Wildcat-Zirkular Nr. 36/37 - April 1997 - S. 3-10 [z36edito.htm]


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Editorial

In diesem Zirkular findet ihr wieder eine Mischung aus Berichten über aktuelle Kämpfe und theoretischen Texten. Daher ist wieder eine Doppelnummer entstanden. Der Ausdruck »Mischung« ist für uns im Unterschied zu manchen Kaffeemarken kein Gütesiegel, sondern ein grundlegender Mangel, den es zu überwinden gilt. »Mischung« heißt nämlich, daß verschiedene Teile nicht miteinander verbunden, sondern nur äußerlich - in diesem Fall durch die Klebebindung von einzelnen Blättern - zusammengehalten werden.

Die Berichte über Albanien, die Bergarbeiter oder die PutzarbeiterInnen in Bochum bleiben weitgehend auf einer beschreibend-empirischen Ebene - die theoretischen Texte arbeiten an einer radikalen theoretischen Kritik der Verhältnisse, führen sie aber nicht an der wirklichen Geschichte durch. Dieses schlechte Nebeneinander gilt dem gesunden Menschenverstand als das Normale, als die übliche Trennung von »Empirie« und »Theorie«, von »Konkretem« und »Abstraktem«, von »Praxis« und »Theorie«. In der Vorbemerkung zum Beitrag »Über Antikapitalismus« im letzten Zirkular wird eine »allgemeine Diskussion fernab der Empirie« verlangt. Das dahinterliegende Motiv ist klar und ihm können wir nur zustimmen: bloße Berichte, Beschreibungen, Erzählungen von Streiks und Kämpfen überall auf der Welt sagen uns immer weniger, was ihre historische Dynamik ist, inwiefern sie Momente eines revolutionären Prozesses sind. Offensichtlich fehlen uns die Kategorien und Kriterien, um der Frage nachzugehen, wie sich in den aktuellen Kämpfen die unmittelbaren Motivationen mit der historischen Überwindung der gegenwärtigen Form von Gesellschaft verbinden - wie im Bericht über die AsylbewerberInnen in Bochum gesagt wird: »Wir unterstützen die Aktion (...), weil wir in diesem Kampf für bessere Bedingungen Ansatzpunkte für Kämpfe gegen die kapitalistische Ausbeutung an sich suchen. Es fällt uns allerdings schwer, diese Spanne zwischen Unterstützung der Aktion und weitergehender Zielsetzung auch deutlich zu machen.« Aus all diesen Kämpfen je für sich betrachtet, isoliert und vereinzelt, läßt sich diese Frage auch nicht beantworten, sie läßt sich so eigentlich noch nicht einmal stellen. Wenn mit »Empirie« das gemeint ist, die Isoliertheit und Unverbundenheit der jeweiligen Bewegungen, dann ist dem Aufruf nach einer Diskussion »fernab der Empirie« zuzustimmen. Aber »fernab« heißt dann nicht, die »Fakten« zu ignorieren und in eine philosophische Welt der kritischen Kritik und der moralischen Kritik zu flüchten (wie es in der aktuellen Renaissance der »Frankfurter Schule« geschieht), sondern sie durch und in einer theoretischen Diskussion zum »Sprechen« zu bringen. Der in diesem Sinne schlechte Empirismus der Berichte zeigt uns, wie dringend notwendig eine theoretische Diskussion ist, die den Gesamtzusammenhang aufhellt, in dem sich die vereinzelten Kämpfe bewegen.

