Wildcat-Zirkular Nr. 30/31 - November 1996 - S. 134-142 [z30khrot.htm]


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Verabredungen mit wem?

Karl Heinz Roth (aus: Pietro Ingrao / Rossana Rossanda: Verabredungen zum Jahrhundertende. Eine Debatte über die Entwicklung des Kapitalismus und die Aufgaben der Linken)

Daß ihr im vergangenen Jahr veröffentlichter Essay über die Perspektive der Linken im ausgehenden 20. Jahrhundert auch in Deutschland auf breites Interesse stoßen wird, dessen können sich Rossana Rossanda und Pietro Ingrao gerade aufgrund ihrer Konzentration auf die spezifisch italienische Problemlage gewiß sein. [1] Italien war seit Ende der 1970er Jahre neben Japan das wichtigste Experimentierfeld zur Durchsetzung jenes epochal-systemimmanenten Wandels der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, der mit dem Begriff »Postfordismus« inzwischen seine allgemein anerkannte Definition erfahren hat. Zudem ereignete sich diese Transformation in einem Land, in dem seit dem Ende des zweiten Weltkriegs die stärksten und initiativreichsten Flügel der kommunistischen bzw. neuen Linken des Westens beheimatet waren. Wenn sich 1994/95 zwei besonders profilierte Exponenten dieser beiden Strömungen zusammentaten, um im gemeinsamen Insistieren auf die inzwischen allseits verketzerte kommunistische Utopie Bilanz zu ziehen, dann ist die Publikation der Ergebnisse zweifellos ein wichtiges Ereignis. Es ist wahrhaft überfällig geworden, selbstkritisch die Wertmaßstäbe, Rahmenbedingungen und strategischen Zielpunkte der Hauptströmungen der Linken zu überprüfen, denn sie haben alle in den vergangenen 20 Jahren weitreichende Niederlagen erlitten und spätestens seit dem Untergang des sogenannten realen Sozialismus und dem Golfkrieg ihren Einfluß auf Politik und Gesellschaft fast vollständig verloren.

Der Essay enthält wichtige Erkenntnisse und formuliert bedeutsame Hypothesen zum Verständnis der gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Dynamik des zurückliegenden Vierteljahrhunderts. Der seit 1971/73 im Kontext der Aufkündigung des Gold-Dollarstandards in Gang gekommene globale Gegenangriff gegen die »Lohn- und Demokratie-Exzesse« der damaligen Sozialbewegungen wird präzis auf den Punkt gebracht. Er wird mit einer kenntnisreichen Analyse des internationalen machtpolitischen Strukturbruchs von 1989/90 verknüpft, der nicht nur die Bipolarität des Kalten Kriegs beendete, sondern Deutschland als europäische Vormacht restauriert und vor allem die endgültige Entfesselung des Postfordismus zur einzigen globalen Gesellschaftsformation bewirkt hat. Die höchst labilen Beziehungen zwischen finanzkapitalistisch-machtpolitischer Globalisierung und sozioökonomischen Regionalisierungen werden herausgearbeitet und mit dem fortschreitenden Regulationsverlust der klassischen Nationalstaaten überzeugend erklärt. Auch ist den Verfassern uneingeschränkt zuzustimmen, wenn sie ihren politisch-publizistischen Zusammenhängen bescheinigen, den dramatischen Wandel der strategischen Rahmenbedingungen nicht erkannt zu haben und gegenüber den Rückwirkungen auf die spezifisch italienische Klassenkonstellation blind geblieben zu sein. Dieser internationale Blickwinkel hat sie denn auch befähigt, die seit dem Wahlsieg der italienischen Rechten vom März 1994 grassierende absurde Debatte über eine angebliche Rückkehr des Faschismus zu beenden. Zu recht bescheinigen sie den medienkapitalistischen Exponenten der »konservativen Revolution«, was sie in Wahrheit sind: Manager eines »verschlankten« Staatswesens, die die öffentlichen Angelegenheiten erstmalig als ein dem Postfordismus vollständig adäquates Regierungsexperiment betreiben. Es gibt somit eine Menge von Argumenten und Reflexionen, die den Beitrag Rossanda's und Ingrao's für all jene unverzichtbar machen, die sich um ein kritisches Verständnis des Epochenbruchs bemühen, der im vergangenen Vierteljahrhundert stattgefunden hat. Doch dies ist alles andere als ein akademisches Problem. Es geht Rossanda und Ingrao letztlich um die Klärung der Frage, warum auch die italienische Linke, unter deren Einfluß seinerzeit wie in keinem anderen europäischen Land studentische und Arbeiterrevolten zu koordiniertem Handeln gefunden hatten, in eine ausweglos scheinende Krise geraten ist.

