Wildcat Nr. 85, Herbst 2009 [w85_lateinamerika.htm]



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Durch den fortschrittlichen Staat zur Revolution?



[spanische Version]

In Cuba ging in den 1960er Jahren ein antikolonialer Befreiungskampf aufgrund der weltpolitischen Konstellation (USA – SU) in den Aufbau eines Dritte-Welt-Sozialismus über. Seither liefen alle sozialistischen Anläufe in Lateinamerika – von der Stadtguerilla in Uruguay bis zum Volksfront-Wahlbündnis in Chile Anfang der 1970er und dem bewaffneten Aufstand 1979 in Nicaragua auf Eroberung und Erhaltung der Staatsmacht hinaus. Ein Teil der Nicaragua-Solidaritätsbewegung hoffte auf ein Phasenmodell in Richtung soziale Revolution. Im Ergebnis waren die zehn »revolutionären Jahre« aber die Vorbereitung für einen moderneren Kapitalismus.
Das Projekt der EZLN, ab 1994 in Chiapas »die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen« blieb in der Rückbesinnung auf die Werte der indigenen Gemeinschaften stecken, ohne Verbindungen mit den sozialen Prozessen in anderen Teilen Mexikos schaffen zu können.
Seit 2000 machen in Venezuela, Bolivien, Ecuador und Nicaragua »linke« Regierungen Politik gegen den »Raubtier-Kapitalismus« – auf ihnen ruhen die Hoffnungen der internationalen Solidaritätsgruppen. Die Fixierung auf den fortschrittlichen Staat wird verstärkt durch reaktionäre Kräfte, die jede Art sozialer Veränderung bekämpfen. Aktuell wird das in Honduras vorexerziert: ein paar Abweichungen gegenüber der jahrzehntelang gepflegten Sozialpolitik (z.B. Erhöhung des Mindestlohns) und vor allem die Anlehnung an Venezuela riefen im Juni 2009 die Putschisten auf den Plan, und der entmachtete Großgrundbesitzer Zelaya wird nun in der internationalen Linken zum Revolutionär stilisiert. In Bolivien sind die sozialen Bewegungen in den neuen Staat aufgegangen, in Nicaragua lebt eine reaktionäre FSLN vom Mythos des bewaffneten Kampfes der 1970er Jahre. Die stärkste internationale Ausstrahlung der »Achse der Hoffnung gegen den Durchmarsch des Neoliberalismus« geht vom venezolanischen »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« aus, der sich auf die Öldollars stützt.


Der folgende Artikel ist ein Resümee aus den Erfahrungen der Zentralamerika-Solidaritätsbewegung der 1980er Jahre sowie aus längeren Reisen nach Nicaragua und Venezuela ab 2004.

