Dass Syriza sechs Monate lang keine wichtigen Reformen angeschoben und sich ausschließlich auf die Verhandlungen mit der eu konzentriert hat, ohne dort einen Plan B zu haben, falls sich die andere Seite nicht bewegt, hat alle Beobachter fassungslos gemacht. Die 180°-Wende nach dem »Ochi« ist ein historischer Einschnitt. Kagarlitzky hält den »Zusammenbruch Syrizas und die Spaltung der Linken anhand der Haltung zur russisch-ukrainischen Krise« sogar für ähnlich bedeutend wie den »Zusammenbruch der Zweiten Internationale 1914«. Syriza hat den Weg, den andere sozialdemokratische Parteien in Jahrzehnten zurückgelegt haben, in zwei Jahren durchlaufen. Tsipras drückt nun Einschnitte durch, die keine Vorgängerregierung sich anzupacken traute. Es ist nicht das erste Mal, dass sozialdemokratische Regierungen soziale Grausamkeiten durchsetzen, die Konservative und Liberale nicht umsetzen könnten.
Der folgende Artikel zur Situation in Griechenland aus der aktuellen Wildcat ist schon über zwei Monate alt und von den sich überschlagenden Ereignisse etwas überholt. Er bietet aber einen guten Überblick über den Weg von Syriza an die Regierung und ihre ersten Monate.
Mit Ausnahme von einigen kollektiven Flüchtlingsprotesten gibt es bisher kaum Kämpfe, und somit auch nichts, was die Regierung von ihrem Weg abbringen könnte. Zwar verlor Tsipras die eigene Mehrheit im Parlament, hat aber stattdessen eine faktische Regierung der nationalen Einheit gebildet. Und laut Umfragen verfügt er – trotz seiner 180°-Wende – zur Zeit noch über eine große Unterstützung in der Bevölkerung. Der Verfall der griechischen Gesellschaft ging derweil ungebremst weiter: 40 Prozent der Kinder wachsen heute in Armut auf, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei fast 50 Prozent… Diese Daten sind inzwischen Allgemeinwissen. (ausführlich hierzu die griechische Gruppe TPTG)
***
Seit Februar hatte die Eurogruppe jedes Angebot, jedes Zugeständnis der griechischen Regierung mit der Forderung nach der vollständigen Zustimmung zum Gesamtpaket beantwortet. Gerade die deutsche Regierung trat mit unglaublicher Härte auf, und hat damit auch die Beziehungen zu Frankreich und Italien stark belastet – oder je nach Sichtweise »zurechtgerückt«.
Im Ergebnis akzeptierte die Tsipras-Regierung, trotz des »Ochi« beim Referendum am 5. Juli, eine Vereinbarung, die sie selber als »aufgezwungen« und »falsch« bezeichnet. Griechenland bekommt weitere Kredite – die lediglich bestehende Schulden bedienen! auch die 7,16 Milliarden Euro »Notkredite« am 20.7. wurden fast komplett an die Gläubiger durchgeschoben: 4,2 Milliarden Euro an die ezb, rund zwei Milliarden Euro an den iwf. Dafür werden weitere massive Einschnitte bei den Staatsausgaben und Sozialleistungen vorgenommen, auch die niedrigsten Renten weiter gesenkt, die Mehrwertsteuer erhöht. Ein Treuhandfonds zur Privatisierung von öffentlichem Vermögen im Umfang von 50 Mrd. Euro unter Kontrolle der Troika (bzw. nunmehr der »Quadriga«) soll ebenfalls größtenteils die griechischen Banken rekapitalisieren und die Schulden bedienen. Die Rechte der ArbeiterInnen werden weiter beschnitten, Mindestlohn und Tarifverträge kommen nicht zurück. Alle Gesetze, die nach Ansicht der Eurogruppe dem Abkommen vom 20. Februar widersprechen und danach beschlossen wurden, werden zurückgenommen.
