Wildcat-Zirkular Nr. 46/47 - Februar 1999 - S. 40-45 [z46russl.htm]


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Liebe Leute,

wir sind eine kleine anarcho-syndikalistische Gruppe in Moskau (Interprofessionale Arbeiter-Union, russisch MPST), die Moskauer Sektion der KRAS-IAA ist... Inzwischen versuchen wir, mehr aktiv Kontakte mit den autonomen und selbstorganisierten Arbeiter-Gruppen in Rußland herzustellen, um zusammen mit ihnen eine neue, wirklich autonome proletarische Klassenbewegung zu entwickeln.
Wir haben auch Interesse an Kontakten mit den Leuten aus der rätekommunistischen und operaistischen Tradition im Ausland. Sehr interessant sind für uns operaistische Analysen des modernen Kapitalismus, der Arbeitsverhältnisse und der Arbeitskämpfe in der heutigen Welt.
Unsererseits schlagen wir einen regelmäßigen Austausch von Materialien und Analysen vor. Diesmal schicken wir eine Information über die Arbeiterbewegung in Rußland.

Der Bankrott der offiziellen »Arbeiterbewegung«

Die ArbeiterInnenkämpfe in Rußland im Sommer und Herbst 1998 bestätigen noch einmal das, was für die revolutionären Analytiker schon lange klar wurde. Weder mit den »alten«, noch mit den »neuen«, aber nicht weniger bürokratischen Gewerkschaften im ehemaligen »Realsoz« können die ArbeiterInnen eine reale Erfüllung ihrer Rechte erreichen. Die rituellen Teufelskreise, immer wieder dieselben, lassen einfach keinen Platz für die Selbsttätigkeit und für die Realisierung der Forderungen der Leute. Wir sprechen hier nicht mal von der sozialen Revolution, sondern von etwas viel Einfacherem und theoretisch Systemkonformerem, wie z.B. der Auszahlung der Lohnschulden.

Daß die arbeitenden Leute im Rußland ihre Löhne monatelang nicht bekommen und praktisch gratis arbeiten, ohne sogar als einfache Sklaven ernährt zu werden, ist wahrscheinlich schon weltbekannt. Seit Anfang des Jahres wuchsen Lohnschulden insgesamt um 60 Prozent: am 1. Oktober beliefen sie sich auf 88,1 Milliarden Rubel (1 DM = 8-9 Rb.). Den ArbeiterInnen, die im staatseigenen »Budgetsektor« arbeiten, schuldet der Arbeitgeber (der Staat) dabei 20,9 Milliarden Rb. (2,7 mal mehr als im Januar). 80 Prozent des Gemüsebedarfs befriedigen die Leute aus ihren Schreber- und Gemüsegärten. Subsistenzwirtschaft also... Im Osten nichts Neues. Viel weniger bekannt ist aber die Rolle der Organisationen, die offiziell eigentlich die Funktion haben, die Rechte der ArbeiterInnen zu verteidigen, nämlich der Gewerkschaften.

Die rasche Umwandlung des Staatskapitalismus in einen privat-staatlichen, die sich mit der Selbstzerstörung des KPdSU-Regimes vollzog, brachte gewisse Veränderungen in der Gewerkschaftsstruktur mit sich. Aber ein so mächtiges Werkzeug des Ausbeutungssystems sollten die Herrschenden doch weiter behalten. Die »alten« offiziellen Gewerkschaften konnten ihren Besitz wahren. Sie mußten sich einen neuen Namen suchen (»Föderation der Unabhängigen Gewerkschaften Rußlands«, russ. Abkürz. FNPR) und durften keine Betriebsleiter mehr in ihren Reihen haben, aber die alten bürokratischen Strukturen und Arbeitsmethoden blieben unverändert. Es wurde lautstark erklärt, die FNPR stehe total und völlig für eine »soziale Marktwirtschaft«, für die Reformen und für eine »Sozialpartnerschaft« (die eigentlich im Rußland in der Verfassung als obligatorisch vorgeschrieben ist).

Da aber gab es ein Problem. Die FNPR will Sozialpartner der Regierung und der UnternehmerInnen werden; die Herrschenden brauchen sie in dieser Rolle nicht. Die marktwirtschaftlichen Reformen konnten nur auf Kosten der ArbeiterInnen erfolgen, also weg mit dem Sozialstaat »sowjetischer Art« und mit den Möglichkeiten der Zugeständnisse und Kompromisse. Keine »trilateralen Kommissionen« konnten darin was ändern. Und das verurteilte die FNPR-Gewerkschaften zu einer Statistenrolle. An der Basis begann es zu brodeln. Also mußten die Gewerkschaften Streikaktionen organisieren, diese aber so veranstalten, daß sie nach Möglichkeit weniger aktiv, weniger radikal, möglichst symbolisch und - das war die Hauptsache - unter völliger Kontrolle der Bonzen verliefen. Bei kleinster Gefahr der Radikalisierung oder Selbsttätigkeit schloß man einen faulen Kompromiß und alles begann vom vorne.