Internationale Solidarität mit dem soften Leninismus der FSLN

Im Juli 1979 stürzte die älteste Diktatur Lateinamerikas: Nicaragua war seit den 1930er Jahren von den Somozas wie ein Familienunternehmen geführt worden, ohne großes Interesse an kapitalistischer Modernisierung. Der Reichtum der Herrschenden beruhte auf der Auspressung der Landbevölkerung in guter Eintracht mit einigen US-amerikanischen Agro-Konzernen. Mit seinen nur gering vorhandenen Exportgütern (Kaffee, Bananen, Baumwolle, Edelhölzer und Gold) war das Land für den Weltmarkt nur mäßig interessant. In den letzten Monaten des Aufstands hatte eine breite Bewegung die kleine, von städtischen Kadern angeführte Befreiungsfront FSLN (Sandinistische Nationale Befreiungsfront) vor sich hergetrieben. Nach dem militärischen Sieg wurden die AktivistInnen der Volksbewegung in den Aufbau der neuen staatlichen Institutionen eingebunden.
Die FSLN betonte ihre demokratischen Entscheidungsprozesse, verkörpert durch eine kollektive Leitung der Organisation. Die neue Demokratie sollte »das Volk« an allen wichtigen Entscheidungen beteiligen. Die neue Volkswirtschaft sollte privatkapitalistische, staatliche und kooperative Anteile haben. Außenpolitisch verstand man sich als Teil der »Blockfreien«.
Mit der zur Staatsmacht gewordenen Befreiungsfront bildete sich eine breite internationale Solidaritätsbewegung heraus, der in der BRD auf ihrem Höhepunkt mehrere hundert lokale (kirchliche, parteipolitische und autonome) Gruppen angehörten. Ein Teil von ihnen hoffte auf eine echte Revolutionierung der sozialen Verhältnisse in Nicaragua unter breiter Beteiligung der Bevölkerung und auf eine Ausweitung auf ganz Mittelamerika.
Diese Hoffnung speiste sich vor allem aus der Alphabetisierungskampagne (Jugendliche aus den Städten brachten der Landbevölkerung Lesen und Schreiben bei), der Agrarreform (ein Teil des Großgrundbesitzes wurde enteignet und an Kooperativen übergeben oder in Staatsunternehmen umgewandelt) und dem Aufbau eines flächendeckenden Basisgesundheitswesens. Diese Programme wurden zentral geplant und propagandistisch aufgebrezelt, sie hatten aber auch den Effekt, dass viele BasisaktivistInnen der FSLN die krassen sozialen Unterschiede im Land radikal in Frage stellen wollten.
Die US-Regierungen, für die die Brutalität des Somoza-Regimes jahrzehntelang kein Problem gewesen war, begannen sofort nach dem Juli 1979, Menschenrechtsfragen gegen die neue Regierung in Nicaragua zu instrumentalisieren. Die radikaldemokratische Programmatik der FSLN wurde als Hinwendung zum »kubanischen Kommunismus« gewertet. Diese hysterischen Kampagnen mündeten ab 1980 in den Aufbau einer bewaffneten Truppe, der Contra, die einen terroristischen Kleinkrieg gegen die Regierungsstrukturen und einen Großteil der Bevölkerung führte.
Die FSLN hatte bereits Ende 1979 klargestellt, dass sie die alleinige politische Kontrolle im Land aber eine gute Zusammenarbeit mit der »patriotischen Unternehmerschaft« anstrebte. Wichtige politische Entscheidungen fielen im Neunergremium der »Nationalen Leitung« und wurden nach unten durchgereicht. Aufgrund von Kadermangel und Desorganisation funktionierte das zwar nicht überall, aber die Struktur war eindeutig: »Dirección Nacional, ordene!« (»Nationale Leitung, befiehl!«) war kein leerer Spruch der sandinistischen Jugendorganisation. Um das politische Programm zum Wohle des Volkes umzusetzen, musste die FSLN an der Macht bleiben, dieser Logik hatten sich alle Strukturen und Entscheidungen unterzuordnen. Politische Richtungswechsel wurden nicht öffentlich und inhaltlich diskutiert, der manchmal staunenden Öffentlichkeit wurde die jeweils neue politische Linie verkündet (z.B. in der Agrarreform, gegenüber den Miskitoindianern an der Atlantikküste, bei Verhandlungen mit der Contra), die alte wurde mit Fehlern anonymer Kader entschuldigt, die den Kontakt zum Volk verloren hätten…
Der von den USA ab 1981 offen unterstützte Contrakrieg konnte bald fast jede kritische Diskussion im Land abwürgen und fast jedes Problem »erklären«. Die Bereitschaft, die Position der militärisch oder politisch Ranghöheren als die richtige anzuerkennen, war groß. So wurde zum Beispiel die Debatte um die Abtreibung gestoppt, weil die katholische Kirchenhierarchie nicht weiter verärgert werden sollte. Später rief die Nationale Leitung die nicaraguanischen Frauen zum Kinderkriegen für den Krieg gegen die Contra auf. Die sandinistische Frauenorganisation AMNLAE setzte sich dagegen nicht zur Wehr.
Die Massenorganisationen der FSLN sollten die Linie der Partei umsetzen. Die Gewerkschaften im Bausektor, einem der wenigen Industriezweige bei insgesamt 30 000 Industriearbeitern, wurden klassisch leninistisch als Transmissionsriemen der Partei benutzt, die den Arbeitern das richtige Bewusstsein vermitteln sollte. Streiks für Lohnerhöhungen konnten mitten im Krieg nichts anderes sein als »volksfeindliche Machenschaften der CIA«. In den ersten Monaten nach der Vertreibung der Diktatur waren Produktivität und Arbeitszeit in der Landwirtschaft gesunken. Campesin@s und LandarbeiterInnen feierten auf diese Weise die neuen Verhältnisse, die in den ersten Jahren vor allem durch staatliche Hilfen aus Europa und Lateinamerika finanziert wurden. In einigen Fällen streikten Landarbeiter auf großen Staatsgütern gegen die neuen Verwalter. Sie wurden von der FSLN nachdrücklich daran erinnert, dass eine Revolution »dem ganzen Volk« und nicht »einer Minderheit« zu dienen habe und sie für den nationalen Wiederaufbau produzieren sollten.
