahlungsunfähigkeit zu treiben und dann umgehend zu schließen. Tatsächlich gelang es in den ersten 9 Monaten 1990, knapp 900 Betriebe mit über 500 000 ArbeiterInnen dichtzumachen.

Gleichzeitig aber zerfiel der jugoslawische Staat: 1990 fanden erstmals »freie« Mehrparteienwahlen statt. Die neuen Regierungen der nördlichen Republiken Slowenien und Kroatien kamen zu der Einschätzung, daß sie auf eigene Faust die Wirtschaftsreformen leichter würden durchziehen können, und drohten mit Sezession. Der Bund der Kommunisten Jugoslawiens löste sich auf. Die serbische Regierung trat angesichts neuer Streiks die populistische Flucht nach vorn an und bezeichnete das Markovic-Programm (das auf der Linie der Empfehlungen der Milosevic-Kommission lag!) als »anti-serbisch«. Mit dieser Begründung nahm sie einen illegalen Kredit von 1,7 Mrd. US-Dollar bei der Bundeskasse auf und zahlte ausstehende Löhne, was der bisherigen Staatspartei den Wahlsieg sicherte - obwohl die Realllöhne durch drastische Preissteigerungen fielen. Im März 1991 trat die Bundesregierung zurück, ohne daß eine neue gebildet wurde.

Gleichzeitig wurde in Belgrad eine Demo mit 70 000 Leuten gegen »undemokratische« Mediengesetze brutal niedergeknüppelt. Die Regierung ließ Panzer auffahren. Am nächsten Tag ging eine Studentendemo in eine blutige Straßenschlacht über, denn »eine große Zahl von Nicht-Studenten hatte sofort die Gelegenheit aufgegriffen, die Schweine anzugreifen«.

Auf dem Platz der Republik in Belgrad gab es eine einwöchige Mahnwache, »die zu einer regelrechten Volkstribüne wurde, wo pausenlos Studenten, Akademiker, Rechtsanwälte, berühmte Schauspieler und anscheinend auch ein paar vereinzelte Arbeiter Reden hielten. Die Forderungen, die hier vorgebracht wurden, waren rein politisch«[5] Nach der Erfüllung dieser Forderungen wurden die Demos beendet. In den Betrieben war aber keine Ruhe. Im April 91 streikten 700 000 Metall- und TextilarbeiterInnen in Serbien und hatten materiell durchaus Erfolg: Das Preisniveau ging 1991 im Vergleich zu den drastischen Preissteigerungen 1990 wieder zurück, für einige Waren sogar unter den Stand von 1989. [6]

Krieg und Sanktionen

Nach der Unabhängigkeitserklärung Sloweniens und Kroatiens im Juni 1991 und dem kurzen Unabhängigkeitskrieg Sloweniens entwickelte sich in Kroatien ein Krieg zwischen schnell zu einer Armee aufgebauten kroatischen Milizen (die teils aus der alten Territorialverteidigung und Polizei entstanden, teils aus faschistischen Banden) und serbischen Milizen und der jugoslawischen Volksarmee (die sich auf die »serbischen Gebiete« Kroatiens zurückzog) andererseits. Dabei zeigte sich, daß die Volksarmee kaum als Bürgerkriegsarmee brauchbar war: Ein Großteil der Einberufenen kam nicht oder nur nach Festnahme durch die Militärpolizei, tausende desertierten von der Front und erschossen Offiziere oder knallten sich mit Drogen voll.

Die großen Oppositionsparteien, die sich bei den Demos 1991 profiliert hatten, waren noch nationalistischer als die Regierungspartei und schickten teilweise eigene Milizen in den Krieg. Neben kleinen Oppositionsgruppen wie den Frauen in Schwarz gab es einen massenhaften »unorganisierten« Widerstand gegen den Krieg. Im Juni 1994 wurde die Zahl der ins Ausland geflohenen Deserteure und Verweigerer auf über 100 000 geschätzt, es sind auch etliche Beispiele von kollektivem Widerstand bekanntgeworden [7]. Außerdem gab es im Frühjahr und Sommer 1992 in Belgrad große Demos, Aktionen und Konzerte gegen Krieg und Nationalismus; die Bewegung nahm aber weder »politischen« Charakter an, noch trat sie als ausdrücklich proletarische Bewegung auf.