Dasselbe passierte auch in diesem Jahr. Im Mai organisierte die Bergarbeitergewerkschaft der FNPR die größten Aktionen in der Geschichte des jelzinistischen Rußland. Fast 2 Wochen dauerte die symbolische Blockade der Eisenbahnlinien durch die Bergarbeiter und andere ArbeiterInnen. Die wirklichen Streikaktionen begannen aber erst in den letzten Tagen, und als eine Radikalisierung drohte, beeilten sich die Gewerkschaftsbosse, eine Vereinbarung mit den Behörden zu schließen (die »Widerspenstigen« wurden einfach im Stich gelassen). Man begnügte sich mit der Auszahlung der laufenden Löhne und mit neuen Versprechungen. Bis zum August sollten alle Schulden getilgt sein. Dann kam der Finanzkrach im August. Alle Versprechungen wurden selbstverständlich vergessen. Es wird weiter gekürzt. Am 7. Oktober organisierte dann die FNPR zusammen mit der »Kommunistischen Partei KPRF« von G. Sjuganow, die jetzt gern eine Art National-Sozial-Demokratie spielt, und mit einigen kleineren politischen Gruppen eine »Gesamtrussische Protestaktion«. Solche »Körperbewegungen« sind im heutigen Rußland ganz gut bekannt und können eigentlich niemandem außer den immer wieder auf Sensationen wartenden Journalisten erschrecken. Nominell protestierten über 25 Millionen Leute, es gab Demonstrationen und Pickets in 74 regionalen Zentren und in tausenden von Orten, 73 von ihnen forderten nach den Rücktritt Jelzins. Was für eine großartige Kraft! - konnte man sagen. Die Herrschenden aber blieben ganz ruhig. Sie kennen das reale Potential solcher Komödien ganz genau: Es ist gleich null. Demos und Kundgebungen sind bekanntlich eine der besten Formen der Kanalisierung von Proteststimmungen; was die Streiks anbetrifft, so waren die rituellen Arbeitsniederlegungen für wenige Stunden kaum spürbar. Jetzt droht die FNPR mit einem »unbefristeten Generalstreik« im nächsten Jahr. Man kann sich schon vorstellen, wie der aussehen könnte!

Die FNPR deckt nicht das ganze Spektrum der Gewerkschaftsbewegung im modernen Rußland ab. Es gibt eine Reihe kleinerer Gewerkschaften und Föderationen (»Konföderation der Arbeit«, »Sozprof« u.a.), die in der Perestrojka- und Nachperestrojka-Zeit entstanden, um noch mehr Marktwirtschaft zu fordern. Sie sind nicht weniger bürokratisch strukturiert als die »alten« Gewerkschaften. Die lautstärkste von ihnen ist zweifellos die »Unabhängige Bergarbeitergewerkschaft« (NPG). Nach einer gewissen Zeit der Lethargie (die Mehrzahl der Bergarbeiterstreiks wurde von einer FNPR-Gewerkschaft organisiert) wachte sie plötzlich auf und forderte den Rücktritt Jelzins, den sie vor einiger Jahre noch heftig unterstützt hatte. Im Juni begannen die NPG-BergarbeiterInnen mit einem Protestlager vor dem »Weißen Haus«, dem Regierungsgebäude im Zentrum Moskaus. Die Bilder aus diesem Lager konnte man in mehreren internationalen Medien sehen. Was aber viel weniger bekannt ist, das sind die Arbeitsweise und die Atmosphäre, die in diesem Lager herrschten. Vor allem ist zu erwähnen, daß die gesamte Aktion unter strengster Kontrolle der NPG-Bonzen stattfand. Im Zentrum des Lagers stand ein Schild mit der Mahnung, daß alle mit der Leitung nicht vorher koordinierten Parolen und Materialien verboten sind. Das galt wirklich für die VertreterInnen mehrerer ArbeiterInneninitiativen und Delegationen von verschiedensten Fabriken, die ins Lager kamen, um sich an den Protesten zu beteiligen. Das galt auch für die AnarchistInnen. Nicht aber für die Stalinisten und »roten« Faschisten, die die Aktion ganz rasch entdeckten und bald überfluteten. Im Lager begannen Gespräche über die »Zionistenverschwörung« und die »bösen Juden«, die Rußland regieren und zerstören. Diese Dinge wurden von den NPG-Bonzen nicht unterdrückt, sondern toleriert; man organisierte gemeinsame Aktionen mit diesen politischen Kräften. Jegliche unabhängige Initiativen im Lager (wie z.B. die Einberufung einer souveränen Generalversammlung) wurden erstickt. So ist es nicht verwunderlich, daß immer mehr ArbeiterInnen diese »Protestaktion« verließen. Anfang Oktober spalteten sich dann die, die geblieben waren (die NPG, behinderte Bergarbeiter und die Gruppe vom ZIM-Werk aus Samara). Die NPG-Bonzen erklärten die Aktion für beendet (obwohl sie gar nichts erreicht hatten!) und verließen stolz das Lager, der Rest wurde nach einigen Tagen ohne viel Lärm von der Polizei aufgelöst ...

