Wildcat-Zirkular Nr. 50/51 - Mai/Juni 1999 - S. 34-39 [z50geopa.htm]


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Geopolitische Aspekte des Kriegs in Jugoslawien

Solange das militärische Gleichgewicht zwischen den Blöcken bestand und das Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit anhielt, herrschte in Europa eine ungewohnt stabile politische Situation. Im Westen entfaltete sich aber seit den 70er Jahren und mit aller Deutlichkeit seit der ersten Hälfte der 80er Jahre die Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems, eines Systems, das seitdem halb kollabiert mit krampfhaften Bemühungen gegen seinen Zusammenbruch kämpft. Die Verzweiflung der Herrschenden drückt sich auch darin aus, daß sie größere Risiken eingehen bei politischen Aktivitäten, die dem System geographisch und ökonomisch neue Akkumulationsräume erschließen sollen.

Mit dem Umsturz des sowjetischen Systems und der Auflösung des Warschauer Pakts entstand eine neue Machtkonstellation, die dem Westen Handlungsspielräume erschloß. Osteuropa wird in den wirtschaftlichen und militärischen Einflußbereich des Westens integriert; abweichende oder störende Strukturen oder Einflüsse Rußlands werden in diesem Raum nicht mehr geduldet. Dabei wird auch das Risiko eines Konfliktes mit Nuklearwaffen in Kauf genommen. Um ihren Raum dagegen zu schützen und noch mehr »Handlungsspielraum« zu gewinnen, aktivieren die USA jetzt auch wieder die Entwicklung eines Raketenabwehrsystems (National Missile Defense, NMD), das in den Abrüstungsvereinbarungen START untersagt worden war, und verzichten darauf, die letzten Abrüstungsvereinbarungen durch die Duma ratifizieren zu lassen. Der »Übergang zur Demokratie«, wie sich die Einführung des alten, krisenhaften Systems in den ehemaligen realsozialistischen Länder nennt, beinhaltet die »Stabilisierung«, d.h. die Etablierung politischer Verhältnisse und Strukturen, die sich nicht verändern und für den Kapitalismus günstig sind, und die »Irreversibilität«, d.h. die Zerschlagung aller Strukturen, die die Umkehrbarkeit der Verhältnisse ermöglichen könnten. Es geht um Zerschlagung der Wirtschaftsstrukturen, Deindustrialisierung und Prekarisierung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse der großen Mehrheit der Bevölkerung.

Die strategischen Implikationen des NATO-Krieges in Jugoslawien weisen aber weit über den europäischen Raum hinaus. Auf dem Rücken des Proletariats der Balkanregion führen die USA unter Einbeziehung ihrer europäischen Alliierten einen Krieg, dessen geostrategische Bedeutung durch die vorgeblichen Anlässe kaum mehr verhüllt werden. Drei wesentliche Ziele treten hervor:

Das Öl am Kaspischen Meer

Schon in der Phase des Zusammenbruchs des zaristischen Rußland und der Anfangsphase der Sowjetunion versuchte Großbritannien, Zugriff auf die Erdölvorräte unter dem Kaspischen Meer zu erhalten, indem es ein unabhängiges Aserbeidschan unterstützte. Der Zugriff auf dieses Öl war auch das wichtigste Kriegsziel der deutschen Wirtschaft im Zweiten Weltkrieg. Nach dem Ende der Sowjetunion standen diese Vorräte wieder im Zentrum von Auseinandersetzungen. Die USA und ihre islamischen Aktionäre im arabischen Raum führten einen indirekten Krieg mit Rußland um Macht und Einfluß in diesem Gebiet, das vom Schwarzen Meer/Kauskasus über die Anliegerstaaten des Kaspischen Meers bis zur Trasse östlicher Pipelines nach Pakistan reicht. Dabei spielten sie beliebig die ethnische und religiöse Karte aus, rüsteten Aufständische aus und unterstützten Putschisten

Aus Afghanistan wurden Rußland und seine dortigen Interessenvertreter in einem fürchterlichen Abnutzungskrieg von islamistischen Gruppierungen hinausgeworfen, die von Anfang an von den USA und Saudi-Arabien finanziert und ausgerüstet worden waren. Nachdem diese Fundamentalisten die USA in die Hand bissen, indem sie weltweite antiamerikanische Operationen unterstützten und ihr Land dafür zum Stützpunkt machten, und sie auch derzeit nicht zu beseitigen sind, zerschlug sich die geplante Süd-Osttrasse für den Transport von Erdöl und Gas zum Arabischen Meer.