Viele europäische Linke hatten große Hoffnungen auf Syriza gesetzt und waren entsprechend fassungslos. In der IL haben einige – unter dem Titel »Tod des Reformismus« – eine Diskussion angefangen, in der sie ihre bisherige Ausrichtung auf Staat und Reformen kritisieren. IL-Vordenker Seibert macht in seiner Polemik dagegen ganz auf Lenin und stellt sich hinter die Alternative »Sparprogamm oder Grexit«, ein Grexit sei schlimmer als der Verbleib im Euro. Er vertritt somit vollständig die tina-Argumentation von Tsipras. In der Tat bedeutet der Euro für Leute wie Seibert eu-Gelder, Stiftungen und perspektivisch einen Job als Regierungsberater. Was der Euro für Arbeiter-, RentnerInnen und Arbeitslose (nicht nur) in Griechenland bedeutet, ist nun aber auch klar geworden! Was ein Grexit bedeuten würde, ist weniger klar, doch für ArbeiterInnen ist es an sich keine schlimme Drohung: Die Drachme würde Importgüter massiv verteuern, andererseits den Tourismus stark ankurbeln. Ob sich ihre Lebensbedingungen verschlechtern, hängt von ihren Kämpfen ab – Drachme hin oder her.
Aber letztlich gibt es keinen Grund, uns die Alternative »Austeritätsprogramme oder Grexit« aufzwingen zu lassen. Der Euro ist ein Kampfinstrument gegen die ArbeiterInnen. Den beteiligten Staaten werden drei der vier Instrumente makroökonomischer Anpassung aus der Hand genommen: die Zinspolitik, die Wechselkurspolitik und die Haushaltspolitik (durch die Schuldenbremse). Somit bleibt nur die Lohnpolitik (bzw. die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik). Die europaweit durchgesetzte »Lohnflexibilität« ist eine direkte Folge des Euro. Die eu spielt die ArbeiterInnen gegeneinander aus und senkt ihre Bedingungen ab. Wir brauchen einen gemeinsamen, grenzüberschreitenden Kampf dagegen – und keine Illusionen in ihre Reformierbarkeit!
Noch vor der Zustimmung des Bundestags zum »dritten Hilfspaket«, bekam Fraport vierzehn griechische Flughäfen. Aber diese massive Unterstützung der eigenen Industrie kommt die Bundesregierung teuer zu stehen. Sie gerät immer mehr in die Defensive, das Brüsseler Abkommen war ein Pyrrhus-Sieg für die »Schäuble-Partei«. Politisch hat die brd-Regierung überrissen – die Gegenreaktionen waren deutlich stärker als erwartet, immer mehr wird sie in der Welt isoliert. In Italien und Frankreich wird übrigens gar nicht Schäuble als »Sieger von Brüssel« gesehen, sondern Merkel – die auf den Kurs von Hollande eingeschwenkt sei! Derweil muss Merkel immer weitere rote Linien reißen (»nur mit Beteiligung des IWF!«, »Schuldenschnitt auf keinen Fall!«).
Die deutsche Vormachtstellung in der eu ist an ihre Grenze gekommen. Die Widersprüche der eu sind sehr deutlich geworden. Das auf hohe Exportüberschüsse fixierte deutsche Wachstumsmodell bietet den südlichen Ländern keine Vorteile (mehr). Die Desintegrationstendenzen nehmen zu.
In Griechenland wird jetzt eine Zeit der – nicht nur finanziellen! – Repression kommen. (ausführlich zu den Maßnahmen TPTG) Auch wenn die Kämpfe gerade schwach sind, müssen die Regierenden angesichts solcher Maßnahmen Angst haben (der Aufstand in Argentinien ist noch vor aller Augen!). Der Kurs, den sie eingeschlagen haben, wird die soziale Situation noch einmal massiv verschärfen. Und das nicht nur für die MigrantInnen und die Proleten, jetzt wird es auch große Teile der griechischen Mittelschichten schwer treffen – die Oberschicht allerdings weniger! (Siehe z. B. den Artikel im Spiegel.)