Ambivalent und nicht aufhellend genug erscheinen mir die Überlegungen, die Rossanda und Ingrao über die trotz aller internationalen Rückwirkungen doch weitgehend hausgemachten Aspekte des Niedergangs der italienischen Linken vortragen. Was sie über die illusionären Praktiken des »historischen Kompromisses« der KPI und die damit gepaarte Intoleranz gegenüber der Jugendrevolte sowie der Arbeiterautonomie schreiben, ist durchaus schlüssig und nachvollziehbar (wenn man von einigen deutlich durchscheinenden Ressentiments gegen die rebellische T-Shirt-Generation von 1968 absieht). Dennoch skizzieren sie nur die »Überbau«- Seite jenes tragisch ausgegangenen Konflikts zwischen dem letztlich systemstabilisierenden kommunistischen Traditionalismus und den Kadern der jugendlichen Massenarbeiter bzw. Arbeiter-Techniker, der zum irreparablen inneren Vernichtungskampf führte: hier die Beharrungstendenzen eines seiner sozialen Verankerungen weitgehend verlustig gegangenen Parteiapparats, und dort die Exzesse der bewaffneten Gruppen, die schließlich unter aktiver Mitwirkung der KPI ausgelöscht wurden. Ich möchte hier nicht mißverstanden werden. Der gravierende Fehler bestand darin, daß angesichts einer in ihrer strategischen Reichweite deutlich faßbar gewordenen kapitalistischen Gegenoffensive alle Brücken, die zwischen den Repräsentanten defensiver Reformstrategien und offensiver Revolutionserwartungen noch bestanden, von beiden Seiten her zerstört wurden. Einseitige Schuldzuweisungen sind fehl am Platz, zumal letztlich beide Seiten verloren haben. Zeitweilig waren mehr als 7000 Kader und Anhänger der Arbeiterautonomie inhaftiert, und diese aus dem legendären Operaismus hervorgegangene Sondererscheinung der Sozialrevolten der 1970er Jahre ist kläglich untergegangen. Die KPI aber zahlte für die von ihr mitgetragene repressiv-staatliche Lösung eines innerproletarischen Konflikts den Preis mittelfristiger mentaler Selbstzerstörung. Wenn heute, 15 Jahre später, über die Krise der antagonistischen Subjektivität auf der Seite der Arbeiterklasse und über die inzwischen absurd übersteigerte Realitätsflucht der Linken nachgedacht wird, dann müssen auch die Traumatisierungen zur Sprache kommen, die die Katastrophe von 1978 bis 1981 hervorrief. Sie haben nicht nur das Schicksal der italienischen Linken und der jugendlichen Arbeitermilitanten auf jener innersten Linie besiegelt, aus der alle emanzipatorischen Zukunftserwartungen herkamen. Auch auf die Sozialbewegungen der anderen europäischen Länder mit all ihren weniger weit zugespitzten Entsprechungen haben sie sich verheerend ausgewirkt und Wunden geschlagen, die wahrscheinlich nie mehr heilen werden. Wir müssen ehrlich anerkennen, daß die resignierte Apathie, mit der heute viele ehemalige Militante die radikale Zuspitzung des kapitalistischen Umstrukturierungsangriffs hinnehmen, zu erheblichen Teilen aus zerstörten Hoffnungen herrührt, die das Ergebnis einer zumindest teilweise von ihren Organisationsansätzen verschuldeten strategischen Niederlage sind. Für diesen Zustand sind wir alle, die wir damals aktiv involviert waren, mitverantwortlich. Vielleicht ist gerade wegen dieses verdrängten Traumas die Frage des Neuanfangs einer in den gewandelten proletarischen Verhältnissen verankerten Linken in erster Linie zu einem Generationenproblem geworden.