Am Kaspischen Meer standen die ölproduzierenden Länder und die Transitländer der West- und Südwesttrassen im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Nach mehreren Staatsstreichen, bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen und plötzlichen Todesfällen hat sich Alijew, früher KGB-Vorsitzender und Mitglied des Politbüros der Sowjetunion, zusammen mit seinen Anhängern als Machthaber in Aserbeidschan etabliert; er ist heute ein zuverlässiger Vorposten westlicher Interessen. Ebenso haben in Kasachstan und Turkmenistan ehemalige Führungskräfte der KPDSU und erfahrene Organisatoren des Staatsapparats die Verhältnisse stabilisiert und sich als Förderer westlicher Wirtschaftsinteressen erwiesen. Von »Demokratie und Menschenrechten« im Sinne der NATO-Doktrin kann bei diesen Staaten keine Rede sein. Wichtiger Drahtzieher der US-Interessen in diesem Raum ist die Türkei, die zur Regierungszeit Özals eine großtürkische Offensive einleitete und Kooperationsverträge mit vielen turksprachigen Ländern der Region abschloß. Dem Bau der kürzesten Trasse Aserbeidschan-Adana/Türkei steht nur der Krieg in Kurdistan und der Iran mit seinen konkurrierenden Interessen im Wege.

Besonders umkämpft waren die Trassen vom Kaspischen Meer nach Westen nördlich und südlich des Kaukasus. Die nordkaukasische Trasse, die Rußlands Einfluß gesichert hätte, wurde durch den tschetschenischen Aufstand blockiert, ebenso wie die wichtigsten Ölverarbeitungsanlagen Rußlands. Im Tschetschenienkrieg, dem in erster Linie und bestimmt nicht zufällig russische Ölarbeiter zum Opfer fielen, konnte Rußland seinen Einfluß nicht stabilisieren. Die Situation ist noch immer labil und gefährdet die verletzliche Transport- und Verarbeitungsinfrastruktur des Öls in der nordkaukasischen Region. Ausweichtrassen von Astrachan am Nordende des Kaspischen Meeres nach Noworossijsk können das Problem für Rußland nicht lösen, denn der NATO-Krieg in Jugoslawien verhindert den Weitertransport des Öls über Bulgarien und Jugoslawien zum Mittelmeer. Der Bosporus wurde von der Türkei für Öltransporte gesperrt; nach einer Niederlage Serbiens würden andere Wege zum Mittelmeer über euroamerikanisches Gebiet laufen.

Die südkaukasische Trasse schien lange nicht realisierbar, weil in allen Staaten, die sie durchkreuzt, in den letzten zehn Jahren Bürgerkriege, ethnische Auseinandersetzungen und zwischenstaatliche Kriege stattfanden, die kaum eine Region ausließen: Bürgerkrieg in Aserbeidschan, Krieg um Berg-Karabach zwischen Armenien und Aserbeidschan, Bürgerkrieg in Georgien um die Regierungsgewalt und mit separatistischen Bewegungen um Autonomie von ethnischen Regionen. In all diesen Kämpfen waren russische Truppen, Berater und Ausrüstungen genauso involviert wie amerikanisches Kapital und türkische Militärberater. In allen Ländern des Südkaukasus setzten sich letztlich die westlichen Interessen durch; es wurden Regierungen etabliert, die von der finanziellen Unterstützung des Westens abhängig sind, so daß im April 1999 die Pipeline vom Kaspischen zum Schwarzen Meer durch Aserbeidschan und Georgien eröffnet werden konnte. Für die großen Ölkonzerne des Westens kann so die Öl- und Gasquelle zu sprudeln beginnen, die in Aserbeidschan, Turkmenistan und Kasachstan mit riesigen, in Vorleistung erbrachten Investitionen neu erschlossen wurde. Als Schlußpunkt fehlt nur noch der ungestörte Transfer durch den Balkan nach Zentraleuropa und zum Mittelmeer.

Europa

Für die EU-Staaten ist der jetzige NATO-Krieg der Schlußpunkt der von ihnen eingeleiteten Zerschlagung der Jugoslawischen Föderation. Noch in der Phase des Zusammenbruchs des realsozialistischen Blocks und auch danach war Jugoslawien ein Symbol für relative Unabhängigkeit von der Aufteilung in globale Interessensphären. Gleichzeitig hatte dort die Klassenauseinandersetzung ein Niveu erreicht, auf dem eine Intensivierung der Ausbeutung blockiert war. Somit stellte Jugoslawien ein wirkliches Hindernis für die vollständige Einverleibung Osteuropas und des Mittelmeerraumes und für die Verbindung zum Schwarzen und zum Kaspischen Meer dar. In der ersten Phase reichte die Förderung des ethnischen und religiösen Separatismus und die Aufrüstung der Abspaltungsarmeen aus; doch in der Auseinandersetzung um Bosnien stießen solche Mittel an ihre Grenzen: statt zur Vereinheitlichung einer Sphäre kapitalistischer Expansion führten sie zu einer Aufspaltung in Einflußsphären, was den Interessen der EU zuwiderlief.