Trotzdem trug sie wesentlich dazu bei, daß der Kroatienkrieg beendet wurde und die Armee im Bosnienkrieg nur noch die Infrastruktur stellte, während der eigentliche Krieg von Sondereinheiten und Milizen geführt wurde. Lokale Milizen der ländlichen serbischen Minderheit in Kroatien und Bosnien wurden systematisch von nationalistischen Milizen aus Serbien selbst unterwandert; später agierten immer mehr professionelle Söldnertrupps, [8] die fein säuberlich nach den national differenzierten jugoslawischen Melderegistern vorgingen, um ganze Gebiete ethnisch zu »säubern«. Auffälligerweise war die Gewalt immer dort am größten, wo die Nationalisierung der Bevölkerung nicht oder nur langsam griff (etwa in Vukovar und dann in Sarajevo). Die ethnischen Teilungslinien wurden seit März 1992 von UNO-Truppen gesichert und Ende 1995 für Bosnien im Vertrag von Dayton festgeschrieben, der Bosnien zu einer ethnisch gesäuberten NATO-Diktatur macht.

Die westlichen Regierungen hatten auf deutschen Druck Anfang 1992 die Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens in den alten innerjugoslawischen Grenzen anerkannt und betrachteten Serbien als Aggressor. Im August 1995 besetzte die massiv aufgerüstete kroatische Armee mit US-Unterstützung die bislang serbischen Gebiete Kroatiens und vertrieb Hunderttausende von BewohnerInnen nach Restjugoslawien. Im September 1995 unterstützte die NATO mit Luftangriffen auf bosnisch-serbische Truppen die Verschiebung der Frontlinie zugunsten kroatisch-moslemischer Truppen.

Vor allem aber hatten die EU (seit November 1991) und der UNO-Sicherheitsrat (seit Mai 1992) Wirtschaftssanktionen gegen Restjugoslawien verhängt. Hatte schon die Teilung Jugoslawiens die Betriebe Serbiens im Maschinen- und Fahrzeugbau und in der Chemieindustrie, die hoch integriert mit Betrieben in Slowenien und Kroatien produziert hatten, von ihren Zulieferern und Abnehmern abgeschnitten, so kappten die Sanktionen auch den Zugang zum internationalen Markt (durch das Handelsembargo, den »inneren Ring« der Sanktionen) und vor allem zu internationalen Krediten (durch den Ausschluß aus den internationalen Finanzinstitutionen wie IWF und Weltbank, den »äußeren Ring«).

Bis 1994 sank das Bruttoinlandsprodukt auf unter die Hälfte des Werts von 1989; die Auslastung der Industrie lag nur noch bei ca. 30 Prozent. Gleichzeitig gingen 1993 etwa 70 Prozent des Bundeshaushalts in den Militäretat. Das führte zu einem völligen Verfall der Reallöhne in Serbien und zur Hyperinflation (1993: 116 Trillionen Prozent). Ende 93 wurden mit dem Dinar nur noch Löhne, Steuern, Mieten und Stromrechnungen bezahlt - alles andere mit D-Mark.

Anfang 1994 machte Jugoslawien noch einmal einen Anlauf zu einer radikalen Wirtschaftsreform unter dem neuen Nationalbankchef Avramovic (der lange Jahre bei der Weltbank gearbeitet hatte): Der Dinar wurde im Kurs 1:1 an die D-Mark gebunden und die Inflation (durch Lohnstopp) gebremst. Von 2,26 Millionen Beschäftigten im Jahr 1993 wurden bis Mai 1994 900 000 in Zwangsurlaub geschickt.