Die größte Schwäche des Beitrags von Rossanda und Ingrao sehe ich jedoch auf dem für sie selbst entscheidenden Terrain ihrer Verabredungen für das Ende dieses Jahrtausends: in der Bestimmung des Verhältnisses der Linken zu den postfordistisch gewandelten Gesellschaftsstrukturen. Bei der Analyse der sozioökonomischen Funktionsweisen des Postfordismus kommen Rossanda und Ingrao kaum über allgemeine Einschätzungen, die vor allem die technologisch-strukturellen Aspekte der »verschlankten« und globalisierten Produktionsweise thematisieren, hinaus. Sie erwecken manchmal fast den Eindruck, als ob der Postfordismus das allerneueste Produkt der Berlusconira wäre. Und immer wieder führen sie Klage darüber, daß die italienische Linke es versäumt hätte, sich mit den Charakteristika des neuen Produktions- und Gesellschaftsmodells auseinanderzusetzen.

Diese Argumentationsweise erscheint mir kaum nachvollziehbar und verschleiert entscheidende Aspekte des Problems. Erstens sind elementare Strukturen dessen, was wir heute als Postfordismus bezeichnen, seit Ende der 1970er Jahre in Italien entwickelt und ausgetestet worden. Ich meine vor allem die Miniaturisierung der Betriebe im industriellen Dreieck Mailand - Florenz - Bologna des sogenannten Dritten Italien. Sie war in einen Prozeß der Kapitalzentralisation ohne Konzentration der Produktionsstrukturen eingebettet. Ausgehend vom kaufmännischen Primat des Umsatzerfolgs sollten die Klein- und Mittelbetriebe fortschreitend restrukturiert werden. Die Suche nach neuen Marktsegmenten wurde produktionsbestimmend, die instabile und unberechenbare Absatzsphäre beherrschte zunehmend die industriellen Beziehungen. Dies war das Benneton-Modell, das Kommando eines nur noch kaufmännisch qualifizierten zentralen Managements über Hunderte von Klein- und Mittelunternehmen. Nicht nur die Flexibilisierung der Produktion war die Folge, es kam zusätzlich zu einer zunehmenden Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Punkten der kaufmännisch vernetzten Produktionsketten. Dies wiederum führte zu einer enormen Aufwertung des Transports. Die (Wieder-)Entdeckung und Entfaltung des ausschließlich vom Markt dominierten kapitalistischen Verlags-Systems ruht seither auf zwei Säulen: auf immer kleiner werdenden Produktionseinheiten, die durch eine noch nie dagewesene Transportintensität miteinander vernetzt und kaufmännischen Managementzentralen unterworfen sind. [2] Im Verlauf der 1980er Jahre ist diese spezifisch italienische Innovation durch die Anverwandlung der japanischen Produktions- und Distributionstechnologie (Toyotismus) zusätzlich dazu benutzt worden, um auch die Giganten der fordistisch-tayloristischen Massenproduktion in ihre Einzelteile zu zerlegen und den unberechenbaren Teufelsmühlen der zunehmend globalisierten Märkte auszuliefern. Über diesen Umbruch der Produktions- und Distributionsverhältnisse existiert seit den 1980er Jahren eine umfangreiche und vorzüglich dokumentierte internationale Debatte. Es ist mir unverständlich, warum sich Rossanda und Ingrao an keinem Punkt ihres Essays damit auseinandergesetzt haben und stattdessen von der paradoxen Annahme ausgehen, das internationale Vorzeigemodell Italien sei industriell noch immer ziemlich unterentwickelt.

