Wildcat Nr. 88, Winter 2010 []



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Liberalismus am Ende…

Im Gefolge der Französischen Revolution entstanden drei Weltanschauungen, welche die nächsten zwei Jahrhunderte geprägt haben: der Konservativismus, der Liberalismus und der Sozialismus. Der Konservativismus, eine europaweite Gegenrevolution, wollte in Reaktion auf die Französische Revolution eine Restauration. Gegen diese entstand der Liberalismus, der für Fortschritt, Entwicklung und Modernität eintrat. Später spalteten sich aus der liberalen Strömung die Sozialisten ab, sie wollten die Geschichte beschleunigen, Revolution. In dieser ersten Phase waren alle drei Ideologien gegen den Staat: den Liberalen und Sozialisten war er zu repressiv, den Konservativen war er zu sehr gegen ihre gesellschaftlichen Grundpfeiler Familie und Kirche vorgegangen.
Nach der gescheiterten Revolution 1848 änderten alle drei Strömungen ihr Verhältnis zum Staat: nun erwartete man sich von ihm auf konservativer Seite Rettung vor den »gefährlichen Klassen«, auf seiten der Staatssozialisten Reformen, die schließlich zum Sozialismus führen sollten (Bernstein, SPD…). Und die Liberalen sahen nun im Staat den Garanten für Ordnung und Fortschritt im Kapitalismus. Der Liberalismus war somit die kapitalistische Hauptideologie, die den kapitalistischen Fortschritt und die institutionell abgesicherte Verteilung seiner Früchte propagierte.
Dieser allgemeine Bezug auf den Staat wurde 1968 ff. von links aufgesprengt. Eine weltweite egalitäre Bewegung von unten stellte neben der bürgerlichen Familie auch den »Beruf« und somit die kapitalistische Arbeitsteilung infrage, die Grundlagen des Staates. 1968 war eine Kampfansage an den Liberalismus (»liberal« war eines der schlimmsten Schimpfwörter der damaligen politischen Bewegung) und Kritik am kapitalistischen Fortschritt(sglauben).

Es hat eine gewisse Logik, dass die Gegenbewegung auf diese weltweite revolutionäre Drohung als »Neoliberalismus« firmiert. Es war aber insofern eine Fehlbezeichnung, als zwar »weniger Staat« gefordert wurde, der Staat aber gebraucht wurde, um Sozialleistungen und Löhne zu senken und die in die Krise geratenen Profite des Kapitals zu steigern. Real ist die kapitalistische Verwertung heute stärker an den Staat gekoppelt als vor 40 Jahren (Subventionen, historisch hohe Staatsverschuldung… ). Der Staat treibt Leute in Billiglöhne, illegalisiert ArbeitsmigrantInnen für Drecksjobs, treibt immer mehr Steuern von den Armen ein (Tabak- und Mehrwertsteuer), und war selbst Vorreiter bei Prekarisierung, Aufweichung des Arbeitsrechts, Beschäftigung von Subunternehmern usw. usw.

Am Ende dieses Prozesses sind die Grundlagen dessen weggegraben, was zwischen 1789 und 1848 entstanden war: die Einbeziehung der Arbeiterklasse in den Nationalstaat und das »Ver- und Zertreten« (Marx) der unterschiedlichen Interessen in der parlamentarischen Demokratie.

Ende des Nationalstaats

Die Parteiendemokratie der Nachkriegszeit organisierte das politische Engagement als sozialen Aufstieg. Die rot-grüne Regierung dürfte die letzte gewesen sein, für die das gilt: Bundeskanzler Kind einer alleinerziehenden Mutter aus ärmlichen Verhältnissen, Außenminister Metzgersohn und Taxifahrer.
Die Wende begann mit Reagan. Dessen Berater hatten verstanden, dass in einer langgezogenen Krisenphase, wo keine Partei genügend WählerInnen mit glaubhaften Versprechen an sich binden kann, diejenige gewinnt, die ins Reservoir der WechselwählerInnen einbricht. Dieser Dreh, die Erosion der Parteiendemokratie in Wahlerfolge umzumünzen, wurde bald auch in Europa angewandt. Möglichkeiten und Grenzen dieser Machtpolitik lassen sich etwa an Seehofers »kaltem Rassismus« oder an Sarkozy beobachten. Dessen Zustimmungswerte in der Bevölkerung sind ähnlich denen der Bundesregierung bei 30 Prozent (der WählerInnen!). Damit hat er eine realistische Chance, die Wahlen 2012 zu gewinnen, wenn er als Stärkster aus dem ersten Wahlgang hervorgeht. Dazu muss er dem Front National die rechtsradikalen Wechselwähler wegschnappen. Deswegen schiebt er Roma ab, schickt Bullen in die Vorstädte, zwingt die Gewerkschaften auf Konfrontationskurs. Wahltaktisch alles gut ausgedacht. Aber als Sarkozy 2008 tönte: »Wenn heute jemand in Frankreich streikt, merkt das niemand mehr«, hat er sich kolossal getäuscht – dazu trug nicht zuletzt bei, dass gleichzeitig zu Rentenreform und massenhaften Entlassungen im Öffentlichen Dienst bekannt wurde, dass Liliane Bettencourt seinen Wahlkampf finanziert hatte und dafür mit 30 Millionen Euro Steuernachlass belohnt worden war.