Mitte 94 wurde Avramovic gefeuert. Er hatte sich dafür eingesetzt, daß Jugoslawien nicht nur auf die akute Krise reagieren, sondern tatsächlich einen produktiven Neuanfang wagen sollte. Das hätte aber bedeutet, auf die Bedingungen von IWF und Weltbank einzugehen. Während die BR Jugoslawien auf dem Standpunkt steht, einziger Nachfolgestaat des alten Jugoslawien und damit auch IWF-Mitglied zu sein, behaupten vor allem die USA, daß das alte Jugoslawien nicht mehr besteht, und verlangen, daß sich Restjugoslawien um eine Neuaufnahme bemühen muß. Das ist keine reine Formfrage, sondern berührt die jugoslawischen Altschulden und v.a. die Aufteilung der gesperrten offiziellen und mutmaßlich von Restjugoslawien geplünderten geheimen Gold- und Devisenreserven des alten Jugoslawiens unter den Nachfolgestaaten. [9] Avramovics Entlassung war eine klare Absage an die Einigung mit dem IWF zu diesem Zeitpunkt.

Eingebunkert

Nach der Beendigung des Bosnien-Kriegs durch das Dayton-Abkommen Ende 1995 wurden die meisten Sanktionen aufgehoben. Trotzdem stieg die Produktion 1996 nur unwesentlich. Die Exporte gingen sogar zurück und bestanden zunehmend aus Produkten niedrigen Verarbeitungsgrades, außerdem wuchs das Außenhandelsdefizit (im 1. Halbjahr 1996 waren die Importe doppelt so hoch wie die Exporte). Das Sozialprodukt lag 1996 bei 55 Prozent des Niveaus von 1989, die Industrieproduktion bei 40 Prozent.

Für die schlechte Situation machten die in- und ausländischen Experten einhellig die nicht erfolgte Zerschlagung der Großbetriebe verantwortlich: »80 Prozent des Kapitals befinden sich nach wie vor in gesellschaftlichem oder in Staatseigentum, wobei die Unterschiede zwischen beiden Eigentumsformen im gegebenen Zusammenhang nicht wesentlich sind. Hier liegt der Hauptgenerator aller wirtschaftlichen Schwierigkeiten, und solange hier nicht Remedur geschaffen wird, kann es keine effiziente Wirtschaftspolitik geben, gleichgültig, wer sie konzipiert und wie sie konzipiert ist. (...) Doch es sind gerade die großen Firmen im gesellschaftlichen Eigentum, die immer wieder Haushaltsmittel, praktisch Schenkungen erhalten, die angeblich der Ankurbelung der Produktion dienen sollen. In Wirklichkeit werden diese Mittel dazu verwendet, um Arbeitern Lohn zu zahlen, die nichts produzieren oder nicht marktgerecht produzieren.« [10]

1990 war auch in der Republik Serbien ein Privatisierungsgesetz verabschiedet worden, das - im Rahmen der Empfehlungen der Milosevic-Kommission und dann des Markovic-IWF-Programms - den Konkurs der Großbetriebe und die anschließende Privatisierung der verwertbaren Teile vorsah. Krieg, Sanktionen und Hyperinflation hatten diesen Prozeß aber praktisch gestoppt. 1993 erfolgte Privatisierungen wurden später sogar zum Teil wieder rückgängig gemacht, weil die Käufer in der Hyperinflation nur Spottpreise bezahlt hatten. Stattdessen wurde etwa etwa die Hälfte des Kapitals direkt verstaatlicht, die andere Hälfte wurde z.T. in Belegschafts-AGs überführt oder blieb in anderen teils unklaren Eigentumsformen. Dadurch »ändern sich allerdings die betrieblichen Anreizstrukturen und Existenzbedingungen keineswegs, was zu gleichbleibenden Verhaltensweisen der Betriebe führt. Die vom privaten Eigentum erwarteten Effizienzsteigerungen bleiben naturgemäß aus«. [11]

