Wildcat Nr. 90, Sommer 2011 []



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Buchbesprechung

John Malamatinas: Krisenlabor Griechenland: Finanzmärkte, Kämpfe und die Neuordnung Europas*.

Griechische Blaupause?

Die Autoren analysieren die Auseinandersetzungen um die griechische Schuldenkrise und ordnen sie in die gesamteuropäische Situation ein. Ihre Hauptthese: die EU-Strategen wollen die Krise zur Reorganisierung Europas nutzen. Griechenland sei »Labor« für eine Schockpolitik«, die »ein neues Kommando« über die Klasse installieren soll, die aktuelle Strategie sei die Blaupause für das weitere Vorgehen in anderen, vor allem süd- und osteuropäischen, Staaten.

Das Buch hat drei Teile: Krisenproteste in Griechenland, Umbau Europas, unsere Handlungsmöglichkeiten.

Im ersten Teil beschreibt John Malamatinas die Bewegungen von Dezember 2008 bis Dezember 2010. Seine Fragestellung ist dabei: Wie ist die Bewegung gesellschaftlich und politisch konstituiert, was waren ihre Stärken und Schwächen, welche Perspektiven ergeben sich daraus?

Die Aufstandswochen im Dezember 2008 thematisierten auch die Unzufriedenheit mit den eigenen Lebensbedingungen. Malamatinas beschreibt die Kreativität und Militanz, aber auch die Heterogenität sowohl der Bewegung im Dezember 2008 als auch der Bewegung gegen die sozialen Angriffe des Staates in Reaktion auf die Schuldenkrise. Dabei hebt er besonders die Vereinigung der an den Rand der Gesellschaft gedrängten »zur Revolte bereiten« Akteure mit den streikenden Lohnabhängigen im Mai 2010 hervor. Aber am 5. Mai 2010 starben auch drei Menschen in einer Bank, die aus einer Demo heraus angezündet wurde. Damit ist der Mai gleichzeitig Höhepunkt und Schockmoment der Bewegung. Nach einer längeren Schockphase erreichte erst der siebte Generalstreik im Dezember wieder eine Beteiligung, die an die Bewegung vor dem Mai anknüpfen konnte.

Besonderen Wert legt der Bericht auf zwei Aspekte. Zum einen die Kritik an Teilen der griechischen Linken, die nationalistisch argumentieren, sich nicht kritisch genug mit dem griechischen Kapital auseinandersetzen, den Umgang mit der Schuldenkrise nur als imperialistischen Angriff sehen, oder sich in Diskussionen um Stadtguerilla verlieren. Zweitens die Versuche zur Spaltung der Bewegung durch mediale Hetze gegen »autonome Gewalttäter« und »ausländische Kriminelle«, die einen ansonsten friedlichen Protest zerstören. Die Zusammenarbeit zwischen Polizei, Zivilbullen und organisierten rechten Kräften wird angedeutet.

Als letztes beschreibt er die Hoffnung vieler linker Gruppen auf einen »Dezember der Arbeiter«, der nach seiner Ansicht nur dann möglich ist, wenn die Bewegung eine klare Trennlinie zwischen sich und dem Staat zieht.

Im zweiten Beitrag »Schockpolitik und der Umbau Europas« beschreibt Detlef Hartmann zunächst fast minutiös die Treffen und Diskussionen der EU-Entscheidungsträger im Kampf gegen den drohenden Zusammenbruch im Mai 2010. Danach ordnet er die Krise theoretisch ein.

Mithilfe von Artikeln aus der Tagespresse zeichnet er ausführlich den politischen und medialen Umgang mit der Schuldenkrise vom Herbst 2009 bis Mai 2010 nach. Dabei geht er auch auf den »sozialen Krieg« der Märkte gegen die griechischen Unterklassen ein. Er beschreibt die Funktionsweise des Rettungsschirms und die griechischen Sparprogramme. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Medienhetze und dem sozialen Rassismus in Deutschland gegen die griechische Bevölkerung. Als letztes problematisiert er noch einmal die Rolle Deutschlands als treibende Kraft beim Umbau Europas.

