Wildcat Nr. 90, Sommer 2011 [w90_migration.html]



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Am 18. Juni wurde in Mekka die indonesische Hausangestellte Ruyati Binti Sapubi von den saudischen Behörden öffentlich hingerichtet. Mindestens 22 weitere Indonesierinnen und ungezählte andere Gastarbeiter sitzen im Königreich in der Todeszelle. 113 indische Arbeiter begingen letztes Jahr in den Emiraten Selbstmord.Das Gesellschaftsmodell der arabischen Ölländer am Golf und in Libyen ist ein extrem rassistisches Apartheidsystem, in dem eine Minderheit von »Einheimischen« staatlich alimentiert wird und die arbeitende Mehrheit aus anderen arabischen Ländern oder Südostasien kommt. Dieses System kommt nun an seine Grenzen. Die einheimische Jugend fordert nicht nur einen »goldenen Käfig«, sondern soziale Perspektiven – und die migrantischen ArbeiterInnen haben haben in den letzten Jahren zunehmend militante Kämpfe geführt.

Arabischer Frühling oder Aufstand der Einheimischen?

»Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir den Weg Ägyptens gehen.«
(Ein Transportarbeiter in Nairobi, Mai 2011

Der Bruch mit der politischen, sozialen und kulturellen Ordnung strahlt weit in afrikanische und auch europäische Länder aus und beflügelt die Widerständigkeit. Andererseits deutet sich eine militärische Konterrevolution an, die an der großen Schwachstelle der Aufstände ansetzt: der tief sitzenden Spaltung der Arbeiterklasse in Einheimische und MigrantInnen. Dafür steht vor allem der Krieg in Libyen, die militärische Restaurierung der Regimes am Golf, die kriegerische Entwicklung im Jemen und die Militarisierung des sozialen Aufruhrs der verarmten Landbevölkerung im Süden Syriens durch Saudi Arabien und die usa. Welche Rolle die MigrantInnen spielen, wird ganz wesentlich darüber entscheiden, in welche Richtung sich die Bewegung entwickelt.

Migration

In den ölreichen Ländern am Golf und in Nordafrika hat sich die Bevölkerungsstruktur in den letzten Jahren massiv verändert: Etwa die Hälfte der Einwohner dieser Länder sind MigrantInnen. Das irreguläre Migrationsregime Libyens wurde im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen bekannt. Bereits 2005 gab es 600 000 legale und zwischen 750 000 und vier Millionen illegale Gastarbeiter, die Schätzungen gehen weit auseinander. Neben (legalen) asiatischen Kontraktarbeitern stammt die Mehrzahl der MigrantInnen aus subsaharischen Ländern und hält sich sich halb- oder illegal im Land auf.

In den sechs Ländern (Kuwait, Bahrain, Saudi-Arabien, Katar, Vereinigte Arabische Emirate und Oman) des Golfkooperationsrates (gcc) leben 40 Millionen Menschen, davon sind 20 Millionen MigrantInnen, von denen wiederum Dreiviertel aus asiatischen Ländern stammen (v.a. Indien, Pakistan und Bangladesch). Sie werden extrem kontrolliert, bei der Ankunft wird ihnen meist der Pass abgenommen, so dass eine selbst gewählte Rückkehr unmöglich wird. Wenn sie sich auch nur geringfügig wehren, werden sie abgeschoben, eingeknastet oder mit der Todesstrafe bedroht.

Durchschnittlich 70 Prozent der Arbeitenden in den gcc-Ländern sind MigrantInnen. Das Bild einer migrantischen Arbeiterklasse wird noch deutlicher, wenn man die Beschäftigung im Privatsektor betrachtet: In Kuwait etwa werden weniger als zwei Prozent dieser Arbeitsstellen von Einheimischen besetzt.