Auf die Frage warum eine Privatisierung nicht stattfinde, antwortete die Ebert-Stiftung, daß »wichtige Gruppen an der Verzögerung der Umstrukturierung interessiert sind«. Vor allem bleibe »breiten Schichten der Arbeiter und Angestellten ... kaum eine Alternative zum Festhalten am Status Quo. Von grundlegenden Reformen und weitgehender Privatisierung bzw. der Herstellung tatsächlicher privater Eigentumsrechte müssen sie in erster Linie nur fürchten, ihren Arbeitsplatz im Rahmen der dann fälligen Umstrukturierungen zu verlieren.« Den Großbetrieben »kam und kommt ... eine wichtige Rolle bei der sozialen Sicherung und in vielen sozialpolitischen Bereichen zu, womit bei einer Transformation dieser Betriebe auch wichtige Teile des sozialen Netzwerks entfallen. Auch in dieser Hinsicht dient also die Beibehaltung des Status Quo der Aufrechterhaltung des sozialen und damit des politischen Friedens«. Eigentlich seien aber »zwischen 800 000 und 1 Million Arbeiter zu viel beschäftigt, d.h. ihre Entlassung würde zu keinerlei Einbußen beim Sozialprodukt führen«. Das Osteuropa-Institut München schätzte, daß »im staatlichen bzw. genossenschaftlichen Sektor bis zu 50 Prozent ihrem Arbeitsplatz fernbleiben und in dieser Zeit in der florierenden Schattenwirtschaft tätig sind.« [12]

Es lassen sich sicher auch andere Motive für Widerstände gegen die Privatisierung finden. So ist die wirtschaftliche Führungsschicht praktisch identisch mit der politischen [13] und Minister sind oft gleichzeitig Firmendirektoren, so daß etliche von ihnen bei einer Privatisierung wohl wirklich leer ausgehen würden. Andererseits waren viele Manager in Jugoslawien wie in anderen osteuropäischen Ländern schon längst dabei, die Filetstücke aus den Unternehmen herauszuschneiden und sich über unterschiedliche Manöver privat anzueignen.

Viel naheliegender ist die Erklärung, daß das jugoslawische Kapital den offenen Konflikt mit den ArbeiterInnen gescheut hat. Statt zu versuchen, gegen ihren Widerstand einen neuen produktiven und Akkumulations-Zyklus in Gang zu setzen, lebten die Bosse einfach von der Substanz. Unter dem Mantel der Sanktionen haben sie »Techniken entwickelt, um sich aus den staatlichen Firmen ungeachtet deren tatsächlicher Ertragslage zu bereichern«[14] Die ArbeiterInnen wurden nicht frontal angegriffen, sondern einerseits über den permanenten Kriegszustand in Kosovo, Slowenien, Kroatien und Bosnien eingeschüchtert, andererseits in die Reste des jugoslawischen Wohlfahrtsstaats integriert. Statt sie zu zwingen, produktiver zu arbeiten, senkten ihnen die Bosse über niedrige Löhne, verzögerte Lohn- und Rentenauszahlungen, Zwangsbeurlaubungen, Inflation - nach den regelmäßigen Sonderzahlungen vor Wahlen - das Einkommen.

Die ArbeiterInnen reagierten auf das Ende des Kriegs und der Sanktionen mit verstärkten Arbeitskämpfen. Das wiedererwachende Selbstbewußtsein drückte sich Ende 1996 im Wahlsieg des Oppositionsbündnisses Zajedno bei den Kommunalwahlen in den meisten Städten aus. Als sich die Regierung weigerte, das Ergebnis anzuerkennen, organisierte Zajedno Protestdemos, denen sich auch wieder die unabhängigen Gewerkschaften und die proletarischen Jugendlichen anschlossen. Ende Dezember ging die Polizei gewaltsam gegen die Demos vor, und es gab Tote. Trotzdem gingen die Demos weiter und nahmen zunehmend happening-mäßigen Charakter an. Nach weiteren Straßenschlachten Anfang Februar 1997 erkannte die Regierung schließlich das Wahlergebnis an.

