aus: Wildcat 94, Frühling 2013
Unsere Thesen aus dem 30-seitigen Schwerpunkt zu Kapitalismus und Verkehr.
Auch in der BRD sind in den letzten fünfzehn Jahren immer mehr Menschen aus dem System tariflich abgesicherter Arbeitsverhältnisse und der in die Sozialversicherungssysteme (Altersversorgung, Krankenversicherung und staatliches Bildungssystem) integrierten Verhältnisse herausgefallen – inklusive der Vertretung durch die Gewerkschaften.
Die Hartzgesetze haben diese Entwicklung massiv verschärft – mehr als eine Million Menschen sind seit Anfang 2005 durchgängig auf Hartziv, 320 000 davon arbeiten Vollzeit. Zwar hatte die Einführung der Hartzgesetze für einen kurzen historischen Moment dazu geführt, dass Arbeitslosigkeit, Armut und Ausgrenzung zur zentralen gesellschaftlichen Auseinandersetzung wurden (»Montagsdemos« im Osten): unter welchen Bedingungen leben, arbeiten und wohnen wir in dieser Gesellschaft? Die radikale Linke stand aber zu lange abseits, die dgb-Gewerkschaften (unter deren Mithilfe die Hartzgesetze zustande gekommen waren), blockten massiv ab – der historische Moment war vorüber. Seit der Zuspitzung der globalen Krise thematisierte fast nur Sarrazin dieses neue Proletariat – als migrantisch, doof und arbeitsscheu.
Dabei arbeiten die allermeisten. Gerhard Schröder stellte auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar 2005 die Hartzgesetze in den richtigen Zusammenhang: »Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.« – Und der sich massiv ausgeweitet hat: von prekären Jobs (es gibt z.B. knapp eine Million LeiharbeiterInnen) und Tagelöhnerei über Kleinselbstständigkeit und Kleinunternehmertum, bis zu nicht als Lohnarbeit definierter Arbeit im Rahmen staatlicher Transferleistungen (etwa 1€-Jobs oder »Freiwilligen«- / »Bürger-«arbeit gegen Aufwandsentschädigung) und »Zwangsarbeit« im Knast. In diesem »Niedriglohnsektor« gibt es große »Taschen« von (industrieller) Massenarbeit, flexible und lange Arbeitszeiten, viele MigrantInnen. Neben den steigenden Exporten sind diese sogenannten »einfachen«, manuellen und repetitiven, schlecht entlohnten Jobs das Einzige in der BRD, das »boomt«. Und sie machen einen der zentralen Vorteile der deutschen Exportindustrie aus: Die Lohndifferenz zwischen festangestellten Facharbeitern und Leiharbeitern in der BRD ist die höchste in der EU.
Die neue Massenarbeit ist ein Proletariat an vielen Orten der globalen Produktionsketten, darunter auch an zentralen Schnittstellen. Sie ist gerade kein Sektor, sondern branchenübergreifend, zwischen ungelernten Produktionsarbeiten, Büro- oder Kassierertätigkeiten und manuellen Tätigkeiten in der Logistik. Statistisch schlagen sich diese Verhältnisse zumeist als »Dienstleistungsarbeit« nieder. Zwar dürften die größten Bereiche noch immer die klassischen Branchen wie Pflege, Einzelhandel und Gastronomie sein – viel stärker angewachsen sind in den letzten Jahren aber die sogenannten »produktionsnahen Dienstleistungen« wie Produktionsarbeit im Gewand der Zeitarbeit, sowie »Logistik« als Schnittstelle zwischen Produktionsbetrieben und Transportarbeiten (Logistikbetriebe übernehmen z.B. die Vormontage). »Dienstleister« bedeutet im vwl-Neusprech einfach Zulieferer, inzwischen sogar oft einfach »manuelle ArbeiterInnen«.