»Krise der Politik«

Aufstieg und Fall der FDP sind diesbezüglich exemplarisch. Ideologisch versteht sie sich als Hort des Liberalismus, Hüterin der persönlichen Freiheitsrechte, Bastion gegen übermäßige Staatsmacht usw. In Wirklichkeit vertritt sie seit der Krise Anfang der 80er Jahre (»Lambsdorff-Papier«) marktradikale Klientelpolitik.
In der luxuriösen Hamburger Hafencity wählten bei der letzten Bundestagswahl 27,5 Prozent FDP. Sie verstehen sich als »Leistungselite«, als die »Starken«, die keinen Bock mehr haben, »die Schwachen mitzuschleppen« (passend dazu lancierte der Sesselfurzer Sloterdijk seine Vorschläge zur Abschaffung des Sozialstaats). Aber natürlich sind die Luxuswohnungen und die Luxusinfrastruktur in der Hafencity die am stärksten staatlich subventionierten in der ganzen BRD. Um diese Subventionen aufzubringen, hat der Hamburger Senat in den anderen Stadtteilen an Schulen und offener Jugendarbeit gespart, Nahverkehrs- und Wasserpreise erhöht, und quer durch alle sozialen Leistungen gekürzt (Frauenhäuser, Blindengeld, Kinderkuren, Schwimmbäder…). Die hohen Gewinne der FDP bei der letzten Bundestagswahl erklären sich nicht nur mit der völlig unterbelichteten Debatte in der BRD zum »indirekten Lohn« (viele dürften die Parole »Mehr Netto vom Brutto« komplett falsch verstanden haben!), sondern vor allem damit, dass viele andere soziale Gruppen bei diesen »Gewinnern« sein wollten (jeder zehnte Arbeitslose hat FDP gewählt), und mit dem Verschwinden alter Milieus, aus denen bisher SPD und CDU schöpfen konnten. Der Absturz der FDP seither erklärt sich mit der Einsicht, dass sie die Klientelinteressen gar nicht ausreichend durchsetzen kann (und dass diese ziemlich hässlich sind: Mehrwertsteuerabsenkung für Hotels gegen Parteispende, u.a.).
Aufstieg und Absturz der FDP sind zwei Seiten derselben Medaille, dass nämlich der Liberalismus insgesamt geistig-politisch und moralisch tot ist. Die von einem staatlich (de-)regulierten globalen Finanzmarkt ausgelöste und verschärfte globale Krise war dafür nur die Sterbeurkunde. Übrigens zeigen die , die Schweiz und Österreich – letztlich auch Jürgen Möllemann –, dass aus dem Kadaver liberaler Parteien und Milieus am ehesten rechtsradikale Entwicklungen drohen.