Diese theoretische Anstrengung ist zugleich eine praktische. Denn die Kämpfenden selber setzen sich tagtäglich mit ihren Widersprüchen, ihren Illusionen, ihren Begrenztheiten auseinander. Revolutionäre Theorie ist keine objektive Wissenschaft, in der ein neutraler Beobachter Aussagen über eine von ihm getrennte objektive Welt macht (siehe dazu Bonefeld in diesem Zirkular), sondern sie ist selbst Teil und Moment der Kämpfe. Einfacher ausgedrückt: auch unsere Flugblätter sind so schlecht, wie wir theoretisch die Zusammenhänge nicht begreifen (siehe die im letzten Zirkular begonnene Diskussion). Theorie ist wesentlich Kritik, nicht nur an den Verhältnissen (dem bösen Kapital), sondern an uns selber und unserer gesellschaftlichen Praxis, die erst diese zu »objektiven Verhältnissen« erstarrte Welt produziert. Sich theoretisch die Zusammenhänge klarzumachen, in denen und durch die hindurch sich die Macht des Kapitals reproduziert, heißt immer die eigene Praxis zu kritisieren und über ihre vorgefundene Form hinauszugehen. »Militante Untersuchung« ist keine soziologische Methode, um neue Konfliktfelder zu finden. Ein wesentliches Moment ihres ursprünglichen Konzepts war die Kritik und Selbstkritik innerhalb der Arbeiterklasse selbst. Es ging darum, die Mystifizierungen zu entschlüsseln, mit denen die ArbeiterInnen sich (und wir uns) der Ausbeutung unserer gesamten Lebendigkeit alltäglich unterwerfen. Die Kritik des Kapitals ist vor allem die Kritik der ArbeiterInnen, schreibt Werner Bonefeld, weil das Kapital nichts anderes als die »ver-rückte Daseinsweise« der gesellschaftlichen Arbeit selbst ist. Unsere »eigene politische Praxis« und unsere theoretischen Vorstellungen stehen nicht außerhalb dieser gesellschaftlichen Praxis, sondern sind ein Teil von ihr. Sie müssen ebenso der Kritik unterworfen werden, um ein kritisches Moment innerhalb dieser gesellschaftlichen Praxis sein zu können, statt ihre fixen Formen zu akzeptieren.

I. Das theoretische Bedürfnis in den praktischen Kämpfen: Alle vier Texte zu aktuellen Kämpfen in diesem Zirkular (Albanien, Renault, Bergarbeiter, Putzarbeit von AsylbewerberInnen) drücken die Widersprüche und die Offenheit der Situation aus. Geht es in Albanien um mehr als nur das verlorene Kreditgeld und eine ordentliche Demokratie, bleiben die Kämpfe der Renault-ArbeiterInnen in Belgien und der Bergarbeiter in Deutschland in einem nationalistischen Korporatismus stecken, kämpfen die Arbeitsimmigranten hier nur darum, zu denselben Tarifen wie die Einheimischen ausgebeutet werden zu dürfen? Diese Fragen werden sich nicht allein durch noch so genaue Detailbeobachtungen in den einzelnen Fällen beantworten lassen, sondern nur im Gesamtzusammenhang zur Entwicklung dieser Gesellschaft. In Albanien, so wird uns von der Presse der Kapitalisten gesagt, handele es sich um »Übergangsprobleme« auf dem Weg zur »freien Marktwirtschaft« (neuerdings wird diese auch in den bürgerlichen Medien wieder unverhohlener als »Kapitalismus« bezeichnet). Ein Problem des »Übergangs« kann es natürlich nur dann sein, wenn schon klar ist, wohin die Reise geht. Für die bürgerliche Ideologie steht das außer Frage: nach 1989 hat sich die bürgerliche, kapitalistische und demokratische Gesellschaftsform weltweit durchgesetzt und bildet das definitive und glückliche Ende der historischen Entwicklung. Nur in ein paar Gegenden der Welt tun sich die Menschen noch etwas schwer damit, sich an die neuen Spielregeln zu gewöhnen, die doch nur zu ihrem besten sind - z.B. in Rußland, in Bulgarien oder jetzt äußerst dramatisch in Albanien.