Die großen Produktionsbetriebe, die Hochburgen der Macht des Massenarbeiters, sind in den letzten Jahrzehnten zergliedert worden. Das war nur möglich durch die Vervielfachung des Transports. Im Transportbereich hat es seit den 80er Jahren immer wieder Kampfwellen von »Berufsgruppen« gegeben. Im Kern waren es die Kontrolleure (Fluglotsen und Vorfeldlotsen), die »Fahrzeugführer« (LKW, Lok, Flugzeug – weniger Schiff) und die Großgerätefahrer in den Häfen, die immer wieder zeigten, dass sie die Transportketten durchaus lahmlegen können. Sie haben aber die Grenzen ihrer Berufsgruppe nicht überwinden können, bzw. nicht überwinden müssen. Das gilt für LKW-Fahrer (bei denen noch das Kleinunternehmertum als Problem hinzukommt) genauso wie für Lokführer, Piloten usw.; zunächst wurde ihre Machtposition durch Just in time und »Rollende Läger« gestärkt – bereits kurze Arbeitsniederlegungen hatten massive Auswirkungen, und oft genügte schon die Androhung eines Streiks für weitere Lohnerhöhungen.
Der technologische Angriff seit den 80er Jahren hat diese Machtpositionen qualifizierter »Transportarbeiter« untergraben. Einfache manuelle Tätigkeiten wurden stattdessen ausgeweitet – allerdings in einer ersten Phase räumlich verteilt. Die Ausbreitung von Kommunikationstechniken (Internet, Datenfunk, Mobilfunk, GPS …) diente zur Kontrolle dieser verteilten Arbeit. Gleichzeitig wurden vordem exklusive Berufe wie Stewardess und Lokführer zu Anlernjobs. Die Arbeitsbedingungen im Transport- und Lagerbereich haben vorweggenommen, was inzwischen die allgemeinen Arbeitsbedingungen des »neuen Proletariats« sind. Nehmen nun die Kämpfe in diesem Bereich eine allgemeine Trendumkehr vorweg? Die GdL-Streiks 2007/8 waren jedenfalls die ersten »proletarischen Lokführerstreiks« seit einem Jahrhundert.
Die schlechteren Arbeitsbedingungen entstanden nicht im »freien Spiel des Marktes«. Als Ronald Reagan im August 1981 streikende Fluglotsen in Handschellen und Fußfesseln abführen ließ,1 blies er zum Angriff auf diese »Berufsgruppen« – und markierte die Tendenz, von nun an Polizei/Militär gegen streikende »Verkehrsarbeiter« (Trucker, Hafenarbeiter, S-Bahn-Fahrer, Fluglotsen …) einzusetzen. In den letzten Jahren wurde in Europa das Militär gegen Streiks in Griechenland (LKW-Fahrer, U-Bahn, Fähren) und in Spanien (Fluglotsen) eingesetzt. Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom August 2012 ist auch bei uns der Einsatz der Bundeswehr im Inneren legal.
Unterhalb dieser militärischen Drohung haben Arbeitsamt und Staat einen boomenden Leiharbeitssektor aufgepäppelt und treiben den Warenverteilzentren die billigen Arbeitskräfte zu.
Im Rahmen der »Globalisierung« wurden riesige Konzerne geschaffen (Zentralisation), ohne dass auf Arbeiterseite neue Orte massenhafter, direkter Kooperation entstanden (Konzentration). Die gewohnten Mechanismen auf Arbeiterseite (Beschäftigte einer Firma, oder Berufsgruppen wehren sich) liefen ins Leere. Das systemische Risiko in den globalen Transportketten blieb zunächst eine leere Drohung.
In den USA, die bei diesen Prozessen einige Jahre voraus sind, dreht sich diese Entwicklung seit etwa anderthalb Jahrzehnten, und es entstehen wieder größere Arbeiterkonzentrationen an einem Ort. So hat sich die Zahl der in Lagerhäuser Beschäftigten von 1998 bis 2006 verfünffacht, und die Betriebe werden immer größer. Riesige Warenverteilzentren übernehmen immer mehr Tätigkeiten (Aufbereitung der Retouren, Montage, Verpacken, Auszeichnen usw.); »Funktionenhäufung« auf der einen, steigende organische Zusammensetzung (Automatisierung) auf der anderen Seite.