Die bürgerliche Opposition war aber nicht in der Lage, diesen Erfolg zu konsolidieren oder gar in einen Machtwechsel umzusetzen. »Tatsächlich hingen der Erfolg und die Dauerhaftigkeit der Demonstrationen der Opposition wesentlich von sie begleitenden sozialen Unruhen ab. Selbst nach Beendigung der Demonstrationen fand die soziale Unzufriedenheit Ausdruck in einer Welle von Streiks, Blockaden, spontanen Demonstrationen und verschiedenen Formen des bürgerlichen Ungehorsams (organisierte Verweigerung von Steuer- und Gebührenzahlungen) durch verschiedene gesellschaftliche Gruppen (Lehrer, Kindergärtner, Textilarbeiter, Kriegsinvaliden, Rentner usw.).« Es gelang dem Milosevic-Regime aber, die ArbeiterInnen immer wieder ins Leere laufen zu lassen: »Der größte dieser Streiks, die über einen Monat andauernde Arbeitsniederlegung durch Lehrer und Erzieher, die für die Auszahlung ihrer seit Monaten überfälligen, ohnehin sehr niedrigen Löhne und eine Verbesserung ihrer sozialen Situation kämpften, wurde allerdings durch geschicktes politisches Manövrieren ohne größere Zugeständnisse an die Streikenden beendet.« [15] An diesem Punkt zerfiel auch die bürgerliche Opposition wieder an ihren eigenen Streitigkeiten und ließ sich später sogar teilweise in die Regierung integrieren.

Die hiesigen Demokraten und Menschenrechtler behaupten gern, daß die jugoslawische Arbeiterklasse die ganze Zeit »loyal« zum Regime gestanden habe und machen das daran fest, daß im Gegensatz zu den anderen ost-europäischen Ländern sich in Jugoslawien Zajedno oder andere Oppositionsparteien nicht durchsetzen konnten. Die Friedrich-Ebert-Stiftung bleibt realistisch: »Die Arbeiter streiken und demonstrieren zwar für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze und die Auszahlung von Löhnen, nicht aber für eine politische Opposition, die durch ihre Reformabsichten ihre momentane Situation gefährdet.« Sie waren zu schlau, um sich einer »demokratischen Opposition« auszuliefern, deren Absicht letztlich die Verschärfung der Ausbeutung war - aber sie waren zu schwach, um aus ihrem defensiven Einbunkern in den realsozialistischen Strukturen herauszukommen.

Den Machterhalt erkaufte sich das Regime eben nur über die Blockade der Reformen und ein riesiges Außenhandelsdefizit: Von 1995 bis 1998 importierte Jugoslawien jeweils ungefähr doppelt so viel, wie es exportierte. 1997 betrug das Außenhandelsdefizit 2,4 Mrd. US-Dollar bei einem Bruttoinlandsprodukt von 17,5 Mrd. Dollar. Diese Struktur hatte auch der Handel mit Deutschland, dem größten Handelspartner: Deutschland exportierte nach Jugoslawien in den Jahren 1995-98 jeweils ungefähr doppelt so viel wie Jugoslawien nach Deutschland. Importe aus Jugoslawien waren v.a. Kleidung, Stoffe und Obst. Etwa 20 Prozent der Importe waren re-importierte Lohnveredelungen. [16] Mit anderen Worten konsumierte die jugoslawische Arbeiterklasse weit mehr als sie produzierte. Die Ebert-Stiftung bezeichnete die Deckung dieses Defizits 1997 als »eines der Geheimnisse des serbischen Modells« und meinte, es gebe »nur eine Erklärung aus sog. 'inoffiziellen' (staatlichen?) Devisenreserven im Ausland ... Aber wenn diese zwangsläufig beschränkten Mittel aufgebraucht sind, droht dem importabhängigen System der Kollaps«[17]