In dieser Entwicklung wäre aus der Perspektive der griechischen Arbeiterklasse zweierlei wichtig: Kampf gegen die Regierung und der Aufbau von proletarischen Verteidigungskräften, um sich vor dem Zugriff des Staats und den Faschisten zu schützen. [siehe Wildcat 95 »Faschos in Griechenland ] Aber ohne Unterstützung durch die europäische Arbeiterklasse werden die ArbeiterInnen in Griechenland nicht in die Offensive kommen. Damit in der eu die Spirale nach unten gestoppt werden kann, müssen die ArbeiterInnen hier solidarisch und auf Augenhöhe mit denen in Griechenland kämpfen.
Leider sind »antigriechische« Einstellungen inzwischen auch des Öfteren von ArbeiterInnen zu hören. Wir mussten in den letzten Jahren lernen: so lange das deutsche Exportmodell läuft, gelingt es der Regierung, relevante Teile der Lohnabhängigen einzubinden. Zwar gibt es daneben auch viele Solidaritätsinitiativen und es hat sich einige Wut über die deutsche Politik angestaut, nicht nur in den Communities der griechischen MigrantInnen, aber diese Wut findet bisher nur sehr schwache Ausdrucksformen. Wie aber ändert sich das Bild bei Rückkehr der globalen Krise und dem Wegbrechen der deutschen Exportmärkte?
Hier hätte eine radikale Linke in der nächsten Zeit zu tun. Nicht um die eu oder irgendeine Währung vor der Krise zu retten, sondern um eine Perspektive zu entwickeln, die das Bild der scheinbaren Übermächtigkeit der Bosse und Regierungen zerschlägt.
20.08.2015, kurz nach Tsipras' erwartetem Rücktritt
»Nichts verdeutlicht die Popularität von Syrizas Alternativprogramm besser, als die ›Tsipras-Tsipras‹-Gesänge am Wahlabend im Flüchtlingslager Amygdaleza«, schrieb die griechische Gruppe TPTG kurz nach der Wahl. Die »illegalen« Migranten, die im Sommer 2013 gegen ihre Haftbedingungen revoltiert hatten, hegten damals durchaus berechtigte Hoffnungen, dass sich ihre Situation unter einer Syriza-Regierung verbessern würde. Sie sind die ersten, die massiv enttäuscht wurden und revoltieren mittlerweile wieder.
Bisher scheint sich nicht viel verändert zu haben in Griechenland, die Arbeiterklasse leidet weiterhin unter den Sparprogrammen, während sich der Staat trotzdem oder gerade deshalb die größte und bestausgerüstete Armee Europas leistet (relativ zur Bevölkerung). Daran wird Syriza nichts ändern, Griechenland wird auch weiterhin pro Jahr ca. vier Prozent aller weltweit gehandelten Waffen kaufen.
Um die Situation vor Ort zu verstehen, haben wir nach der Wahl einen griechischen Genossen gefragt, einen Artikel zur Lage zu schrieben.
Syriza war parallel zur Erschöpfung der Mobilisierungen auf der Straße stärker geworden. Die Kämpfe und Proteste seit Ausbruch der griechischen Krise hatten weder eine längerfristige Perspektive unter den Aktiven geschaffen, noch stabile Kontakte zur Bevölkerung aufgebaut. Außerdem hatten Fraktionen der außerparlamentarischen Linken schon länger auf eine Syriza-Regierung gesetzt und sich teilweise in den Syriza-Parteiapparat integriert. Ihr Wahlerfolg Ende Januar 2015 und die damit verbundenen parlamentarischen Hoffnungen haben die letzten Monate in Griechenland geprägt, auch Gespräche im Alltag drehen sich um Vorhaben der neuen Regierung und ihre Verhandlungen mit der eu. Alle warten ab, was die Regierung macht und wie die Verhandlungen laufen.