Ganz so siegesgewiß wie 1990 tritt diese bürgerliche Ideologie im Moment nicht mehr auf, da es überall auf der Welt mächtig knirscht im Räderwerk des »freien Kapitalismus«. Die Herrschenden haben einen Diskurs über die Gefahren der »Globalisierung«, des »Turbokapitalismus«, des »zügellosen Kapitalismus« usw. in Gang gesetzt. Dabei geht es beileibe nicht um die Frage nach einer Alternative zum Kapitalismus, sondern um die nach ein paar kleinen Korrekturen, die möglicherweise notwendig sind, um ihn zu retten - natürlich vor dem »Chaos«, dem »Bürgerkrieg«, dem »Auseinanderfallen der Gesellschaft«. Der reale Verlauf und die Forderungen von Kämpfen wie im deutschen Bergbau, bei Renault, den spanischen LKW-Fahrern oder den Aktionen von Arbeitsimmigranten scheinen ihnen recht zu geben: egal, wie militant oder gezähmt die Kampfformen sind, die Forderungen richten sich an den Staat und die eigene Reproduktion wird ganz selbstverständlich an die Form der Lohnarbeit und damit an die Entwicklung des Kapitals gebunden. Gehen also Konzepte einer moderaten Re-Regulierung des Kapitalismus im Sinne von »Aufstandsbekämpfung« (und nichts anderes ist dieser Diskurs um »Globalisierung« und »Turbo-Kapitalismus«) auf?

Praktisch ist der Aufstand in Albanien weit darüber hinausgegangen, indem er den Staat weggefegt und ansatzweise eigene Organe des gesellschaftlichen Zusammenlebens geschaffen hat. Welche Perspektive darin liegt, entscheidet sich heute am allerwenigsten in Albanien selbst. Aus der Betrachtungsweise des Kapitalismus als Weltsystem hat Immanuel Wallerstein dem Kapitalismus nach 1990 nicht seinen Sieg, sondern den Beginn seines Untergangs bescheinigt. Im Zusammenbruch des Ostens, also genau dem, was den Bürgerlichen als ausschlaggebender Faktor für die endgültige Durchsetzung kapitalistischer Warenproduktion und demokratischer Herrschaft gilt, sieht er die größte Schwäche des globalen Kapitalismus: »... weder in Osteuropa noch irgendwo sonst auf der Welt ist es wahrscheinlich, daß die Menschen jemals wieder an die leninistische Version der Versprechungen eines rationalen Reformismus (unter der Bezeichnung sozialistische Revolution) glauben werden. Für den Weltkapitalismus ist das natürlich ein Desaster, denn der Glaube an den Leninismus diente mindestens fünfzig Jahre lang als die wichtigste Kraft, um die gefährlichen Klassen im Weltsystem im Zaum zu halten. In der Praxis hatte der Leninismus einen äußerst konservativen Einfluß, indem er den unvermeidlichen Sieg des Volkes predigte (und damit indirekt zur Geduld aufrief). Der beschützende Schleier des Leninismus ist den herrschenden Schichten des Weltsystems nun abhanden gekommen. Die gefährlichen Klassen könnten nun wieder wirklich gefährlich werden. Politisch betrachtet ist das Weltsystem instabil geworden.« (Immanuel Wallerstein, The End of what Modernity, in: ders., After Liberalism, New York 1995, S. 141) Für Wallerstein ergibt sich daraus das definitive Ende dieses Weltsystems, aber nicht zwangsläufig eine bessere Welt: »... wir bewegen uns tatsächlich auf ein anderes historisches System zu. Das moderne Weltsystem kommt an sein Ende. Es wird jedoch mindestens fünfzig weitere Jahre einer Endkrise, d.h. des 'Chaos', bedürfen, bevor wir hoffen können, in eine neue gesellschaftliche Ordnung einzutreten. Unsere Aufgabe heute und in den nächsten fünfzig Jahren ist die Aufgabe von Utopisten. Es ist die Aufgabe, diese neue gesellschaftliche Ordnung auszudenken [imagining] und um ihre Verwirklichung zu kämpfen. Denn es ist keinesfalls ausgemacht, daß auf das Ende eines historischen Systems der Ungleichheit ein besseres folgen wird.« (ebd., S. 144)