Im Endergebnis: nichts. Die Reformen gehen weiter, die Preise steigen, die Lohnschulden sind nicht ausgezahlt, Fabriken und Bergwerke werden geschlossen, die Arbeitslosigkeit wächst. Die Krise tobt. Die Rezepte der Herrschenden reichen von der Stärkung der nationalstaatlichen Regulierung bei der Sicherung der Kapitalprofite (à la Peron, wie z.B. bei einem der aussichtsreichsten Bewerber auf die künftige Präsidentschaft, Lushkow, der Bürgermeister von Moskau und Chef der Moskauer Finanzgruppe ist, einen »Sozialdemokraten« spielt und die vollkommene Unterstützung der FNPRFührung genießt) bis hin zur Schließung aller unprofitablen Fabriken bei gleichzeitigem Law-and-order (à la Pinochet, Lieblingsmann eines weiteren Bewerbers: General Lebed). Alle sind nationalistisch. Und alle wollen, daß das Privateigentum und die Marktwirtschaft überleben. Und das ist wiederum nicht anders möglich als auf Kosten der LohnarbeiterInnen. Die werden von niemandem verteidigt, am wenigsten von den aktuellen Gewerkschaften.

Das führt uns zurück zum Anfang. Die bürokratische »ArbeiterInnenbewegung« ist völlig impotent. Wo ist aber eine neue Basisbewegung zu suchen?

Vor dem Beginn einer neuen ArbeiterInnenbewegung in Rußland?

Die letzte Welle der ArbeiterInnenkämpfe in Rußland bestätigte eigentlich eine alte Wahrheit: Mit symbolischen, von den bürokratischen Gebilden kontrollierten Aktionen kann man nicht sehr viel erreichen. Bestenfalls neue Versprechungen - in der Situation einer tiefen allgemeinen Krise, von Fabrikschließungen, Massenarbeitslosigkeit und Massenarmut, monatelanger Lohnschulden usw., im heutigen Alltag also, ist das wenig wert.

Es scheint aber, als ob es wirklich einige neue Erscheinungen gibt, die möglicherweise auf eine Hoffnung deuten. Es geht um einige Basisinitiativen von ArbeiterInnen, die unabhängig von offiziellen Gewerkschaften und Parteien wirken.

Eine der weitestgehenden Erfahrungen stammt von dem ArbeiterInnenkomitee der Industrievereinigung »Rostselmasch« (Rostower Landwirtschaftsmaschinenbau) in südlicher Stadt Rostow an Don. Vor einigen Jahren arbeiteten in dieser Vereinigung noch 50.000 ArbeiterInnen, im Sommer dieses Jahres waren davon nur noch 23.000 übrig; die Kürzungen und die Aussperrungen gehen immer noch weiter.

Die Lage, in der das ArbeiterInnenkomitee kämpft, ist äußerst schwer. Die Betriebsadministration verkauft still die Betriebsausrüstung »unter der Hand«, dem Werk fehlen somit Werkzeugmaschinen, Presse usw., den Leuten fehlt die Arbeit, und die Administration macht ihre Profite. Die Einzelheiten dieser Affäre sind den ArbeiterInnen kaum bekannt. Vor kurzem entstand in einer Werksabteilung von »Rostselmasch« ganz spontan ein Protest; die ArbeiterInnen verhinderten die Abtransportierung der Ausrüstung und stoppten diese. Die Leute stellten Fragen: wohin, warum und zu welchem Zweck macht man das und das? So entwickelte sich zum ersten Mal in »Rostselmasch« ein Realbeispiel der spontanen Arbeiterkontrolle. Die AktivistInnen des Komitees schätzen das als erste wirkliche Äußerungen eines ArbeiterInnenwiderstandes gegen die Schließung des Werkes.