Angesichts der breiten gesellschaftlichen Unzufriedenheit mit den brutalen Sparmaßnahmen der vorigen Regierung war Syrizas Sieg nicht »groß« (36 Prozent der Stimmen, bei einer Wahlbeteiligung von 64 Prozent). Der Wahlausgang hat den Bewegungen auf der Straße fast keine Impulse gegeben, stattdessen setzen nun Viele Hoffnungen in die »Planungsfähigkeit« linker Ökonomen oder auf eine Rückkehr zu den »goldenen« 80er Jahren. Obwohl die Leute keine hohen Erwartungen an Syriza hatten, überschätzten sie die Möglichkeiten der Regierung. Die ersten Wochen nach der Wahl waren von einem breiten Optimismus in der Bevölkerung geprägt. Dieser tritt nun in dem Maß in den Hintergrund, wie die Verhandlungen mit den Kreditgebern sich im Kreis drehen, ohne dass sich eine »Lösung« abzeichnet. Der Druck von iwf, eu und der brd ist zu groß; andererseits steht die Regierung für nationale Einheit und will den sozialen Frieden aufrechterhalten.1 Der anfängliche Optimismus hat nichts angestoßen, die Bevölkerung ist passiv und demobilisiert im Vergleich zu den Protesten der letzten Jahren. Viele Menschen redeten von »einem neuen Klima in der Gesellschaft«, konnten aber eigentlich gar nicht sagen, was das praktisch bedeuten soll und wo es sich ausdrückt. Am Ende ist es die Hoffnung auf leichte Verbesserungen des Lebensstandards.
»Eine umfassende Wirtschaftspolitik à la Keynes stand niemals auf der Agenda von Syzira« (Galbraith)
Die in Uni, Staatsdiensten, Parteistrukturen oder Instituten agierenden linken Ökonomen Syrizas setzen mit ihren makro-ökonomischen Planungen auf Umschuldung und die Förderung von »innovativen Klein- und Mittelbetrieben«, um Arbeitsplätze zu schaffen. Im Zentrum aller ihrer Überlegungen steht das Wachstum der Wirtschaft. Im Wahlkampf hatte Syriza die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf das Vorkrisen-Niveau von 750 Euro brutto versprochen. Sie nehmen aber die »wilde« Seite des Arbeitsmarkts und den alltäglichen Druck der Unternehmer auf Arbeit kaum wahr. Den realen Mindestlohn definieren aber die inoffiziellen Arbeitsverhältnisse: Schwarzarbeit, unbestimmte Arbeitszeiten, unbezahlte Überstunden und monatelange Nichtauszahlung des Lohns, Arbeitsunfälle... Diese – bekannte und sichtbare – Arbeitsrealität setzt die Abwertung der Arbeiterklasse durch, finanziell, ideologisch, emotional. Solche Arbeitsverhältnisse wurden bereits vor dem Ausbruch der Krise, in den »goldenen« Jahren des griechischen Kapitalismus etabliert; sie waren das fruchtbare Terrain der heutigen Abwertung der Arbeit.
Griechische Unternehmer haben seit langem bewiesen, wie effektiv sie außerhalb des Arbeitsrechts die Arbeitskraft verwalten können: Entlassungsdrohungen bei hoher Arbeitslosenquote, Mafiaschläger gegen Arbeiterforderungen und alle anderen Arten von Erpressung...
Syriza sucht einen Ausweg aus der Krise durch soziale Befriedung im kapitalistischen Wachstum. Aber reale Lohnerhöhungen können nur von unten organisiert werden – als Kampfaktion gegen den Klassenfeind und gegen die nationale Einheit.
Syriza kann wenig verändern, denn sie haben nicht den politischen Willen zu einem radikalen Bruch mit der Troika und der Bourgeoisie. Und es gibt keine Bewegung auf den Straßen, die sie dazu zwingt. Die neue Regierung versucht sich als kämpferisch, nationalstolz und entschlossen darzustellen. Unmittelbar nach Amtsantritt kündigte sie an, nicht mehr mit der Troika (also deren einfachen Angestellten-Kontrolleuren) zu verhandeln, sondern mit jeder Institution direkt. Die pr-Abteilung verkaufte das als »Ende der Troika« und spricht seither nur noch von »den Institutionen« (iwf, Europäische Kommission, ezb). Real steht Syriza in der eu (noch) alleine da, keine andere Regierung will sie unterstützen und das politische Risiko des Bruchs mit den eu-Partnern eingehen. Auch deshalb müssen sie sich in den Verhandlungen beugen. Denn die Zahlungsfähigkeit des griechischen Staates ist so lange bedroht, wie die Verhandlungen mit der Eurogruppe ohne Ergebnis weitergehen.