Wenn diese Einschätzung zutrifft, dann ist Albanien - wie immer sich der Verlauf in den nächsten Wochen entwickeln wird - nicht Ausdruck von »Übergangsproblemen« zur Marktwirtschaft, sondern von »Untergangsproblemen« des Kapitalismus, und die Praxis der Aufständischen in Albanien ist bereits Teil der kollektiven Anstrengung, uns eine »bessere« weltweite Gesellschaftlichkeit »auszudenken«.

II. Zusammenhänge in der theoretischen Diskussion - Lesehinweise: Im Aufsatz Das Kapital als Subjekt und die Existenz der Arbeit von Bonefeld aus dem dritten Band von »Open Marxism« geht es um die Vorstellungsweise vom Kapital als »automatischem Subjekt«, die keineswegs nur akademische Gehirne prägt. Betrachten wir den Aufstand in Albanien oder die Kämpfe der Renault-ArbeiterInnen auf der Ebene der konkreten Abläufe, dann reagieren immer die ArbeiterInnen, die lebendigen Menschen, auf bestimmte Entwicklungen in der Welt des Kapitals: das albanische Pyramidenkapital bricht zusammen und kann die Kredite nicht zurückzahlen, das Kapital von Renault verwertet sich nicht und ArbeiterInnen werden entlassen. Ganz unmittelbar scheint der auslösende Faktor und das Subjekt in der ganzen Entwicklung das Kapital zu sein. Diese Sichtweise taucht auch in den neueren »operaistischen« Texten (z.B. von den Midnight Notes, Harry Cleaver oder Toni Negri) auf, die wir selber immer wieder übersetzt und in die Diskussion gebracht haben: dort ist zwar die Arbeiterklasse das entscheidende Subjekt, aber nur insofern es das andere Subjekt, das Kapital, zu diesem oder jenem Reagieren zwingt. Dann tritt, wie bei einem Ping-Pong-Spiel, das Kapital als Subjekt auf und setzt seine Strategien durch. Auch der Aufsatz von Harry Cleaver im Zirkular 30/31 enthält diese Sichtweise - die historische Entwicklung als Angriff und Gegenangriff zweier sich äußerlich gegenüberstehender Subjekte. Damit, so Bonefeld, seien Strukturalismus und Autonomismus (im Sinne von Cleaver oder Negri) nur die Kehrseiten derselben Medaille. Beide schaffen es nicht, die versteinerte und verzauberte Welt des Kapitalismus in radikaler Weise auf die gesellschaftliche Praxis zurückzuführen, was eine wirklich revolutionäre Perspektive erst möglich machen würde, nämlich die Perspektive, daß wir uns selber die Welt ausdenken und schaffen, in der wir leben wollen. Diese Möglichkeit, die bei Wallerstein nur ein politisches Postulat in der aktuellen Weltkrise ist, versucht Bonefeld »materialistisch« zu begründen, indem er ausgehend von der »Kritik (!) der politischen Ökonomie« zeigt, daß es sich bei all den Formen, die uns als fremde ökonomische Dinge umgeben (von Warenpreisen bis Börsenkursen), um konstituierte Formen handelt, d.h. um die historischen Daseinsweisen gesellschaftlicher Praxis, insbesondere der Arbeit. Das impliziert politisch keine Verteidigung der Interessen der Lohnarbeit, sondern ihre Kritik als Lohnarbeit: »Der Standpunkt des Kapitals und der Standpunkt der Lohnarbeit ist derselbe.«