Rot-grün…

Die rot-grüne Regierung hat den schärfsten Bruch in den Klassenverhältnissen der BRD in den letzten 50 Jahren durchgesetzt: Bundeswehr im Angriffskrieg, Deregulierung der Finanzbranche und durch die Hartz-Gesetze den in Europa am schnellsten wachsenden Niedriglohnsektor. Damit brach sie die jahrelange Stagnation der BRD-Ökonomie auf, die entstanden war, als die Bundesbank 1992 durch eine brüske Zinserhöhung Lohnzuwächse und Konjunktur abgewürgt hatte. Die hohen Zinsen hatten die D-Mark aufgewertet und der deutschen Exportwirtschaft geschadet; für den Rest der 90er Jahre hatte die BRD ein Leistungsbilanzdefizit; erst die Einführung des Euro gab der deutschen Exportwirtschaft wieder ausreichend Schub.
Das Schröder-Fischer-Regime hat das Ende des Nationalstaats als eines Raums gleicher Lebensbedingungen und mit dem Recht auf Zugang zur Infrastruktur (Mobilität, Teilhabe an Kultur, Bildung usw.) angeschoben. Es hat die Deregulierung des Finanzmarkts durchgesetzt, Hedge Fonds, Public Private Partnership-Projekte, Cross Border Leasing-Geschäfte mit öffentlicher Infrastruktur und die Privatisierung derselben massivst gefördert. Damit haben sie Lobbyismus und Klientelwirtschaft, die vorher Schmiermittel im BRD-System waren (Parteispendenaffäre), zur alleinigen Verfahrensweise gemacht. In diesem Sinn markiert die rot-grüne Regierung das Ende der Parteiendemokratie und des Sozialstaatsversprechens.
Auch in anderen Ländern (Italien, Großbritannien, Griechenland …) mussten die ArbeiterInnen übrigens die Erfahrung machen: wenn die Sozialdemokratie an die Regierung kam, wurde es richtig schlimm. Allein die davon enttäuschten WählerInnen aus dem Arbeitermilieu erklären die Hälfte der seither ständig sinkenden Wahlbeteiligung, die andere Hälfte erklärt sich aus dem Ende der christdemokratischen Volksparteien mit Stammwählerbindung.

… oder grün-schwarz?

Das historische Scheitern der Koch, Köhler, Rüttgers, Beust usw., die als Minorität in ihrer Generation gegen ’68 angetreten waren, markiert das Ende der Gestaltungsräume bürgerlicher Politik. Nun tritt eine Generation an, die sich mit »Rambokurs« (Mappus)1 oder »Arroganz der Macht« (von der Leyen, Guttenberg2, Rösler…) durchaus auch andere Regierungsformen als die parlamentarische Demokratie vorstellen kann (Abschaffung der Wehrpflicht, Einsatz der Bundeswehr im Inneren). Beflissen sonderte Professor ünkler in der Mai/Juni-Ausgabe des Magazins Internationale Politik (herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik!) den Artikel »Lahme Dame Demokratie« ab.In der Geschichte hätten »Kriegezur Revitalisierung der politischen Ordnung« geführt, das habe aber »keine Überzeugungskraft mehr«. andere Möglichkeit die »Tyrannei der Mehrheit« zu brechen, sei die »Ankündigung drohenden Unheils«, das ginge heutzutage auch ohne »biblische Propheten« und »durch den Hinweis auf die Natur«.
Auch aus diesem Grund wären Schwarz-Grün-Koalitionen die »logische« Fortsetzung, die in der gegenwärtigen Konstellation vom Kapital gewünschte Regierung. Hat der starke Widerstand in Stuttgart und im Wendland es der Grünen Partei unmöglich gemacht, diese strategische Option zu ziehen? Oder schafft sie es im Gegenteil, diese Mobilisierungen in Wahlerfolge umzumünzen? Die Grünen sind vor drei Jahrzehnten als »basisdemokratische Initiative« angetreten und haben sich in kürzester Zeit zur staatstragenden Kraft entwickelt, die Nato-Bomber losschickt und Castoren rollen lässt, immer zwischen Untergangsszenarien (zuviel Konsum!) und dem Glauben an den (kapitalistischen) technischen Fortschritt (Atomenergie ist nicht nötig, weil es technische Alternativen gibt) und mit kräftigen Tritten nach unten. Sie repräsentieren inzwischen das liberale, bürgerliche Milieu der früheren FDP, und sie haben jetzt schon drastische soziale Einschnitte verkündet für den Fall, dass sie wieder an die Regierung kommen – trotzdem können sich PolitikerInnen dieser Partei als VertreterInnen der Bewegungen in Stuttgart und im Wendland aufspielen, ohne angespuckt zu werden!