Es erscheint mir zweitens unzutreffend, wenn Rossanda und Ingrao annehmen, die italienische Linke hätte diese Entwicklungen mehr oder weniger verschlafen. Ich glaube, daß eher das Gegenteil der Fall ist. Große Teile der Linken haben den Umschlag zum Postfordismus nicht nur kommentiert, sondern explizit gutgeheißen und gefördert. Die »schöpferische Zerstörung« des korrupt kommandierten und durch die Explosionen der Arbeiterautonomie in wilde Konflikte verstrickten Modells der standardisierten Massenproduktion schien eine friedliche sozialpartnerschaftliche Alternative gefunden zu haben. Die Parolen hießen jetzt flexible Spezialisierung in überschaubaren Produktionseinheiten mit ständiger Produkterneuerung. Hier würde es zu einer neuen Inwertsetzung von immer weniger entfremdeter Arbeit kommen, und zusätzlich würden die permanent gewordenen technologischen Innovationen immer mehr Arbeit für alternative Tätigkeiten entbinden. Der Stein des Weisen schien entdeckt, ohne das kapitalistische Verwertungs- und Akkumulationssystem selbst weiter in Frage stellen zu müssen. Wieder einmal blickte die internationale Linke auf Italien, wo sich ihre Diskussionspartner zu großen Teilen von den Wildheiten der Arbeiterautonomie abwandten, um im Prozeß der Demontage der großindustriell-militaristischen Fossile des Fordismus und eines korporatistisch erstarrten Sozialstaats zu den neuen Ufern einer »Befreiung von falscher Arbeit« aufzubrechen. Was haben Rossanda und Ingrao nur in den 1980er Jahren gemacht, daß sie diese sozioökonomische Involution nicht bemerkten, in deren Verlauf große Teile der alten und neuen italienischen Linken unter dem Applaus der internationalen intellektuellen Community ihre strategische Niederlage zu kompensieren suchten? Diese Frage muß gestellt werden, denn während viele Linksintellektuelle die Verheißungen ihrer Interpretationsvariante von Postfordismus ausmalten, gerieten im »Dritten Italien« Tausende prekär gewordener Basismilitanter sehr real in das neue Milieu der miniaturisierten Schwitzbudensphäre.

Diese Unkenntnis der realen Umbrüche und der nicht weniger realen Verstrickungen der Linken führt die beiden Autoren drittens zu einer Fehleinschätzung des gesamtwirtschaftlichen Zyklus seit Mitte der 1970er Jahre. Dabei ist ihnen durchaus zuzustimmen, wenn sie sich bei dessen Analyse auf die Staatsverschuldung konzentrieren, die früher als in anderen europäischen Ländern und selbst den USA astronomische Dimensionen erreichte. Es ist sicher zutreffend, daß die Liberalisierung der Devisenmärkte und die internationale Finanzspekulation erheblich zum Budgetdefizit beitrugen und die klassischen monetär-fiskalischen Steuerungsfunktionen des Staats zunehmend aushebelten. Entscheidend ist jedoch, daß auf diese Weise zugleich ganz normale Weichen gestellt wurden, um mit Hilfe einer veritablen staatlichen Verschuldungsökonomie den Strukturwandel der italienischen Wirtschaft zu beschleunigen. Der italienische Staat nahm umfassender und früher als andere vergleichbare Fiskalregimes Kredite zur Finanzierung der postfordistischen Netzwerkunternehmen auf. Er alimentierte auch von der Nachfrageseite her einen besonders frühen Durchbruch zur Absicherung dieses neuen Modells, blieb aber weiterhin den konkurrierenden Strukturen von Mediobanca, Großunternehmen und Wohlfahrtsregulierung verpflichtet. Als dieses duale Alimentierungssystem schließlich an seine Grenzen stieß, folgte darauf eine Abwertung der Lira und die endgültige Verlagerung des Schwerpunkts der debt economy auf den postfordistischen Strukturbruch. Das früh einsetzende und die damaligen Vergleichsmaßstäbe weit hinter sich lassende italienische Budgetdefizit steht somit in enger Beziehung mit der besonders früh begonnenen und weit vorangetriebenen Option auf das postfordistische Modell. Die Tragweite dieses Wechselspiels von ökonomischer Restrukturierung und Verschuldungswirtschaft wurde schließlich seit Beginn der 1990er Jahre sichtbar, als das dadurch bewirkte und zunächst mit erheblichen internationalen Konkurrenzvorteilen einhergehende take off des »Standorts Italien« zu keinem sich selbst tragenden gesamtwirtschaftlichen Wachstum führte. Jetzt - aber erst jetzt! - wurde die Schuldenkrise zu einem Strukturproblem. Und jetzt zeigte sich, daß nicht etwa die Staatsverschuldung »pathologisch«, sondern das gesamte postfordistische (De-)Regulierungsmodell auf Sand gebaut ist. Es entpuppte sich mehr und mehr als spekulative Seifenblase, und seit 1992/93 mußten unter dem sich abzeichnenden Maastricht-Regime der Deutschen Bundesbank alle Register der deflationären Schuldenkonsolidierung gezogen werden. So haben die Protagonisten und Akteure des Postfordismus Schuldenrechnungen aufgehäuft, die die nachfolgenden Generationen werden bezahlen müssen, indem sie die eigenen Ansprüche an die öffentliche Absicherung der Wechselfälle ihres lohnabhängigen Daseins abschreiben. Mit einer historisch durchaus typischen Verzögerung sind inzwischen auch jene zentralen Machtfraktionen der ersten Republik von der Bühne gefegt worden, die dem jetzt zu erwartenden öffentlichen Austeritätskurs noch im Weg stehen. Dabei ist völlig offen, ob es gelingen wird, die so rasch an ihre Grenzen gestoßenen Produktions- und Distributionsverhältnisse des Postfordismus dadurch zu stabilisieren, daß nun zu ihren Gunsten auch die Kernzonen antizyklischer sozialstaatlicher Umverteilung geschleift werden. Die Situation hat sich also enorm zugespitzt, und die neuen »Industriedistrikte« des neoliberalen Postfordismus werden zunehmend zur Fiktion. Aber die Lage ist ganz anders, als dies Rossanda und Ingrao aus den Besonderheiten der italienischen debt economy ableiten. Sie haben offensichtlich nicht wahrhaben wollen, daß die Struktur des italienischen Staatshaushalts sowohl in ihrer expansiven wie in ihrer neuesten restriktiven Phase vollkommen mit den Liquiditäts- und Ersparnisansprüchen des postfordistischen Modells übereinstimmt.