Trotzdem bleibt ihre Rhetorik aggressiv, sie wollen den angestrebten Primärüberschuss reduzieren, Sozialleistungen und Investitionsprogramme ausweiten. Im Mai konnte die Regierung sowohl dem iwf knapp 700 Millionen Euro als auch die zwei Milliarden Euro an fälligen Löhnen und Renten zahlen.2 Um überhaupt zahlungsfähig zu bleiben, hatte sie am 20. April per Notstands-Dekret, ohne Befragung des Parlaments, beschlossen, dass Kommunen, Regionalbehörden und andere staatliche Einrichtungen (z.B. Unis) der griechischen Zentralbank ihre Kassenbestände zur Verfügung stellen müssen; nur die Rentenkassen sind davon ausgenommen. Das ist eine innere Zwangskreditnahme, da offiziell jede Institution selbst ihre Gelder verwaltet. In der Opposition hatte Syriza des öfteren die vorige Regierung genau wegen solcher Notstandsdekrete als autoritär angegriffen, weil sie damit die Rolle des Parlaments untergrabe. Nun greifen viele Bürgermeistern von Pasok oder der Nea Dimokratia Syriza mit ähnlichen Argumenten an.
Im Gegensatz zu den herrschenden Vorstellungen sind die Staatsschulden nicht die Ursache der griechischen Wirtschaftskrise, sondern die Folge einer langfristigen, strukturellen Krise. Wenn Leute wie Schäuble das griechische Politik- und Wirtschafts-Modell, seine Politiker sowie die griechische unternehmerische Klasse insgesamt für gescheitert erklären, meinen sie das Scheitern einer kapitalistischen Umstrukturierung, um international konkurrenzfähig zu werden. Sie sagen damit aber nichts aus über den politischen Erfolg dieses Modells und seine Notwendigkeit in den 80er Jahren! Denn damals musste sowohl die institutionelle Linke integriert, wie eine wilde, außerparlamentarische Jugend in der Phase nach der Diktatur (1967-1974) befriedet werden. Es gab lediglich eine Zeitverschiebung: Während in anderen europäischen Ländern bereits der neoliberale/thatcheristische Gegenangriff auf die Arbeiterklasse lief (z. B. Bergarbeiterstreik in England), wandte die erste Pasok-Regierung 1981-85 keynesianische Methoden an, gab es bedeutende Lohn- und Rentenerhöhungen im Öffentlichen Dienst, einen automatischen Inflationsausgleich, früheren Renteneintritt für Mütter mit kleinen Kindern und gesetzliche Frauenrechte; die Gewerkschaften wurden als Sozialpartner anerkannt.
Allerdings löste dieses Modell nicht die strukturellen Probleme der griechischen Wirtschaft. Die steigenden Löhne gingen vor allem aufs Sparbuch und in den Immobilienmarkt, der private Wohnungsbau wurde zur Lokomotive der griechischen Wirtschaft. Durch die Korruption im öffentlichen Dienst – Gesundheitswesen, Finanzamt, Wohnungsbau – versickerten zudem viele Gelder. Massiv verstärkt wurden diese Probleme, wie andernorts im Jahrzehnt davor, durch die – vergeblichen – Versuche des griechischen Staats, die »Investitionverweigerung« seitens der bürgerlichen Klasse auszugleichen. Seit 1973 litt die griechische Wirtschaft an Unter-Investition und De-Industrialisierung. Bestimmte Branchen wie Transportmittelbau, Textil-, Möbel-, Papierindustrie und Maschinenbau waren stark verschuldet. Viele dieser Industrien wurden deshalb Anfang der 80er Jahre verstaatlicht. Damit wurden auch Forderungen der Arbeiterkämpfe gegen Aussperrung und Entlassungen erfüllt (Verstaatlichung »unproduktiver« Industrien und Arbeiterbeteiligung im Betriebsrat). Letztlich liegen in dieser Melange die strukturellen und historischen Ursachen der griechischen Staatsverschuldung.