Das Anwerben ausländischer Direktinvestitionen hatte nur sehr beschränkte Erfolge. Die größte ausländische Investition des Jahrzehnts war der Verkauf der serbischen Telekom an ein italienisch-griechisches Konsortium. Vor allem konnte der Verkaufserlös (1,57 Mrd. DM) nicht als Kapitalspritze benutzt werden, sondern etwa 1,3 Mrd. DM gingen sofort für die Zahlung ausstehender Renten kurz vor den Wahlen im September 1998 drauf. [18]

»Slobo, du Clinton!«

In dieser Situation stand das Regime zunehmend mit dem Rücken an der Wand. Es versuchte noch einmal, die nationalistische Karte zu spielen, indem es den seit Ende der 80er Jahre schwelenden, aber während der Kriege in Kroatien und Bosnien nie voll ausgebrochenen Kosovo-Konflikt wieder eskalierte. An der Schraube drehte sicher auch die UÇK mit, die 1997 mit einer Reihe von Anschlägen auf sich aufmerksam machte. Das Belgrader Regime reagierte aber mit massiven Repressionen nicht nur gegen die Guerilla, sondern gegen weite Teile der albanischsprachigen Bevölkerung. Im Dezember 1997 wurden wieder Studentendemonstrationen niedergeknüppelt; ab Februar 1998 wurden im Drenica-Gebiet als Guerilla-Hochburgen betrachtete Dörfer mit Panzern und Artillerie angegriffen. Anders als 10 Jahre zuvor schien die nationalistische Karte 1998/99 aber ausgereizt zu sein: »Im Laufe der Verhandlungen von Rambouillet zwischen Serben und Albanern Ende Februar haben die nationalistischen Parteien eine Demonstration vor dem Bundesparlament durchgeführt, um die Leidenschaften neu anzuheizen. Doch vergeblich: Nur ein paar Dutzend Menschen folgten dem Aufruf und skandierten im Nieselregen unter dem gleichgültigen Blick der Passanten: Slobo, ne daj Kosovo! (Slobo, gib das Kosovo nicht her!).« [19]

Die Karte des Kriegs ließ sich aber durchaus international noch spielen. Schon im Sommer 1997 schrieb die Ebert-Stiftung: »Allerdings hat sich in den letzten Monaten für Milosevic eine völlig neue politische Option aus der internationalen Entwicklung ergeben, die dieser offensichtlich auch zu nutzen gedenkt: Die totale Destabilisierung Albaniens hat der internationalen Staatengemeinschaft drastisch die Gefahren und das mögliche Ausmaß von Krisen in der gesamten Balkanregion vor Augen geführt. (...) Im Hinblick auf die anarchische Entwicklung in Albanien könnte nun Milosevic ... klarmachen, daß er denjenigen Machtfaktor repräsentiert, der das Problem lösen oder eskalieren lassen kann. (...) Als Preis für eine Lösung des Kosovoproblems könnte Milosevic dann eine sofortige Kreditgewährung und günstige Schuldenregelung aushandeln.« Dies ist die »diplomatische« Sicht der Kriegsdrohungen, analog zur bei den europäischen Regierungen beliebten Sicht der NATO-Kriegsdrohungen: Mit dem big stick wird nur gewedelt, um in Verhandlungen das gewünschte Ziel durchzusetzen.