Auch hinsichtlich der Kämpfe dreht sich die Tendenz, in den letzten Jahren kam es zu einem Aufschwung in den riesigen Montagezentren in China (Foxconn) und im globalen Transportsektor. Der »erste globale Stau« 2004 war der Wendepunkt. Die MalocherInnen haben es satt, durch ständiges Improvisieren und längere Arbeitszeiten die kaputte Infrastruktur und schlechte Organisation auszubügeln. In einem historischen Moment, in dem das Kapital dringend auf ihre Zusammenarbeit angewiesen ist, verweigern die ArbeiterInnen diese Zusammenarbeit. Nur wenn es dem Kapital gelänge, das Wissen und die Fähigkeiten der lebendigen Arbeit in einen technologischen Sprung zu übersetzen, könnte es die Überakkumulationskrise auflösen. In einem System, das zunehmend allen nur als Kontrolle der individualisierten Arbeit und Zwang erscheint, mangelt es an der Bereitschaft zur »Kollaboration«. Der Stau ist davon erstmal nur negativer, »technischer« Ausdruck. Aber weil in der gegenwärtigen historischen Konstellation das Kaptal gezwungen ist, die Dezentralisierung wieder zurückzunehmen, steckt in ihm die Potenz der globalen Arbeiterklasse. Daher unser Augenmerk auf Umschlagzentren und deren räumliche Konzentration wie im Inland Empire (s. S. 53).
In der Phase der »Globalisierung« nahm die weltweite Verfügbarkeit von Gütern und Informationen weiter zu, aber der soziale Gehalt des kapitalistischen Mobilitätsversprechens schrumpfte: Arbeitsmigration wird teilweise militärisch bekämpft; immer mehr Menschen sind vom sozialen Aufstieg ausgeschlossen. Räumliche Mobilität wurde ökologisch anrüchig und tendenziell immer teurer, die Ausdehnung des Verkehrs stößt inzwischen auch an »natürliche« Grenzen, und in den alten Metropolen sinkt die individuelle Mobilität noch aus anderen Gründen (»peak travel«, »peak car«).
Die kapitalistische Mobilität wird seit Jahren auf globaler Ebene zunehmend von Bewegungen gegen große Verkehrs-Infrastrukturprojekte und Kraftwerke herausgefordert. Zwar haben sich historisch gesehen die Kämpfe in Krisenphasen zunächst immer aus der Produktion in die »Zirkulation« verlagert. Wir sehen in diesen Bewegungen aber kein Pendel auf die andere Seite schwingen, denn schon jetzt ist die Transportbranche nach dem Öffentlichen Dienst der Sektor mit den zweitmeisten Streiks weltweit. Bewegungen gegen Verkehrsprojekte finden auch deshalb so großen Zulauf, weil die Leute ihre eigenen Arbeitsbedingungen – wie Flexibilisierung, Ausweitung der Arbeitszeit, Verdichtung und Monotonisierung der Arbeit – als »Preis« dieser kapitalistischen Mobilität erleben, es aber erstmal einfacher finden, auf der Straße zu demonstrieren, als sich auf Arbeit zu wehren. Insofern gibt es die materielle Chance, dass »Bewegung« und »Arbeiterkampf« zusammenkommen. Die USA zeigen, wohin der Weg gehen kann: die Mobilisierungen der Troqueros, die Streiks in den Häfen, die Aktionen von Lagerarbeiterinnen – und die Aufmerksamkeit von Occupy Wallstreet diesen Kämpfen gegenüber sind Vorboten (siehe den Artikel im Anschluss).
Diese Bewegungen, Mobilisierungen und Kämpfe suchen nach dem Hebel, mit dem sie wirklich was ändern können. Einiges sind Umwege (Gewerkschaft mit Klasse verwechseln), einiges sind Sackgassen (Forderungen an den Staat), aber es sind Schritte über den Paternalismus des Organinizing und Kümmerns von oben hinaus.