Als Gründe werden mangelhafte praktische Ausbildung, »zu hohe« Ansprüche, die Nichtbereitschaft zur Unterordnung und mangelnde Produktivität der Einheimischen genannt. Die Arbeitslosigkeit gerade unter jugendlichen Einheimischen ist dementsprechend groß, es gibt lediglich die Aussicht auf eine Stelle im Öffentlichen Sektor; dieser traditionell sehr unproduktive Bereich schrumpft allerdings durch die Privatisierungspolitik stark. Aber alle Programme zur »Omanization«, »Saudization«, »Emiratization« usw. haben es nicht geschafft, die Einheimischen zu weltmarktkompatiblen Bedingungen ans Arbeiten zu kriegen. Während diese in einem (relativ gesehen!) »goldenen Käfig« aus sozialstaatlich finanzierter Arbeits- und Perspektivlosigkeit und politischer Repression eingesperrt sind, wird es gleichzeitig immer teurer, die ausländische Arbeiterklasse unter Kontrolle zu halten.

Die Kosten der Militarisierung

Die Ölstaaten gewinnen durch die MigrantInnen: Diese machen die untersten Arbeiten, die kein Einheimischer zu machen bereit ist. Sie machen aber auch die Arbeiten, für die es keine qualifizierten Einheimischen gibt. Zudem müssen sie einen Teil ihres Lohns im Land lassen.

Allerdings fließt ein großer Teil der Löhne auch ab (die letzten verfügbaren Zahlen betreffen 2004; die Rückflüsse aus allen gcc-Staaten waren in diesem Jahr 27 Mrd. us-Dollar, 16 Mrd. davon stammten von MigrantInnen aus Saudi Arabien – das waren 10-11 Prozent des bip!). Wie schlecht auch immer – es muss eine gewisse Infrastruktur für die MigrantInnen bereitgestellt werden, Wohnungen, Gesundheitsversorgung… Eine Kostenstelle ist zuletzt massiv gestiegen, die Ausgaben für Überwachung und Unterdrückung. Vor kurzem haben die Vereinigten Arabischen Emirate eine dauerhafte Brigade von Reflex Responses, einer neuen Söldnerfirma des Blackwater-Chefs Eric Prince, aufstellen lassen, um die Militanz der ausländischen ArbeiterInnen unter Kontrolle zu halten. Es gibt volkswirtschaftliche Berechnungen, wonach sich die Beschäftigung der MigrantInnen in den Golfstaaten unter Berücksichtigung aller Profite und Kosten kaum mehr lohnt.

Grenzen des Sozialstaats und Chancen zur Neuzusammensetzung

Der Aufstand in Bahrain hat viele Vorgeschichten. Bereits 1999 gab es in Kuwait gemeinsame Massenriots von Ägyptern und Kuwaitern wegen schlechter Lebensbedingungen, 2005 gewaltsame Auseinandersetzungen von asiatischen Arbeitern in Kuwait, Bahrain und Katar mit der Polizei und von 2006 bis heute Streiks, Demonstrationen und Straßenblockaden von bis zu tausenden asiatischen Bauarbeitern in Dubai. Auch in Libyen streikten in den letzten Jahren ausländische Arbeiter. Soweit erkennbar, sind diese allerdings meist unter sich geblieben und wurden dann abgeschoben.

Der Frust der einheimischen Jugend verbindet sich bisher nicht mit der Wut der ausländischen ArbeiterInnen. Das zeigen die Pogrome gegen schwarzafrikanische Migranten in Libyen – im Jahr 2000 kamen dort bis zu 500 Menschen um, hunderttausende wurden ausgewiesen. Im gegenwärtigen Aufstand kam es verschiedentlich zu Überfällen auf Wohnheime und Baustellen, um gegen die Beschäftigung ausländischer Arbeiter zu protestieren. Die Militarisierung des Konfliktes hat die Migranten endgültig für alle Seiten zum Freiwild gemacht, nachdem Gerüchte gestreut wurden, Gaddafi würde Söldner aus dem Sudan und anderen Ländern einfliegen (selbst die un-Flüchtlingsorganisation verwies sehr früh auf die politische Absicht hinter diesen Gerüchten und kritisierte deren unhinterfragte Verbreitung in europäischen Medien). Außerdem können sie in der chaotischen Situation einfacher ausgeraubt werden. Und manche Unternehmer zahlen einfach keine Löhne mehr und überlassen die Menschen ihrem Schicksal. Beispielhaft war die Situation in der libyschen Hafenstadt Misurata, wo während der Kämpfe zwischen »Rebellen«, nato und Gaddafi-Truppen tausende Migranten im Hafen campierten. Die Gaddafi-Truppen beschossen sie, weil die nato den Hafen als Umschlagplatz benutzte, die »Rebellen« griffen sie an, da ja »Söldner« unter ihnen waren, die nato bombardierte sie, da libysche Truppen in der Nähe waren – und sicherlich auch, um ihnen klar zu machen, dass sie die Reise nach Europa erst gar nicht anzutreten brauchen.