Möglich ist aber auch noch eine andere Sicht, analog zur US-Version der NATO-Kriegsdrohungen: eine Reihe von Provokationen, die dazu führen, daß die Drohung auf jeden Fall wahrgemacht werden muß. Das jugoslawische Regime ist Herr über ein schrottreifes Land. Die »komplette Infrastruktur, Dienstleistungen, öffentliche Versorgungsbetriebe, Rohstoffindustrie usw. ... sind riesige Verlustbringer mit weit fortgeschrittener Dekapitalisierung und geringem Restrukturierungspotential«[20] 1), 2) und 4) in dieser Aufzählung sind die bevorzugten Bombenziele der NATO. Das Bombardement exekutiert eine grausame Sanierung von außen, bei der sich das jugoslawische Regime als Verteidiger der Interessen der jugoslawischen Arbeiterklasse darstellen und damit die Startlöcher für seine Rolle als Regierung, Management oder Gewerkschaft in der Zeit nach dem Krieg graben kann. Nach der ersten Bombardierung der Zastava-Fabrik in Kragujevac titelte die Frankfurter Rundschau: »Gewaltsames Ende einer kranken Fabrik«. [21] In dem Artikel wird beschrieben, daß die Zastava-ArbeiterInnen trotz Rückgang der Produktion von über 200 000 auf unter 8 000 Stück pro Jahr, trotz Zwangsbeurlaubungen und radikaler Senkung der Löhne sich immer noch auf das Werk als sozialen Mittelpunkt bezogen. Erst die NATO-Bomben machten dem ein Ende.

Kurz nach Beginn der Bombenangriffe tauchten in Belgrad Graffiti auf: »Slobo Klintone« (Slobo, du Clinton!). Und eine anonyme Email von einem Belgrader Anarchisten spekulierte: »Ich befürchte, daß der Deal zwischen Milosevic und den USA noch viel weiter geht. Ich kann nur raten, aber ich glaube, daß dieser ganze Krieg bei einem der Treffen zwischen Milosevic und Holbrooke vereinbart worden ist.« [22] In Wirklichkeit sind derartige Vereinbarungen gar nicht nötig. Es reicht aus, daß alle beteiligten Regimes - die USA, die EU-Länder, Jugoslawien - ihre eigenen, jeweils besonderen Interessen haben, damit ein Krieg in Gang gesetzt und - gegeneinander, miteinander, auf jeden Fall gegen die ArbeiterInnen - weitergeführt werden kann.


Fußnoten:

[1] Vgl. dazu: B. Gaciarz, W. Panków: »Fiat Auto Polen AG: Konflikte ohne Ende«, in: R. Deppe / M. Tatur (Hrsg.): Ökonomische Transformation und gewerkschaftliche Politik: Umbruchprozesse in Polen und Ungarn auf Branchenebene, Münster 1996.

[2] V. Pesic: »Krieg um Nationalstaaten«, in: T. Bremer, N. Popov, H.-G. Stobbe (Hrsg.): Serbiens Weg in den Krieg. Kollektive Erinnerung, nationale Formierung und ideologische Aufrüstung, Berlin 1998, S. 26. Die Aufsätze in diesem Band, der schon 1995 mit Hilfe der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung in Jugoslawien erschien, sind zwar politisch schrecklich europäisch und demokratisch, aber eine sehr informative Innenansicht der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in Jugoslawien. Das Teil kostet unverschämte 98,- Mark.

[3] Zur Entwicklung in den 80er und frühen 90er Jahren siehe Literaturliste.

[4] »Vukovar ist traditionell ein Symbol für die nationale [d.h. zwischen den nationalen Gruppen] und Klassensolidarität. 1988 haben die Arbeiter aus Vukovar ganz unabhängig von ihrer nationalen Zugehörigkeit, ihrer politischen Ausrichtung und ihrem Glauben einen sehr großen Streik organisiert. Ein Teil davon war eine große Demonstration in Belgrad vor dem jugoslawischen Parlament. Die Arbeiter sind damals ins Parlament eingedrungen und haben es besetzt. Es hat nur wenig gefehlt, und sie hätten die Macht erobert. Und genau aus diesen beiden Gründen - denn Vukovar hat ansonsten absolut keine strategische Bedeutung gehabt, um erobert werden zu müssen - mußte Vukovar zerstört werden. Die nationale und Klassensolidarität mußte zerstört werden. Die Kraft der Arbeiterklasse mußte zerstört werden.« Der serbische Journalist Dragomir Olujic bei dem in Anmerkung 3 erwähnten Jugoslawien-Seminar 1995.