Den Aufsatz Die globale Akkumulation des Kapitals und die Periodisierung der kapitalistischen Staatsform von Simon Clarke hält der Übersetzer für so ärgerlich, daß er ihn eigentlich nicht zum Abdruck vorgeschlagen hätte. Er präsentiert die faden Abziehbilder aus den ML-Geschichtsbüchern in einer ebenso faden Sprache, mit immer denselben leeren Begriffshülsen: Produktivkräfte, ihre ungleichmäßige Entwicklung (was immer das heißen soll), Kapitalakkumulation, Arbeiterklasse und ihre Integration, Imperialismus und Sozialdemokratie, Überakkumulation ... Keiner dieser Begriffe wird erklärt, dargestellt, gesagt, was damit gemeint ist. Sie sind fix und fertig da und Clarke hantiert mit ihnen wie in einem Kartenspiel. Daran ändert auch seine kritische Rücknahme am Schluß nichts, da er nicht die Art und Weise, wie er mit diesen Kategorien umgeht, in Frage stellt, sondern sich nur aus dem Problem der Periodisierung herausstiehlt. Daß wir ihn hier abdrucken, hat vor allem drei Gründe: 1. bezieht sich Bonefeld auf diesen Text, und wer ihn gelesen hat, wird besser verstehen, warum Bonefeld so eindrücklich und emphatisch nach dem Konstituiertsein der Formen fragt. Er kritisiert dabei den Ansatz von Clarke, weil er im Unterschied zu den Strukturalisten und Regulationisten dem Klassenkampf eine wichtige Rolle einräumt, aber trotzdem das Kapital als das eigentliche Subjekt der Geschichte akzeptiert. 2. ist die Darstellung bei Clarke mit seinem Hin-und-Her von Kapitalentwicklung und Klassenkampf nicht unähnlich den Vorstellungen, wie sie im neueren »US-amerikanischen« Operaismus gepflegt werden und unsere Diskussionen beeinflußt haben. Möglicherweise lassen sich die Schwachpunkte des eigenen Denkens in seiner Karikatur deutlicher wahrnehmen. 3. geht es um ein wichtiges Thema. Die Frage nach einer »Periodisierung« der historischen Entwicklung und insbesondere der kapitalistischen Staatsform ist aktuell sehr wichtig, wo alle Welt vom Ende des keynesianistischen Wohlfahrtsstaats spricht, ohne daß überhaupt geklärt ist, was der Staat als solcher und seine angeblich besondere Form als Sozialstaat sein soll. Dazu müßten wir über die von der herrschenden Geschichtsschreibung und Politikwissenschaften vergebenen Titel wie »Liberalismus« und »Keynesianismus« hinausgehen. Wie schwierig das ist, zeigt der Aufsatz von John Holloway im Zirkular 28/29, der inhaltlich einige Mythen über den »Keynesianismus« zerstört, aber bei der Periodisierung an diesem Etikett hängenbleibt. Der historische Einschnitt in den 70er Jahren wird damit weiterhin begrifflich am Staat festgemacht, der so doch wieder als Subjekt unterstellt ist, und nicht an den Bewegungen der Arbeiterklasse. Um das Begreifen des historischen Bruchs aus dem Inneren der Arbeiterklasse selbst geht es in den folgenden Texten.

Die zwei nächsten Beiträge stammen aus dem Umfeld des italienischen Operaismus und gehen dem zentralen Begriff der Klassenzusammensetzung und ihrer Veränderung nach. In dem kurzen Zeitungsartikel Der verlorene Ort des Konflikts korrigiert Marco Revelli die übliche Betrachtungsweise der 77er Bewegung in Italien als die häßliche und destruktive Revolte im Vergleich zu der »schönen Revolution« von 1968. Die 77er Bewegung sei viel stärker als '68 der Anfang von etwas Neuem gewesen. Indem sie das endgültige Ende der hegemonialen Kultur einer Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts markierte, stellte sie erstmals radikal die Frage, wohin sich der Ort des antagonistischen Konflikts angesichts der Umstrukturierungen in der Produktion verlagert. Die Frage ist nach Revelli weiterhin offen, aber sie sei von den »Chaoten« von '77 zum ersten Mal in visionärer Weise aufgeworfen worden. [1]