Schon die zweite Pasok-Regierung (1985-89) begann mit ersten Sparmaßnahmen. Parallel dazu versuchte man, eine neue unternehmerische Klasse zu fördern, Unternehmer im Bereich der Neuen Technologien, Lebensmittelindustrie, Presse oder Dienstleistungen, denen Pasok im Gegensatz zu den traditionellen Spekulanten »soziale Verantwortung« und eine andere unternehmerische Mentalität zuschrieb. Aber Ende der 80er/Anfang der 90er stand der griechische Kapitalismus kurz davor, sich dem iwf-Diktat unterwerfen zu müssen. Die eg schon den Bankrott durch das erste eg-Unterstützungspaket 1987-92 und das zweite Paket 1992-99 auf. Dazu stellten die Ausbeutung der migrantischen Arbeit und die Investitionen im Balkan/Osteuropa einen Ausweg für den griechischen Kapitalismus dar. Durch die unternehmerische Ausweitung im Balkan wurden auch die Netze und Strukturen des Mafiakapitalismus erweitert und verstärkt (dazu ausführlich in Wildcat 95). Das ist heute anders: Solange Griechenland im Euro ist, gibt es den Ausweg der Währungsabwertung nicht (allerdings drückt die ezb seit Monaten den Euro gewaltig nach unten!); auch die Kreditaufnahme ist schwieriger als damals (auch hier hat die ezb in den letzten Monaten teilweise für Abhilfe gesorgt), die internationale Konkurrenz schärfer, und die Exportbranchen Griechenlands dürfen nicht durch protektionistische Mittel unterstützt werden.
Die neoliberalen Kräfte haben keinen Plan für eine Umstrukturierung der Produktion. Die letzten Regierungen Griechenland haben nur die Schuldenauszahlung verwaltet. Langfristig können die Schulden aber nicht bedient werden ohne Wachstum. Und dazu kann es nicht kommen ohne Steigerung der Exporte – und ohne einen neuen Schuldenschnitt. Die linken Vorschläge zur Krisenlösung sind armselig und beschränken sich auf Lösungen innerhalb des institutionellen Rahmens (z. B. gesetzliche Reformen des Arbeitsmarkts). Aber die parlamentarische Linke (Syriza, kke, …) hat dabei keinen wesentlichen Konflikt mit den politischen oder unternehmerischen Trägern der Abwertungspolitik seit dem Ausbruch der Krise. Diese Linke ist seit den 80er Jahren eine legitimierte Säule der »neuen«, griechischen Demokratie – und sie möchte keine breiten, unkontrollierten Basisbewegungen, die direkt gegen alltägliche Arbeitsbedingungen kämpfen.
Die reale Ausrichtung der Regierung wird immer deutlicher: Syriza will dem Krisenmanagement ein etwas menschlicheres Gesicht geben. Das am 19. April verabschiedete Gesetz zur »Bekämpfung der humanitären Krise« enthält u. a. eine staatliche Miet und Essenszuschüsse, sowie Gratisstrom (300 kWh pro Monat) für Leute mit niedrigem Jahreseinkommen; all diese Maßnahmen betreffen allerdings sehr wenige Leute und kosten deshalb wenig Geld.
Während sich Syriza im Wahlkampf gleichzeitig an die Unterschichten und die Mittelklasse gewendet hatte, stehen nach der Wahl die Interessen der Mittelklasse im Vordergrund – womit die Troika im Wesentlichen kein Problem hat: Privatleuten und Unternehmern wird die Zahlung ihrer Schulden beim Staat in bis zu hundert Raten ermöglicht (u. a. geht es dabei um die Sozialversicherungsbeiträge der Unternehmer), Hauskredite können in mehr Raten abbezahlt werden.