[5] Beide Zitate: Wildcat London, a.a.O.

[6] zur Wirtschaftspolitik bis 1994 vgl.: J. Reuter: »Die Wirtschaftskrise in der BR Jugoslawien. Reformen im Schatten von Krieg, Embargo und schleppender Transformation«, in Südosteuropa, 43. Jhg., 8/1994, S. 490.

[7] vgl. zu Desertionen und Reservistenrevolten die Londoner Wildcat, a.a.O.

[8] Einige der serbischen Milizen waren aus Fußball-Hools von Roter Stern Belgrad hervorgegangen. Ein aufstrebener Mafioso namens »Arkan« Raznjatovic machte aus einer chaotischen Schlägertruppe eine disziplinierte Killertruppe. Vgl. dazu I. Colovic: Fußball, Hooligans und Krieg, in Serbiens Weg in den Krieg, a.a.O.

[9] Zum 94er Sparprogramm und der Wirtschaftsentwicklung bis 1996 vgl. J. Reuter: »Die Wirtschaft der BR Jugoslawien nach der Suspendierung der Sanktionen«, in Südosteuropa, 45. Jhg., 8/1996.

[10] J. Reuter: »Die Wirtschaft der BR Jugoslawien ...«, a.a.O., S. 594. Reuter bezieht sich genüßlich auf die Kritik der jugoslawischen Wirtschaftszeitungen, die in dieselbe Richtung geht.

[11] Friedrich-Ebert-Stiftung: Die Innenseite des Regimes Milosevic: Überleben ohne Reformen, Politikinformation Osteuropa Online (http://www.fes.de), Juni 1997. Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung ist übrigens eine der aggressivsten deutschen Organisationen in der »Transformation« Osteuropas: In Polen hatte sie 1995 z.B. 13 hauptamtliche Funktionäre, während die sonstigen deutschen Parteienstiftungen jeweils einen hatten.

[12] W. Gruber: BR Jugoslawien«, in: Wirtschaftsentwicklung in ausgewählten mittel- und osteuropäischen Ländern 1997/98, Osteuropa-Institut München, Working Papers Nr. 209, April 1998, S. 77.

[13] Die meisten Manager sind übrigens nicht in der SPS von Milosevic, sondern in der Jugoslawischen Linken seiner Ehefrau Mira Markovic. Die JUL, die im Westen manche Leute für antinationalistische »GenossInnen« halten, ist sowohl vom Wähleranteil als auch von der sozialen Zusammensetzung her eine Art jugoslawische FDP.

[14] Friedrich-Ebert-Stiftung, a.a.O.

[15] beide Zitate: Friedrich-Ebert-Stiftung, a.a.O.

[16] C. Gerstberger: »BR Jugoslawien (Serbien-Montenegro)«, in: Mittel- und Osteuropa Perspektiven - Jahrbuch 1998/99, Band 1, S. 54.

[17] Friedrich-Ebert-Stiftung, a.a.O.

[18] Osteuropa-Institut, a.a.O.

[19] T. Hofnung: »Mythen und Devisen. Die serbische Krise und das System Milosevic«, in Le Monde Diplomatique, April 1999, S. 6.

[20] Friedrich-Ebert-Stiftung, a.a.O.

[21] Frankfurter Rundschau, 10.4.1999.

[22] Zaginflatch no. 43, 20.04.1998. Zaginflatch ist ein anarchistisches E-Magazine aus Zagreb, zap_zg@geocities.com; http://www.geocities.com/CapitolHill/Senate/3707/.


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