In Bahrain ist die Konstellation eine andere. Unter der einheimischen schiitischen Bevölkerungsmehrheit gibt es relativ viele Arbeiter, das sunnitische Herrscherhaus stützt seine Macht zunehmend auf ausländische sunnitische Söldner: über die Hälfte der Sicherheitskräfte sind Pakistanis. Die Wut gegen die Repressionsorgane entlud sich z.T. pauschal gegen die pakistanische Community, von der natürlich bei weitem nicht alle im Polizeiapparat arbeiten. Eine ganze Reihe von Pakistanis wurde sogar umgebracht.

Die finanziell angeschlagenen Regimes werden den seit dem Ölboom der 50er Jahre verfolgten Weg, eine unproduktive Schicht Einheimischer mit Sozialleistungen ruhig zu stellen, nicht weiter verfolgen können. Und auf Dauer werden sich die Kämpfe der einheimischen Jugend mit denen der MigrantInnen verbinden müssen. Die Chancen dafür stehen gar nicht so schlecht, wie es im Moment aussehen mag:

– Weil die Arbeiterklasse in den Ölländern multinational ist, haben Klassenkämpfe sehr oft globale Merkmale und Bezüge. Zum Beispiel wurden 2004 Büros von Qatar Airways in der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu verwüstet, nachdem im Irak vier nepalesische Kontraktarbeiter umgebracht worden waren. Auch in den letzten Monaten protestierten Angehörige von Arbeitern aus Bangladesch und den Philippinen zu Hause dagegen, dass die libysche Regierung ihre Verwandten im Stich lässt.

– Die Aufstandswelle selbst hat globale Auswirkungen: Die Flucht hunderttausender Migranten aus Libyen hat Niger, Mali, die Elfenbeinküste und Burkina Faso destabilisiert – in Burkina Faso ist es zu gewaltsamen Aufständen aufgrund nicht bezahlter Löhne, extrem gestiegener Lebensmittelpreise usw. gekommen. Zehntausende Arbeitsmigranten aus Libyen sind nach Ägypten zurückgekehrt, ihre Geldüberweisungen fehlen nun, während die Arbeitslosigkeit im Land steigt. In Saudi Arabien leben 2,5 Millionen ägyptische Arbeitsmigranten; man kann sich die sozialen Auswirkungen vorstellen, wenn das Regime die angedrohte Ausweisung aller Migranten, die seit mehr als sechs Jahren im Land sind, tatsächlich umsetzt.

Landgrabbing

Die stark gestiegenen Lebensmittelpreise sind ein weiteres Pulverfass. Seit mehreren Jahren versuchen alle arabischen Regimes, ihre Versorgung mit Grundnahrungsmitteln so weit wie möglich vom Weltmarkt abzukoppeln, indem sie über Staatsfonds riesige Ländereien in Afrika und Zentralasien aufkaufen. Die Auslagerung sozialer Probleme auf andere Länder stößt angesichts einer globalen »Revoltenstimmung« allerdings auf Schwierigkeiten. Das zeigte sich jüngst in einem Konflikt zwischen Ägypten und dem Sudan: In Reaktion auf die Aufstandsbewegung kaufte die Militärregierung große Flächen im Nordsudan, die sie ägyptischen Firmen zur Bearbeitung übergab. So soll die eigene Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln versorgt und das Risiko für Ernteausfälle dem Sudan aufgebürdet werden. Gleichzeitig kann die »gebildete Jugend« ihr Glück als Unternehmer in der Agrarwirtschaft versuchen.

Dies führte jedoch umgehend zu Protesten sudanesischer Bauern, die entschädigungslos enteignet werden sollen, und zu Protesten der sudanesischen »gebildeten Jugend« in Karthoum, die Jobs für sich reklamiert.



aus: Wildcat 90, Sommer 2011



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