Kern seiner Einschätzung der Krise ist die These, das Kapital versuche gerade, ein neues Regulationsmodell umzusetzen und den Kapitalismus auf ein neues Niveau zu heben. Diese Offensive zeichne sich vor allem durch zwei Bewegungen aus: Mithilfe von »Clustern«, also Zusammenballungen von innovativen Industrien, eine bessere technologische Basis der »Inwertsetzung der menschlichen Subjektivität« zu schaffen; zweitens durch massive Verelendungsangriffe die Verwertung von immer mehr Menschen zu erleichtern. Die New Economy in den USA sei ein erster dahingehender Versuch gewesen, ihre Krise 2001 brachte die Offensive zwar ins Stocken, ermöglichte dem US-Kapital aber einen großen Vorsprung zum Rest der Welt. Die Krisen der letzten Jahre sind Durchsetzungskrisen des neuen Regulationsmodells. Die aktuelle Eurokrise entstand beim Versuch der EU, diese Entwicklung nachzuholen. Viele EU-Strategen hätten die Hoffung, sie für einen beschleunigten Umbau Europas nutzen zu können. Europa und der Euro seien nicht grundsätzlich infrage gestellt, sie würden sogar gestärkt. Es soll ein »deutsches Europa« entstehen, das den Schock der Agenda 2010 auf den europäischen Großraum überträgt.

Das schließt Griechenland ein. Es soll nicht aus der EU ausgeschlossen werden, denn das würde Abschreibungen und den Staatsbankrott Griechenlands bedeuten und Bankenpleiten nach sich ziehen. Stattdessen soll es als Labor für »neue Strategien des sozialen Krieges« dienen, an dem ein Exempel statuiert wird.

Widerstandskräfte sieht Hartmann in Griechenland neben den im ersten Aufsatz beschriebenen Protestbewegungen vor allem in einer »Moral Economy«: »Die in der deutsche Hetze als Korruption und Klientelwirtschaft bezeichneten« Verhaltensweisen haben eine andere Seite, die der »Selbstorganisation der Unterklassen gegen Angriffe von Oben«. Bei diesen Angriffen ist die »deutsche Kommandohöhe des Kapitals« die Speerspitze der europäischen Offensive, die besonders massiv die Verelendung zur Durchsetzung ihrer Strategie betreibt. Dafür werden auch Institutionen wie der IWF benutzt. Diesen hat (vor allem Merkel) zu einer »Weltmacht« aufgebaut, zum einen als Mittel der Großraumpolitik, zum anderen als »Schutzschirm gegen den Volkszorn«.

Im namentlich nicht gekennzeichneten dritten Teil wird vorgeschlagen, mit einer »militanten Selbstuntersuchung« die eigenen Verhaltensmuster aufzubrechen. Eine inhaltliche Verständigung mit anderen Akteuren sei nur möglich, wenn wir unsere alten Vorstellungen infrage stellen. Dies sei erfolgversprechend, weil gerade im Moment »Proteste verschiedener sozialer Bereiche« zusammengefunden haben und in vielen Städten Europas »radikale Praktiken« zunehmen. Wenn wir unsere eigene Lage in der Situation der anderen erkennen und gegen die »Entwertung« kämpfen, »werden wir in der Lage sein, Verbindung zu den Kämpfen der MigrantInnen zu suchen und den Menschen, die sich in den drei Kontinenten mit den neuen postmodernen Barbareien konfrontiert sehen«. Drei Sachen kann man sofort einfach machen: In bestehende Aktionen und Initiativen eingreifen, der »medialen, gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Vermittlung entgegentreten« und sich kollektiv gegen Repression und Extremismus-Stimmungsmache wehren.

Das Buch bietet einen Überblick über die griechischen Bewegungen und ihre Zusammensetzung und bettet sie in die politische und ökonomische Entwicklung ein. Es gibt aber zwei Probleme. Zum einen der dominante Blick von oben: Auch wenn Hartmann immer von »beiden Seiten«, von Unterklassen und Kämpfen spricht, kommt eigentlich nur das Kapital als handelndes Subjekt vor. Zum anderen erscheint mir die politische Kernthese der Analyse nicht haltbar. Die angeblich hinter Sparpolitik und Krisenangriffen stehende homogene Strategie des Kapitals unter amerikanischer respektive deutscher Hegemonie ist kaum plausibel. Schließlich hat die »New Economy« keineswegs zu einer grundlegenden Veränderung der Produktivität geführt. Daneben sind die Vorschläge, sich durch eine »militante Selbstuntersuchung« zur Solidarität mit den anderen, weltweit Kämpfenden zu befähigen, und so als Teil dieser Kämpfe handeln zu können, etwas schwach. Auch wenn wir selber an dieser Stelle Nachholbedarf haben und eine Debatte über unsere Rolle in den Kämpfen dringend notwendig ist, scheinen mir die Vorschläge schnell zusammengeschrieben und wenig konkret durchdacht.

* Berlin und Hamburg 2011 (Assoziation A)



aus: Wildcat 90, Sommer 2011



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