Krise der Vermittlung

Die dort oben haben keine »Gestaltungsspielräume« mehr, die hier unten kein Vertrauen mehr.
Immer neue Formen prekärer Beschäftigung, Ausweitung des Niedriglohnsektors, Verlagerung ins Ausland und Dezentralisierung an Subunternehmer sorgten für eine zunehmende Unsicherheit von Beschäftigungs- und Lebensverhältnissen auch schon vor dem Ausbruch der globalen Krise. Die ArbeiterInnen wurden so nachhaltig eingeschüchtert, dass es zu keinem gemeinsamen Widerstand kam. Proteste wurden durch immer schnellere Eskalation der Zumutungen und individuelles Rauskaufen isoliert. Ein wichtiges Etappenziel war erreicht, als es durch den erzeugten Abstiegsdruck zur Mehrheitsmeinung wurde, es sei besser, überhaupt eine Arbeit zu haben – womit die Kritik an Löhnen, Bedingungen, überhaupt an der Arbeit(squal) sozusagen »privatisiert« war.
Durch Mechanismen wie Prekarisierung und Zerlegung der Betriebe nach Kostengesichtspunkten funktionieren im Arbeitsleben auch die bisherigen Repräsentationsstrukturen nicht mehr (siehe auch Buchbesprechung zu Organizing). Früher konnten gewerkschaftliche Vertretungen in großen Firmen für ganze Gruppen von Arbeitern was rausholen. Wenn aber der Abteilungsleiter nun Chef irgendeines Subunternehmens ist, bleibt nur noch individuelle Bestechung übrig (die Korruptionsskandale nehmen auch in den Firmen enorm zu).

Krise der Politik im Alltag und soziales Engagement

Dazu kommt eine »gesellschaftliche Krise der politischen Vermittlung«. Im Alltag fühlen sich die Leute überall wie in der Warteschlange beim kostenpflichten Anruf im Call Center. Es funktioniert nicht mehr, Konflikte durch informelle Kanäle von Parteien oder Vereinen »kollektiv« zu entschärfen. Mittlerweile ist selbst die öffentliche Verwaltung größtenteil privatisiert, die einzelnen Abteilungen der Behörden sind rechtlich Privatfirmen im staatlichen Besitz, da funktionieren »kurze Dienstwege« nicht mehr.

Lange Zeit wurde die Abwendung von der Parteiendemokratie als »Politikverdrossenheit« missverstanden; das immer weiter zunehmende soziale Engagement als kostenlose Sozialarbeit ausgenutzt (z.B. die »Tafeln«!). Jetzt stehen die Politiker fassungslos davor, wie gerade solche Strukturen zu organisierenden Kernen in massenhaften Widerstandsbewegungen werden und faseln wie Sigmar Gabriel was davon, die alten »Legitimationen durch Verfahren« (Luhmann), die der BRD soviel Stabilität gebracht hatten, griffen nicht mehr, »deshalb müssten sie durch mehr plebiszitäre Elemente ergänzt werden.« Lassen sich die Mobilisierungen mit »Runden Tischen« wieder einfangen?

Die Linken sind die letzten, die noch an den Staat glauben

Da sich die Linke nicht mehr auf die Arbeiterklasse bezieht, hat sie kein universelles Projekt mehr (siehe Loren Goldner in der Beilage!) und setzt deshalb auf den Staat als Vertreter »universeller Interessen«. Die Mobilisierungen »Wir zahlen nicht für eure Krise« fordern den starken Staat; auch Karl Heinz Roth und viele andere hatten bei Ausbruch der Krise vor allem auf staatliche Reformen gesetzt.
Es ist mit Händen zu greifen, dass die Linkspartei auch nur als Klientelpartei funktioniert. Insgesamt kann sie wenig bewirken, aber sie kann eine ganze Generation von Akademikern über Stiftung, Partei- und Fraktionsangestellte individuell mit Geld versorgen, darunter ein Großteil der ehemaligen radikalen Linken. Sie funktioniert nicht als politischer »Grenzträger der Macht« (Sohn-Rethel), sondern über individuelle Bestechung.
Die Linke insgesamt vertritt kein universelles, offensives Projekt mehr – aber die Krisenfolgen können ohne ihre Hilfe nicht auf die Arbeiterklasse abgewälzt werden (siehe auch die Artikel zu Spanien, Frankreich, Griechenland und England!). Ihre Warnungen vor Militärputsch, Faschismus, Diktatur usw. sind integraler Bestandteil ihrer Anstrengungen, den Kapitalismus zu retten: Wir müssen die bittere Medizin der Sparpolitik schlucken, sonst naht das »Ende der Demokratie«!
Diese Linke kann den Nationalstaat nicht überleben, sie löst sich sogar schon vor seinem Ende auf. Das lässt sich gerade an Italien studieren.
Über ein Jahrhundert lang hielten Sozialdemokraten und Leninisten die Weichen auf Staat und Parlament gestellt. Es ist allerhöchste Zeit, sie definitiv umzustellen!