Die neue NATO-Strategie

Die Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Systems und die Bemühungen, den Zusammenbruch zu vermeiden, sind der Grund, warum die NATO ihre Ziele und Einsatzmöglichkeiten neu definierte. In 65 Punkten wurde zum 50. Gründungstag die bisherige Strategie verändert, ohne daß diese Veränderungen einem einzigen Mitgliedsparlament zur Ratifizierung vorgelegt wurden.

Bisher war laut Vertrag der Einsatz von NATO-Truppen auf die Territorialverteidigung gegen Angriffe auf einen Mitgliedsstaat beschränkt. In der jetzt in Washington verabschiedeten neuen Fassung ist dagegen auch von Einsätzen gegen »Risiken umfassender Natur« die Rede, die die »Sicherheitsinteressen des Bündnisses« bedrohen. Im Wortlaut: »Zu diesen Risiken gehören Ungewißheit und Instabilität in und um den euro-atlantischen Raum. (...) Einige Länder sehen sich ernsten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Schwierigkeiten gegenüber. Ethnische und religiöse Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichende oder fehlgeschlagene Reformbemühungen, die Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von Staaten können zu lokaler und selbst regionaler Instabilität führen. Die daraus resultierenden Spannungen könnten zu Krisen führen, die die euro-atlantische Stabilität berühren, sowie zu menschlichem Leid und bewaffneten Konflikten. Solche Konflikte könnten, indem sie auf benachbarte Staaten einschließlich NATO-Staaten übergreifen oder in anderer Weise, auch die Sicherheit des Bündnisses oder anderer Staaten berühren. (...) Die Sicherheit des Bündnisses muß jedoch auch den globalen Kontext berücksichtigen. Sicherheitsinteressen des Bündnisses können auch von anderen Risiken umfassender Natur berührt werden, einschließlich Akte des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie der Unterbrechung lebenswichtiger Ressourcen.«

Hier wird ein Spektrum von Anlässen beschrieben, das so allgemein und umfassend ist, daß jedes wirtschaftliche Hemmnis, jede politische Veränderung, die kapitalistische Interessen berührt, jeder drohende Erfolg von Arbeiterkämpfen als Begründung für eine NATO-Intervention dienen könnte - und zwar auch außerhalb der euro-atlantischen Region und ohne Mandat der UN. Als Bestandteil der neuen »Friedensordnung« - wie er die Kriegssatzung nennt - werden von US-Botschafter Kornblum ausdrücklich auch die »Konsolidierung der Demokratie in Zentral- und Osteuropa«, die »Bewältigung lokaler Krisen in mehreren Teilen der Welt« und die »Zusammenarbeit beim Aufzeigen von Lösungen für eine mögliche weltweite Finanzkrise« genannt (nzz, 3.6.99). Die USA als einzige derzeitige Weltmacht will Weltinnenpolitik betreiben: Sie definieren die Welt nach ihren Interessen und ahnden alle Verstöße gegen dieselben.

Dadurch ziehen die USA aber auch die Wut weiter Teile der Weltbevölkerung auf sich. Um zu verhindern, daß europäische und andere Staaten diese verhaßte Rolle des Weltpolizisten USA für eigene Interessen ausnutzen, versuchen die USA, die anderen NATO-Staaten voll und weltweit in diese Rolle miteinzubinden. Der Jugoslawienkrieg ist dafür eine Nagelprobe.

Die USA werden zu verhindern versuchen, daß sich dem einen Machtpol jemals wieder irgendein anderer entgegenstellt. Ein Hindernis wird mit militärischen Mitteln aus dem Weg geräumt, der Einfluß Rußlands in Osteuropa wird weiter zurückgedrängt und gleichzeitig werden die europäischen Helfer auf ihre Zuverlässigkeit geprüft. Die USA haben sich wieder als »europäische Macht« etabliert. Wie Clinton am 23.3.1999 sagte, würde dieser Krieg, wenn er erfolgreich ist, den Führungsanspruch der USA in Europa entscheidend festigen. Ein Erfolg außerhalb des Rahmens der Zustimmung des UN-Sicherheitsrats würde garantieren, daß kein kollektives Sicherheitssystem in Europa geschaffen würde.

Die neue Doktrin ist auf alle Staaten anwendbar, die militärisch erheblich unterlegen sind. Genau deshalb wirkt sie als Herausforderung für alle Staaten, sich in den Besitz von Atomwaffen zu bringen, um die Aktionsschwelle für die USA hochzuschrauben.

Die neue NATO-Strategie könnte auch als Muster für den ostasiatischen Raum dienen, wo die USA den Einfluß Chinas auf sein Territorium beschränken wollen. Die Bombardierung der chinesischen Botschaft war möglicherweise ein kleiner, drohender Hinweis an China, daß die USA die Entstehung einer weiteren Weltmacht nicht dulden würden.


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