Für die Unterschichten waren dagegen die folgenden Versprechen besonders wichtig: Erhöhung des Einkommenssteuerfreibetrags von 5000 auf 12.000 Euro im Jahr wie vor der Krise; Wieder-Anhebung des Mindestlohns; Beibehaltung des Verbots der Pfändungsverbots für die Wohnung, in der man lebt; Verbot der Stromabschaltung; großzügige Rückzahlungsfristen. Die Umsetzung vieler dieser Versprechen wurde in die ferne Zukunft verschoben. In den Verhandlungen mit der Euro-Gruppe schlug die Regierung sogar vor, die zukünftige allmähliche Erhöhung des Mindestlohns und die Wiederherstellung von Tarifverträgen an die Konkurrenzfähigkeit und Produktivität der griechischen Wirtschaft zu koppeln. Das ist eine neoliberale Flexibilisierung des Arbeitsmarktes.
Syriza ist die Linke der Mittelklasse und wurde nach der Wahl zum rechten Flügel der Linken. Sie möchte das Kapital und den Staat retten, indem sie Produktivität und Konkurrenzfähigkeit erhöht. Diese Reformvorstellungen bringt sie in die Verhandlungen mit der Euro-Gruppe ein. Sie ignoriert die strukturellen Ausbeutungsbedingungen auf dem Arbeitsmarkt und die Macht der kleinen und mittleren Unternehmer. Sie ermöglicht aber breiteren Teile der Bevölkerung den Zugang zum Gesundheitswesen (ein Viertel hat keine Krankenversicherung) – was auch die inländische Pharmaindustrie unterstützt.
Anfangs erklärte Syriza, sie wolle die Flüchtlingslager als geschlossene Einrichtungen sofort abschaffen. Nach nunmehr vier Monaten ist das immer noch nicht passiert, stattdessen wurden sie (um teils offene Einrichtungen) erweitert. Auch der Zaun am Evros-Fluss an der griechisch-türkischen Grenze steht noch.Im Februar brachen nach dem Tod zweier Flüchtlinge im Lager Amygdalesa (Athen) und dem Selbstmord eines weiteren in einer Polizeistation in Thessaloniki Revolten aus, Flüchtlinge traten in Hungerstreiks und es kam zu Konflikten mit den Bullen. Seitdem versucht die Regierung, mit weiteren Versprechen und Repression durchzukommen.
Trotz gegenteiliger Ankündigungen dürfen die Flüchtlinge Griechenland nicht verlassen. Es bleibt auch für Flüchtlinge, die nicht in Lagern leben, ein riesiges Lager, wo sie keine Perspektive haben und von Unternehmern und Sklavenhändlernetzen ausgebeutet werden.
Wie andere Staaten auch, versuchen einige Regierungsmitglieder, die Flüchtlinge als Verhandlungsmittel gegen die eu einzusetzen. Außenminister Kotzias sagte im März: »Wenn Griechenland finanziell zusammenbricht, wird Europa von Millionen Migranten und tausenden Dschihadisten überschwemmt.« Schon jetzt fließen eine Menge eu-Gelder in die Verwaltung der Flüchtlinge, von denen viele griechische Firmen und ngos abhängig sind. 2013 waren es 83 Millionen Euro.
Die rechten Medien und Parteien mobilisieren gegen die neue Migrations- und Flüchtlingspolitik. Die »Ausländerkriminalität« verunsichere die Bürger usw..
Die Mittelklasse greift die Regierung an, weil die bisherigen Maßnahmen ihren Niedergang nicht stoppen. Tatsächlich wird ein Teil der Mittelschichten proletarisiert. Ein anderer Teil hingegen kann trotz Krise seine finanzielle Stärke und soziale Arroganz behaupten, weil er im staatlichen Klientelismus (u. a. durch Korruption und Seilschaften in den Parteien) einerseits, in der Ausbeutung in der Schattenökonomie andererseits noch immer eine Perspektive findet – sogar für die nächste Generation. Und viele aus der Mittelklasse wählen die Partei, die ihren Zugang zu diesen Nischen der Krisenökonomie aufrechterhält. Der Versuch der vorigen Regierungen, die sogenannten »geschlossenen« Berufe zu öffnen, ist teilweise gescheitert, denn diese Berufe waren immer ein wichtiger Teil des traditionellen Klientelismus. Die Mittelschichten wählen diejenige Partei, die ihnen Steuersenkungen verspricht und die Illusion aufrecht erhält, ein Wachstum der zerstörten und nicht konkurrenzfähigen Wirtschaft ohne radikale Maßnahmen sei möglich. Die Mittelklasse ist ein blockierender Faktor bei der Suche nach Auswegen aus der Krise. Der Euro ist für sie immer noch der sichere Hafen (beruflich, Import von Rohstoffen, Vermögenszustand, Bankeinlagen, Aufstiegshoffnungen, Karriere und Reise in eu, etc.). Keine Partei kann über einen »Grexit« diskutieren, ohne den Bruch mit den Mittelschichten zu riskieren. Ein möglicher »Grexit« ist die offene Flanke der Regierung.