Am meisten hat mich erstaunt, daß sich Rossanda und Ingrao fast vollständig über den durch den Postfordismus erzwungenen Wandel der Arbeitsverhältnisse ausschweigen. Sie beschränken sich auf bruchstückhafte Andeutungen über die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse, die sie aber für bedeutungslos halten, weil die in ungesicherten Arbeitsverhältnissen Lebenden ihrer Meinung nach a piori nicht zur Konstituierung als antagonistische Subjekte fähig seien. Hier brechen ganz offensichtlich die negativen Erfahrungen durch, die die Arbeiterbewegung vergangener Epochen mit den proletaroid-kleinbürgerlichen Existenzweisen des traditionellen Einzelhandels und Dienstleistungsgewerbes gemacht hat. Dies verstellt den beiden Autoren von vornherein den analytischen Zugang zu der außerordentlichen Komplexität des postfordistischen Arbeitsmarkts, der gerade in Italien die klassische Dichotomie von gesichert Beschäftigten und Arbeitslosen weit aufgesprengt hat. Darüber hinaus fragen sich Rossanda und Ingrao aber auch grundsätzlich, ob die Arbeit überhaupt noch »Wert« habe und für ein linkes Rekonstruktionsprojekt als zentrale Bezugspunkt in Frage komme. Diese offensichtliche Kombination von Vorurteilen und Verzichterklärungen gegenüber den Wandlungen der Klassenverhältnisse hat, wie ich meine, ziemlich fatale Folgen. Die »subalternen Klassen« stellen keinen analytischen Bezugspunkt mehr für jene Verabredungen dar, die Rossanda und Ingrao für das Ende des Jahrhunderts vorschweben. Stattdessen haben sie sich auf eine pragmatische Mischung verständigt: die Arbeitslosigkeit soll durch den Rückgriff auf gemischtwirtschaftliche Beschäftigungsmaßnahmen bekämpft, ein neuer Sektor gesellschaftlich nützlicher Arbeiten etabliert, und ansonsten das jenseits der schmutzigen Materialität der aktuellen Arbeitsverhältnisse gelegene Szenario emanzipatorischer linker Politik gepflegt werden. Da sie die meines Erachtens zentrale Fragestellung einer jeden Kritik am real gewordenen Postfordismus ausgeklammert haben, bleibt ihnen am Ende nichts anderes übrig, als auf gängige wie fragwürdige Reformmodelle zurückzugreifen. Rossanda und Ingrao verbinden die postfordistischen Interpretationsmythen der Linken mit den Hoffnungen einiger sozialdemokratischer Theoretiker auf eine neokeynesianische Korrektur der zunehmend wieder entfesselten kapitalistischen Klassengesellschaft.