In den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts war die gängige Meinung, nun gäbe es keine Arbeiterklasse mehr – Ende der 60er Jahre hätte das niemand mehr behauptet. Drei Jahrzehnte später war dieselbe Behauptung wieder zum Mainstream geworden. Das ist nicht so sehr ein soziologisches Problem, sondern die Frage danach, ob es eine Kraft gibt, die alles umstürzen kann. Denn wenn nicht, wären wir tatsächlich auf den Staat angewiesen, um unser Leben zu verbessern.
Die aktuellen Entwicklungen als »Erosion der Mittelschicht« zu verstehen, führt zu Sozialdarwinismus à la Sarrazin. Sie als »wachsenden Niedriglohnsektor« zu betrachten, führt zu Forderungen nach staatlicher Regulierung wie Mindestlöhnen oder Existenzgeld, allgemeiner Krankenversicherungspflicht usw. Man sucht den Konfliktort nicht »an der Basis«, sondern in der politischen Arena und hat Mitleid mit den »armen LeiharbeiterInnen bei Amazon«.
Wir wollen die Perspektive umdrehen und im neuen Proletariat das historische Subjekt sehen. Alquati wies Anfang der 60er Jahre darauf hin, dass die Facharbeiter den Montagearbeiter gar nicht als »richtigen Arbeiter« betrachteten: nicht qualifiziert, kein Klassenbewusstsein, nicht von der Lehre bis zur Rente in der Fabrik … – die Arbeiterrevolten Ende der 60er Jahren gingen aber weitgehend von den Montageabteilungen aus. Ganz ähnliche Prozesse erleben wir heute.
Die Automatisierung lässt noch mehr »unqualifizierte Jedermannstätigkeiten« entstehen. Die Abgrenzung zwischen »Kern-« und »Randbelegschaften« bröckelt durch die »Prekarisierung« der Arbeit auch von ehedem Festangestellten.
Überakkumulationskrise. Die Leute werden mit immer mehr Kapital, mit immer größeren Schiffen, größeren lkws, mehr Kontrollelektronik umstellt – und trotzdem sinkt die Effizienz. Auch hier nochmal die Rückschau um mehr als ein halbes Jahrhundert: In der Olivettiuntersuchung sagten die frisch in die Fabrik rekrutierten ArbeiterInnen: »man könnte auf die Idee kommen, bei Olivetti wird die Desorganisation studiert …«, und Alquati arbeitete heraus, dass es von dieser Beobachtung aus einen Weg ins kapitalistische Labyrinth der Verbesserungsvorschläge, der Beteiligung an der Produktivitätssteigerung und letztlich zur Vorstellung von Selbstverwaltung gibt – dass sie aber davon ausgehend auch ihre Macht zum revolutionären Bruch erkennen können.
Proletarisierung. Migrantische Arbeitskraft, die einerseits sehr viele Fähigkeiten hat (mehrere Sprachen und Kulturen, Umgehen mit modernster Kommunikationstechnik), andererseits immer stärker die »Lücken im Plan« stopfen muss – gleichzeitig aber immer mehr als »unqualifizierte« Arbeitskraft auf Abruf ausgebeutet wird.
Konzentration. Das Geheimnis der kapitalistischen Konterrevolution der letzten Jahrzehnte war die Zerlegung der großen Belegschaften, die Sub-Sub-Sub-Ketten. So konnten die ArbeiterInnen immer weiter gedrückt werden. Das geschah nicht ohne Widerstand, aber an keinem Punkt entstand daraus eine massenhafte Front, oder auch nur »Öffentlichkeit«. Was die brd betrifft, lässt sich hier seit etwa sechs Jahren eine Trendwende feststellen: Streikenden schlägt mehrheitlich Sympathie entgegen, sie werden tendenziell als jemand gesehen, der / die für »unser aller Interesse kämpft«. Dies könnte im Zusammenhang mit der erneuten Konzentration der Ausbeutung zu einem qualitativen Sprung führen, wenn Streikende in der Öffentlichkeit als Kraft wahrgenommen werden, die unser aller Leben ändern kann. Dann kann Arbeiterkampf wieder zu revolutionärem Kampf werden. Und er wäre diesmal wirklich global. ■