Die Regierung beruft sich auf die nationale Einheit (die Koalition mit der Partei »Unabhängige Griechen« ist ein Zeichen dafür) und hofft auf einen Kompromiss mit den Kreditgebern. Derweil versucht sie mit geopolitischen Spielen, wie der Kontaktaufnahme zu Russland, China und den usa, ihren Spielraum etwas zu vergrößern.
Aber der Kern der Krisenpolitik in Griechenland bleibt weiterhin die offizielle und inoffizielle Abwertung der Arbeit und der Reproduktion der Arbeiterklasse, das heißt die Verschärfung der Ausbeutung vor allem in den arbeitsintensiven Bereichen (Putzfrauen, KrankenpflegerInnen, LandarbeiterInnen, verbreitete Schwarzarbeit usw.) und Ausweitung der Armut. Das wird auch unabhängig von der strategischen Entscheidung der griechischen Bourgeoisie zwischen Euro oder nationaler Währung weitergehen – es sei denn, die ArbeiterInnen beenden diesen Prozess mit ihren Kämpfen. Nur eine breite Bewegung von unten kann der Gesellschaft eine neue Richtung geben. Aktuell schiebt sich institutionalisierte Politik vor diese Fragen. Die Stärkung der Mafiastrukturen und die breite Entpolitisierung der Gesellschaft machen es uns zusätzlich schwer, politisch subversiv einzugreifen.
Stand: Ende Mai 2015
[1] Der Stillstand der Verhandlungen liegt vor allem an der harten Haltung der »Geldgeber«, die kaum von ihren anfänglichen Forderungen abgerückt sind. Die griechische Regierung hat dagegen immer wieder Zugeständnisse angeboten: Höhere Mehrwertsteuer, Primärüberschuss im Haushalt… Eine der Kernforderungen der »Geldgeber« ist, es 800 Millionen bei den »Renten für Geringverdiener« zu sparen. Die griechische Regierung betont immer wieder, das sei eine ihrer »roten Linien«. Ob sie diese Linien halten kann und so zumindest etwas Stärke demonstriert, scheint fraglich. Wahrscheinlicher ist, dass ein »Kompromiss« gefunden wird, der die Probleme weiter in die Zukunft schiebt. Die Institutionen setzen darauf, dass die Regierung am Ende die Zwischenabkommen von 20. Februar 2015 und die vorigen Memoranden einhalten muss.
[2] 53,64 Prozent der mehr als eine Million registrierten Arbeitslosen sind länger als zwölf Monate ohne Arbeit. Nur zehn Prozent davon erhalten Arbeitslosengeld, der Rest lebt von den Löhnen und Renten der Eltern oder Partner. Vor kurzem hat die neue Regierung das Bild der Lebensbedingungen von Rentnern korrigiert, das ihre Vorgängerin zeichnete, um diese zu stigmatisierten: Demnach leben 44 Prozent der RentnerInnen unter der Armutsgrenze, 60 Prozent haben monatlich bis zu 700 Euro netto, jeder fünfte Rentner muss von weniger als 500 Euro leben. Hier liegt auch ein Konflikt in den Verhandlungen mit der Troika: Die Regierung musste die Wiedereinführung der 13. Monatsrente für Rentner mit weniger als 700 Euro Rente auf frühestens Dezember 2016 verschieben. Außerdem verlangt die Troika die Erhöhung der Renteneintrittsgrenze auf 67 Jahre oder 20 statt 15 Versicherungsjahren.