Im zweiten Text - Massenarbeiter und gesellschaftlicher Arbeiter - einige Bemerkungen über die »neue Klassenzusammensetzung« - setzt sich Roberto Battaggia 1980 kritisch mit einer theoretischen Behauptung Negris auseinander, welche vor allem den hegemonialen Anspruch der »Organisierten Autonomie« über die Jugendbewegung von '77 zum Ausdruck gebracht, theoretisch aber sehr elegant und vielversprechend am operaistischen Erbe angesetzt hatte: der »gesellschaftliche Arbeiter«, Träger der neuen Bewegung und Erbe des »Massenarbeiters«, sei die neue ziehende Klassenzusammensetzung, die in ihren Verhaltensweisen von »Selbstverwertung« bereits den Kapitalismus überwunden habe ... Ganz pragmatisch hatten wir schon damals ein anderes Verhältnis zu Negris Thesen, denn die befreiende »Selbstverwertung« hatten wir in den sich rasch kapitalisierenden »Alternativbetrieben« in der BRD direkt vor der Nase, und auch heute werden von Cleaver oder Negri allzu leichtfertig Verhaltensweisen mit dem Etikett »Selbstverwertung« belegt, die unschwer als Formen der Reproduktion des Kapitals zu erkennen sind.

Theoretisch-politisch war die These von Negri allerdings der Versuch, eine historische Zäsur im Klassenkampf zu begreifen, die nach wie vor eine offene Frage darstellt. Der Aufsatz von 1980, der mit heißer Feder in der politischen Auseinandersetzung geschrieben wurde, rekapituliert den Ausgangspunkt und die theoretischen Grundlagen des »ersten Operaismus« und zeigt, warum der Versuch von Negri nicht gelingen konnte: »Das typisch operaistische Interpretationsschema (das begrifflich auf die Fabrik bezogen ist) verliert, wenn es ausgeweitet wird, um das 'Gesellschaftliche' zu begreifen, unausweichlich sein charakteristischstes Kennzeichen: die enge Verbindung Subjektivität-Objektivität, Produktionsweise-Rebellionsweise.« Trotzdem ist z.B. von Harry Cleaver die These des gesellschaftlichen Arbeiters weitergeführt worden, wobei der Begriff »Klassenzusammensetzung« immer mehr seinen politischen Inhalt verloren hat und heute zunehmend nur noch die Beschreibung einer soziologischen Mischung der Arbeiterklasse aus verschiedenen Gruppen und Schichten meint - oder irrtümlich, wie in Holloways Text Krise, Fetischismus, Klassenzusammensetzung im Zirkular 34/35, zur Kennzeichnung einer besonderen politischen Qualität und Stärke der Arbeiterklasse gebraucht wird. Den engen Zusammenhang zwischen Subjektivität (Gesamtarbeiter - Arbeiterklasse) und Objektivität (das Kapital und seine Gestalt im Produktionsprozeß als Einheit von Arbeits- und Verwertungsprozeß) gibt es dann aber nicht mehr, sondern zwei getrennte Welten von Arbeiterklasse und Kapital, die nur äußerlich aufeinander einwirken. Zur Kritik dieser Vorstellung siehe den Text von Werner Bonefeld in diesem Zirkular.

Der Aufsatz »Massenarbeiter und gesellschaftlicher Arbeiter« erinnert daran, daß der frühe oder erste Operaismus gerade keine subjektivistische Betrachtungsweise war, sondern von der »historisch bestimmten Materialität der Ausbeutung« ausging, um den Antagonismus bestimmen zu können. Dies habe ihn davor bewahrt, »den Kämpfen von außen und ganz willkürlich einen 'Sinn' beizumessen, der von ihren Inhalten losgelöst wäre.« (... eine Versuchung, von der wir uns auch nicht immer freisprechen können.) Entsprechend präzise bemühte sich z.B. Romano Alquati [2], im unmittelbaren Produktionsprozeß die Vorgänge zu identifizieren, durch die den ArbeiterInnen ihre eigenen Tätigkeiten als Qualitäten des Kapitals und seiner Hierarchie erscheinen.