Im Gefolge der Klassenkämpfe Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre waren in der BRD (wie in anderen Ländern) die Sozialdemokraten an die Regierung gekommen. Ihre Strategie, die qualifizierten Kerne der Protestbewegung an sich zu binden (»Modell Deutschland«) auf Kosten der unteren Schichten (»Zuzugsstopp«) haben sie seither mit jedem Kriseneinbruch verschärft: Sicherung der Stammbelegschaften auf Kosten der Ränder, der Beschäftigten auf Kosten der Arbeitslosen, der Alteingesessenen auf Kosten der Migranten usw. (Das war im Großen und Ganzen auch die Politik der CDU.) Diese Strategie ist aber mit knapp einer Million LeiharbeiterInnen, mehr als zweieinhalb Millionen befristeten Jobs und real mehr als fünf Millionen Arbeitslosen an die Wand gefahren. Als im Berliner Schaltwerk von Siemens beim Kriseneinbruch 2008 wie gewohnt die LeiharbeiterInnen entlassen werden sollten, musste man davon Abstand nehmen, als klar wurde, dass ohne sie das Werk nicht mehr betrieben werden kann.
Aber nicht nur aus quantitativen Gründen haut die sozialdemokratische Trennung der Arbeiterbewegung in eine ökonomische (Gewerkschaften) und eine politische (Partei) Abteilung nicht mehr hin. »Prekarisierung« bedeutet viel mehr als den beständigen Wechsel zwischen befristetem Job und Arbeitslosigkeit, sie ist ein Prozess der Verunsicherung der gesamten Lebenssituation, der in vielen Fällen (»Arbeit auf Abruf«) ein Kontinuum von Arbeit/Freizeit schafft. »Der Kampf für die unmittelbaren materiellen Interessen der Lohnabhängigen« muss wieder mit »den Vorstellungen einer Umgestaltung der Gesellschaft im Interesse der Mehrheit« verknüpft werden. (Werner Seppmann »Unter der Oberfläche brodelt es«; telepolis 2.11.2010)

Wir erleben das historische Ende der Sozialdemokratie, einer Variante des Liberalismus; und es waren »linke« Regierungen, die es herbeigeführt haben, indem sie den Zusammenhang zwischen Arbeiterklasse und Sozialstaat aufgebrochen haben.

Die globale Perspektive

»In Stuttgart hat tatsächlich eine Erosion des Politischen stattgefunden: Auf Seiten der Parkschützer finden sich … viele, die mit der Veränderung des staatlichen Handelns in Richtung Lobbyismus, die diese Republik seit der Regierung Schröder-Fischer durchgemacht hat, nicht mehr klarkommen und sich dem politischen Betrieb entfremdet haben.« (»Stuttgart21 und die Immobilienlobby«, telepolis 25.10.2010)
Die Kämpfe gegen S21, Castor, Winterolympiade in Garmisch-Partenkirchen und die Belt-Brücke nach Dänemark werden von »Citoyens« getragen, »StaatsbürgerInnen«, die ihre Beteiligung einfordern und nicht mehr an den »Politbetrieb« delegieren. Und sie finden statt in einer sehr bewegten Zeit. Im letzten Jahrzehnt es mehr Unruhen als in den 60er Jahren. 2009 wurden weltweit 524 Aufstände gezählt, ein knappes Drittel davon in Europa. In Athen gingen Schüler- und StudentInnen auf die Straße, in Kopenhagen die »Antiglob-Bewegung«, im südchinesischen Guangdong die WanderarbeiterInnen der Automultis. Die Kämpfe in China waren erst der Anfang eines neuen Kampfzyklus – einer globalen Arbeiterklasse, die sich im letzten Jahrzehnt in etwa verdoppelt hat.

Endzeitstimmung und Aufbrüche

Globale Krise, »Krise der Politik«, Kämpfe und Mobilisierungen allenthalben. Dabei ist das Vertrauen in den geregelten Gang der Geschäfte eine materielle Voraussetzung des Kapitalismus. Dahinter steht wie bei jedem Herrschaftsverhältnis letztlich das Vertrauen in den Gehorsam der Beherrschten. Dieses Vertrauen wird vermittelt durch die herrschende Weltanschauung. Solange die herrschenden Ideen die der herrschenden Klasse sind, setzt sie ihre Interessen standhaft und rücksichtlos durch – wenn diese Weltanschauung zerfällt, werden ihre Vertreter zögerlich und verlieren die nötige Souveränität, systemische Angst greift um sich. In der Geschichte war das oft ihr letztes Stündlein. Belšazar, der letzte Herrscher von Babylon, sah das Menetekel an der Wand; das Ancien Régime wusste um seine Überholtheit; in den Jahren vor ihrem Kollaps stagnierte die Sowjetunion… immer hatten die Herrschenden in diesen Phasen ihr Vertrauen in den Gehorsam der Beherrschten verloren. Heute herrscht allgemein eine Endzeit-Stimmung.