Wie sehen dagegen heute die realen Arbeitsverhältnisse in Italien und Europa aus? [3] Durch das Zwischenschalten der marktförmig bestimmten Informationstechnologien hat der postfordistische Kapitalismus die Beziehungen zwischen Investitionen und Beschäftigungsverhältnissen aufgesprengt. Den klassischen dualen Arbeitsmarkt, auf dem die konjunkturellen Schwankungen zwischen mehr oder weniger gesicherter Beschäftigung und Arbeitslosigkeit durch die Garantien des sozialen Keynesianismus antizyklisch reguliert waren, gibt es nicht mehr. An seine Stelle sind komplexe Segmentationen getreten, die zur Ausbildung spezifisch hierarchisierter Arbeitsverhältnisse geführt haben. Ihnen allen aber ist eine Rationalisierung der Arbeitsbeziehungen gemeinsam, die sich als Krise der Lohnformen ausdrückt und die bisher dominant gewesene reguläre lohnabhängige Existenzweise zunehmend an den Rand drängt. Materiell drückt sich dieser Übergang vom vertraglich geregelten Lohnverhältnis zur »desalarisierten« Beziehung zwischen Auftraggebern und Auftragnehmern in dramatisch sinkenden Realeinkommen aus, denen entsprechend verlängerte Arbeitszeiten gegenüberstehen. Im Gegensatz zur postfordistischen Theorie der Linken verschwindet somit keineswegs die Arbeit, und die technologisch bedingte Arbeitslosigkeit wird in der Alltäglichkeit der proletarischen Lebenserfahrung genauso wie das gesicherte Arbeitsverhältnis der voraufgegangenen Epoche tendenziell zu einem Randphänomen, weil die dafür konstitutiven arbeitsrechtlichen Normen zunehmend verschwinden. Es gibt kaum garantiert Beschäftigte mehr, aber auch in der Sphäre wohlfahrtsstaatlich kompensierter Arbeitslosigkeit können sich immer weniger Entlassene über längere Zeit aufhalten. Ungesicherte und zugleich verschleierte Arbeitsverhältnisse sind dagegen überall auf dem Vormarsch, und ihr gemeinsames Charakteristikum ist trotz aller inneren Differenzierungen die Verlängerung der Arbeitszeiten bei gleichzeitigem Verlust der das Arbeitsleben insgesamt absichernden Reproduktionsgarantien. Mit progressiv sinkenden variablen Kapitalbestandteilen verwertet der postfordistische Kapitalismus ein progressiv steigendes Arbeitsvolumen.

Dieser Befund läßt sich inzwischen in allen Segmenten des deregulierten Arbeitsmarkts nachweisen. Die Schicht der working poor, die wegen ihrer Hungerlöhne trotz überlanger Arbeitszeiten immer seltener an das standardisierte Existenzminimum herankommen, wird von Jahr zu Jahr größer. Mit ihr überschneiden sich die Segmente der jugendlichen, weiblichen und älteren chronisch Arbeitslosen, die sich in einer chaotischen Abfolge prekärer Beschäftigung bewegen und auf eine wie auch immer dingfest zu machende stabile Arbeitsperspektive verzichten müssen. Diese neuartigen ungeschützten Lebenswelten verzahnen sich wiederum mit der wachsenden Anzahl der selbständigen Arbeiter der Einmann-Betriebe, die den Archipel der miniaturisierten Unternehmenssphäre aufblähen. Und hier handelt es sich schließlich nur um die unterste Schicht der Netzwerk-Konglomerate mit ihren zentralen Kernen und den konzentrisch hierarchisierten Zulieferbetrieben, wo überlange Arbeitszeiten, ungesicherte Beschäftigungsverhältnisse und sinkende Einkommen zur Peripherie hin zunehmen. Dabei ist inzwischen auch statistisch gesichert, daß die Erosion der allein noch tarifvertraglich gesicherten Kernbereiche von Jahr zu Jahr zunimmt.