Dem letzten Aufsatz in diesem Zirkular, Kerne kontrollierter Selbständigkeit - Die Textil- und Bekleidungsindustrie im Veneto von Devi Sacchetto, ist die Herkunft aus einer Uni-Arbeit anzumerken, daher liegen die wesentlichen Thesen etwas versteckt im Text. Im letzten Zirkular hatten wir seinen kurzen, politisch zugespitzteren Beitrag Der globale Instinkt übersetzt, in dem er davor warnt, in der Globalisierungsdebatte nur die magischen Fähigkeiten des Kapitals zu sehen. Stattdessen müssen wir zunächst einmal genau hinschauen, was wirklich passiert, welche Kräfte sich gegenüberstehen (siehe Albanien), und genau das hat Devi Sacchetto im Rahmen einer umfassenden Arbeit getan, die er in diesem Artikel zusammenfaßt. Er konzentrierte seine Untersuchung auf den Veneto (wo er selber wohnt und die Arbeiterinnen kennt, mit denen er viele Interviews gemacht hat), also auf das mystifizierte Industrie-Dreieck im Nordosten Italiens, von wo aus die berühmt-berüchtigten Textilkonzerne Benetton, Stefanel u.a. ihren Siegeszug um die Welt antraten. Er untersucht im einzelnen wie die »dezentralisierte Fabrik« mit ihren »Kleinbetrieben« und »flexiblen Netzwerk-Unternehmen« dort funktioniert. Die Redaktion der Zeitschrift »altreragioni«, der wir diesen Aufsatz entnommen haben, hat einige Untersuchungen zu Kleinbetrieben veröffentlicht, um endlich aus der Entgegensetzung zwischen post-fordistischen Märchenerzählern der »neuen Kreativität«, »Ende der Klassengesellschaft« usw. und der sturen Behauptung der »Zentralität der Großfabrik« rauszukommen. Indem Devi die Dynamik in den neuen Produktionsstrukturen untersucht, vermeidet er formale Gegenüberstellungen von Klein- und Großbetrieb, von selbständigen Arbeitern und Kleinunternehmern, wie wir sie in unseren Diskussionen finden. Er zeigt z.B., daß die Kleinunternehmer einerseits für die Großkonzerne wie Arbeiter im Akkordlohnsystem funktionieren, wie aber andererseits der Gründermythos dieser »Selbständigen« sich spätestens in der nächsten Generation von »Firmeninhabern« zur »ganz normalen Klassenspaltung« zwischen Chefs und ArbeiterInnen verfestigt. Die Gründermythen können also nicht reproduziert werden und auf Dauer die Rückkehr des offen Klassenkonflikts verhindern.

Köln, F., Anfang April 1997


Fußnoten:

[1] Von Marco Revelli haben wir das Buch »Lavorare in Fiat« übersetzt (»Schichtwechsel: Fiat und die ArbeiterInnen«, Thekla 15, leider vergriffen), in dem er die Geschichte der Kämpfe bei Fiat von der Wanderung der Süditaliener nach Norden bis zur Niederlage der ArbeiterInnen 1980 darstellt. Das Buch endet mit einem pessimistisch getönten Epilog vom Ende der 80er Jahre - eben »der verlorene (und noch nicht wiedergefundene) Ort des Konflikts«.

[2] Siehe vor allem Romano Alquati, Organische Zusammensetzung des Kapitals und Arbeitskraft bei Olivetti, in: Thekla 5; sowie seine Schriften zu Fiat in Thekla 6. Siehe auch: Raniero Panzieri, Über die kapitalistische Anwendung der Maschinerie im Spätkapitalismus (Thekla 7).


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