Das ArbeiterInnenkomitee in »Rostselmasch« existiert seit einige Jahre. Seine eigene Erfahrung führte es allmählich zu rätekommunistischen Positionen, indem seine AktivistInnen für eine selbstorganisierte, parteienunabhängige, und klassenorientierte ArbeiterInnenbewegung plädieren. 1996 organisierten die Mitglieder eine unabhängige Gewerkschaft »Arbeiterwiderstand«. Sie kämpfen gegen die Pläne und Versuche der Betriebsschließung und gegen willkürliche Aktivitäten der Betriebsleitung. Das ist kein Stellvertreterkampf. Die AktivistInnen des ArbeiterInnenkomitees verstehen und erklären ganz klar, daß nur die ArbeiterInnen selbst die Schließung der Fabrik stoppen können. Selbstorganisation heißt für sie vor allem die Einberufung der souveränen ArbeiterInnenversammlungen, die Versuche der ArbeiterInnenkontrolle über die Verwendung der Ausrüstung und der Finanzen sowie die Versuche, die Kenntnisse der ArbeiterInnen zu erhöhen, damit sie irgendwann dazu fähig sein werden, die Leitung der Produktion in ihre eigenen Hände zu nehmen. Eben diese ArbeiterInnenversammlungen sollen die Frage der ArbeiterInnenkontrolle bestimmen. Am 1. Juni dieses Jahres fand die erste solche Versammlung statt; an ihr nahmen trotz der Hemmnisse seitens der Betriebsleitung etwa 300 Leute teil; an einer weiteren am 1. Juli nahmen 200 teil. Die TeilnehmerInnen forderten die Auszahlung der Lohnschulden sowie die ArbeiterInnenkontrolle. Es gab auch reale Versuche, sich Zugang zur Finanzdokumentation zu verschaffen. Die Betriebsleitung startete eine Gegenoffensive. Einer Aktivistin des ArbeiterInnenkomitees droht jetzt eine Klage wegen einer »unerlaubten Demonstration«! Die Administration versucht weiter, nichtloyale ArbeiterInnen nicht ins Werk hineinzulassen oder die Produktion »vorübergehend« stillzulegen. Der Widerstand dagegen braucht aber viel mehr Kraft, Organisiertheit und Koordination, als derzeit vorhanden sind.

Die Unmutstimmung der ArbeiterInnen wird inzwischen von »Oppositionellen« aus der neostalinistischen »Kommunistischen« Partei (KPRF). Sie bringen der ArbeiterInnenbewegung großen Schaden, indem sie mit aller Kraft die Betriebsleitung rechtfertigen und die ganze Schuld auf die Behörden in Moskau schieben. Die KPRF versucht mit Unterstützung der Betriebsleitung, parallele ArbeiterInnenversammlungen zu organisieren und loyale Organe aufzubauen. Das erschwert ziemlich die weitere Selbstorganisation und Radikalisierung.

Die ArbeiteraktivistInnen aus Rostow versuchen inzwischen die Kontakte mit anderen unabhängigen ArbeiterInneninitiativen zu organisieren. Sie haben bereits Beziehungen mit einigen Bergarbeitern an der Basis in ihrer Region. Dann nahmen sie an einem Protestlager der Bergarbeiter vor dem Regierungsgebäude in Moskau im Sommer dieses Jahres teil. Dort versuchten sie mehr Basisdemokratie: der Gedanke der Generalversammlungen der »LagerbewohnerInnen« wurde aber durch die bürokratische Führung der Bergarbeitergewerkschaft NPG, die die Ereignisse sehr fest unter ihrer Kontrolle hatte, heftig unterdrückt; die »unloyalen« ArbeiterInnen sollten dann das Lager verlassen. Auf der Suche nach unabhängigen und klassenorientierten ArbeiterInnengruppen besuchten die Leute aus Rostow einige Betriebe und Arbeiterkonferenzen im Zentralrußland.

Man soll ganz ehrlich unterstreichen, daß die Elemente einer neuen ArbeiterInnenbewegung noch ganz am Anfang sind. Die Initiativen wie die in »Rostselmasch« sind aber so vielversprechend wie wahrscheinlich keine zuvor in Rußland.

Vadim Damier (KRAS-IAA)

P.S. Die Arbeiter aus Rostov suchen Kontakte mit autonomen und selbstorganisierten Gruppen der Arbeiterbewegung.Die Adresse könnt ihr über die Berliner Wildcat-Adresse erfragen.


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