So betritt ein vielfältig hierarchisiertes und zersplittertes neues Proletariat die Bühne, dem der postfordistische Kapitalismus als Hauptmerkmale seines Daseins ungesicherte Existenzperspektiven, entwertete Qualifikationen, steigende Arbeitszeiten, sinkende Realeinkommen und immer stärker eingeschränkte Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung feilbietet. Dort aber, wo er in seinen hard cores noch überschaubare Beschäftigungsgarantien bevorratet, hat er die arbeitsrechtlichen Normen durch ein neuartiges Kontrukt von Gehorsam, Betriebstreue und Servilität ersetzt, das an das feudale Vasallentum gemahnt und eine unbeschränkte Disponibilität und Unterwerfungsbereitschaft unter das Unternehmensziel für selbstverständlich erachtet. Statt die Lohnabhängigen von »falscher Arbeit« zu befreien, führt der Postfordismus sie in eine neuartige Dimension von proletarischer Knechtschaft. In Italien sind diese Entwicklungen besonders weit fortgeschritten.

In der Auseinandersetzung mit dem Postfordismus hat die Linke bisher weitgehend in den Wind geredet. Rossana Rossanda und Pietro Ingrao haben versucht, diese Tendenz zu brechen und wichtige Hinweise zur Charakterisierung der neuen Epoche gegeben. An ihre zentrale Problematik haben aber auch sie nicht gerührt. Wer sich zu einer ernsthaften und begründeten Negation der postfordistischen Zustände verabreden will, sollte sich zuallererst auf die Beobachtung ihrer Arbeitsverhältnisse konzentrieren. Die Linke hat nur noch eine Chance, wenn sie einen Zugang zum neuen Proletariat findet und sich mit ihm zu einer neuen Periode der »militanten Untersuchung« zusammenschließt. Wie sehr sie sich dabei gegenwärtig noch selbst im Weg steht, zeigt sich beispielhaft daran, daß sich manche ihrer längst sozial abgestiegenen Exponenten sogar den ureigensten Proletarisierungserfahrungen verweigern. Wir sollten die Herausforderungen des Postfordismus annehmen und bereit sein, zu den Wurzeln der revolutionären Arbeiterbewegung zurückzukehren.


Fußnoten:

[1] Dieses Interesse erstreckt sich aber auch auf die Aufsätze, in denen sich in der italienischen Originalpublikation drei weitere Autoren mit dem »Toyotismus«, den Institutionen der Weltökonomie und der Entwicklung Rußlands auseinandersetzen. Insbesondere der Beitrag Marco Revelli's über die Toyotisierung der italienischen Autombilindustrie hätte es verdient gehabt, auch den deutschsprachigen Lesern zugänglich gemacht zu werden.

[2] Am klarsten hat Sergio Bologna diese neue Struktur des sternförmig miteinander vernetzten Unternehmenstyps auf den Begriff gebracht. Vgl. Sergio Bologna, Wenn immer mehr Menschen aus gesicherter Arbeit herausfallen. Ein Blick nach Italien und Frankreich: Das Unternehmen als Netzwerk, in: Frankfurter Rundschau, Nr. v. 16.2.1994, S. 10.

[3] Die folgenden Überlegungen basieren vor allem auf den folgenden Arbeiten: Sergio Bologna, Orari di lavoro e postfordismo, Referat auf der Tagung »Il giusto lavoro per un mondo giusto«, Milano, Camera del Lavoro, 8./9.7.1995; Europäische Kommission, Variazioni dell'occupazione e della forza lavoro nella Comunità 1986-93, 1994; dies., Lavoratori autonomi nell'industria e nei servizi, secondo le ore settimanali abituali nella Comunità 1983 e 1992, 1994; Christian Marazzi, Il posto dei calzini. La svolta linguistica dell'economia e i suoi effetti nella politica, Bellinzona 1994; Giovanni Sarpellon (Hg.), Secondo rapporto sulla povertà in Italia, Milano 1992. Ich danke Sergio Bologna und Primo Moroni, die mir bei der Beschaffung dieser Materialien behilflich waren.


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