»Die Politik nach der Finanzkrise … hat einen Zustand des planlosen Zorns erreicht. … Nach der Phase des Schocks und der Phase der hyperaktiven Rettungsaktionen setzt jetzt die Phase der Wut ein. … Die Wut kommt…, wenn man sich seiner Machtlosigkeit bewusst wird. Genau das passiert den Herren Barroso und Nicolas Sarkozy und einer ganzen Reihe anderen Akteuren der Brüsseler Machtzentralen. Sie alle waren in dieser Krise überfordert. … Der Machterhalt ist jetzt ohne einen gemeinsamen Feind kaum noch möglich.« (Wolfgang Münchau am 23.9.2010 in der Financial Times Deutschland)
Spannend wird es dann, wenn der »gemeinsame Feind« sich nicht mit den eingeübten shock & awe-Eskalationsstrategien der letzten Jahre einschüchtern lässt, sondern daran sogar noch wächst, wie die Streiks gegen die Rentenreform in Frankreich oder die Bewegung gegen Stuttgart21. Die Bewegung in Frankreich organisierte sich sehr stark über Demos, Blockaden und Besetzungen – weniger durch Streiks an den Arbeitsplätzen. Ein länger anhaltender Streik ist für viele aufgrund gesunkener Löhne nur schwer durchzuhalten, für prekär Beschäftigte meist noch schwerer. Die gewählten Kampfformen machten es möglich, dass sich organisierte Arbeiterkerne (Ölraffinerien, Müllabfuhr), der Öffentliche Dienst und SchülerInnen beteiligten. Vor allem deren Mobilisierungen sind sehr interessant und im Moment noch keineswegs zuende. In diesem Sinne gibt die Bewegung in Frankreich Antworten auf die im Hackney-Artikel gestellten Fragen (siehe Europateil).

All diese Bewegungen drücken den Zweifel am kapitalistischen Fortschritt aus (dem Standbein der liberalen Ideologie), sind aber keine reaktionären Bewegungen, die die Geschichte zurückdrehen wollten. Sie drücken das Wissen aus, dass alle Mechanismen im herrschenden Gefüge (repräsentative Demokratie, der sogenannte Arbeitsmarkt, die Sozialstruktur, Zusammenhang von Profiten und Investitionen…) instabil geworden und vor allem untauglich für die Zukunft sind. Wo uns die Regierung »radikale Maßnahmen« vorgaukelt, stopft sie nur Löcher, um Zeit zu gewinnen. Es brennt an allen Ecken und Enden – in Deutschland, und noch viel stärker in anderen europäischen Ländern. Die Verhältnisse können nicht so bleiben, wie sie waren. Massenhafte Bewegungen haben begonnen, sie zu ändern. Aber alles bisher Unternommene ist Kleinkram im Vergleich zu dem, was ansteht. »Revolutionäre Veränderungen« dürften es schon sein – sogar Merkel benutzte das Wort, um ihre beschissene Energiepolitik anzukündigen!3 Vielleicht ließe es sich so zusammenfassen: In Wirklichkeit ist die Lage revolutionär – aber niemand will einen Umsturz, eine Revolution anzetteln. Denn auch dieser Begriff muss neu erfunden werden: die stalinistischen »Revolutionen« waren monströse Konterrevolutionen, die Französische Revolution kann uns nicht als Vorbild dienen. Es geht um eine soziale Revolution! Die Reformen haben jedenfalls ausgedient.

…Kapitalismus am Ende!

Der SPDler Peter Glotz formulierte 2005 kurz vor seinem Tod eine Warnung, die mit der globalen Krise deutlich aktueller geworden ist: »Die deutsche Disziplin und Ruhe könnte trügerisch sein. Eine neue RAF ist nicht in Sicht. Aber wenn irgendwo 200 empörte Arbeiter, die entlassen werden sollen, obwohl der Konzern schwarze Zahlen schreibt, alles kurz und klein schlagen, kann ein einziger Gewaltausbruch dieser Art einen Flächenbrand auslösen, wie einst der Mordversuch an Rudi Dutschke zu Ostern 1968.«

Fußnoten:

[1, 2, 3]
Naja, geschrieben im November 2010!



aus: Wildcat 88, Winter 2010



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