Der Begriff »Volk« spielte in Ideologie und Praxis der FSLN eine zentrale Rolle: In der Aufstandsphase gehörten alle zum »Volk«, außer der mit dem Imperialismus verbundenen Bourgeoisie, die das Vaterland verkaufte. In den 1980er Jahren wurden von der Parteiführung politische Entscheidungen häufig mit dem Hinweis auf die »Bedürfnisse und Interessen des Volkes« durchgedrückt – und zuweilen durch den Beifall des »Volkes« bei Großveranstaltungen untermauert. In der Frontstellung zum US-Imperialismus sollten die auch nach der Revolution weiter bestehenden Klassenunterschiede im »einigen nicaraguanischen Volk« aufgehoben werden. Dieses Konzept kollidierte mit der Wirklichkeit des Landes: von den damals drei Millionen EinwohnerInnen lebte die Mehrheit als verarmte Kleinbauern auf dem Land, die FSLN war aber eine städtisch und von der kleinen Mittelschicht geprägte Bewegung, die ihre soziale Basis in den Armenvierteln der größeren Städte fand – gleichzeitig aber die »patriotischen Unternehmer« zufriedenstellen wollte.
Die internationale Solidaritätsbewegung fungierte in Ländern mit starker KP wie Frankreich oder Italien als verlängerter Arm der FSLN . In der BRD behielten parteiunabhängige Initiativen die Oberhand, die sich dem Wunsch der FSLN nach einem strategischen Bündnis mit der Sozialistischen Internationale nicht unterordneten.
Aber auch wir fürchteten, jede öffentliche Kritik an den neuen Machthabern in Nicaragua könnte dem Feind in die Hände spielen. Insofern gab es zwar heftige interne Debatten, auch mit der FSLN, diese blieben aber auf beiden Seiten meistens folgenlos und wurden nicht öffentlich. Selbst der Wahlkampf der FSLN 1990 wurde, wenn auch murrend, unterstützt: Der inzwischen zur Nummer 1 in der Partei aufgestiegene Daniel Ortega ritt als Macho-Figur »el gallo« (der Hahn) in jedes Dorf ein und kürte dort die Miss Sandinista.
Unsere Arbeitsbrigaden haben unerwarteterweise die bekannten Muster aufgebrochen. Konzipiert als Propagandainstrument gegen ContraKrieg (der »ökonomische Nutzen« beim Häuserbau oder in der Kaffee-Ernte war nebensächlich) hatten die wochenlangen Aufenthalte auf dem Land einen unvorhergesehenen Nebeneffekt. Als BrigadistInnen sollten (und konnten) wir in der BRD von den Greueltaten der Contra und den deshalb schwierigen Lebensbedingungen der campesin@s berichten. In Nicaragua wurden wir aber vor allem Zeugen der politischen Verhältnisse: wie wurden Entscheidungen gefällt, welche Widerstände gab es gegen die Konzepte der Agrarreform, wie war das Verhältnis zu den städtischen Kadern der FSLN ? Mehr als einmal wurden wir mit Massenverhaftungen von campesin@s wegen angeblicher oder tatsächlicher Unterstützung der ContraTruppen konfrontiert. Diese Verhaftungen widersprachen völlig der offiziellen Propaganda, die Contra sei eine Truppe von ausländischen Söldnern. Durch solche Vorkommnisse wurde der Traum vom neuen Menschen, das romantisierende Gerede von der »breiten Beteiligung des Volkes am revolutionären Prozess« bei vielen von uns gründlich gestört.
Bei einigen führte das zur Abkehr von jedem revolutionären Versuch, bei anderen eher dazu, viel genauer hinzuschauen, was in Nicaragua passierte, und was wir dort unterstützen wollten.
Zu einer politischen Debatte sind wir aber nicht nur wegen des »Hauptwiderspruchs« US-Imperialismus nicht gekommen. Zum einen wollten wir uns als privilegierte Metropolenbewohner keine Kritik an einer revolutionären Bewegung des Trikont anmaßen. Vor allem aber hatten wir keine Vorstellung von einer Revolution »im Herzen der Bestie« – deshalb übertrugen wir unsere Revolutionswünsche auf Nicaragua. So hat uns die Hoffnung, dass mit dieser Revolution alles möglich sei, merkwürdigerweise vor allem die realpolitische Machterhaltung der FSLN verteidigen lassen. Die frühere »Revolutionskommandantin« Mónica Baltodano wunderte sich vor kurzen in einem Interview, dass von den Internationalisten damals kaum Kritik kam…
Die für alle überraschende Wahlniederlage der FSLN 1990 hätte für die Solidaritätsbewegung eine zweite Chance sein können, die eigene Geschichte kritisch zu beleuchten, da nun »die Revolution« nicht mehr aus taktischen Gründen gegen jede Kritik verteidigt werden musste. Auch diese Gelegenheit wurde vertan. Einer der Hauptgründe für die Abwahl der FSLN, die Aufrechterhaltung des obligatorischen Militärdienstes, der in der Praxis vor allem Jugendliche aus den städtischen Armenvierteln traf, wurde kaum diskutiert. Stattdessen versuchte die schnell kleiner werdende Bewegung, die »sandinistischen« Projekte gegen das neue »neoliberale Modell« zu verteidigen, obwohl bald klar wurde, dass beide Optionen ineinander übergingen. Viele der gut ausgebildeten technischen, sozialen und militärischen Kader der FSLN hatten kein Problem damit, sich an der Herausbildung eines moderneren Kapitalismus zu beteiligen.
Ab Mitte der 1990er Jahre hat die FSLN aus machttaktischen Erwägungen mit den rechten Kräften des Landes paktiert und eine kapitalfreundliche Politik verfolgt. Seit 2006 ist der Sandinist Ortega wieder Staatspräsident. Er ist heute Chef einer Partei, die jede Opposition innerhalb der Organisation unterdrückt, Streiks wie z.B. im Transportwesen im Mai 2008 mit Polizeigewalt beantworten lässt, Stromklau zum ersten Mal unter Strafe stellt, in der Krise als erstes die Budgets im Gesundheits- und Erziehungswesen kürzt, die krasse Armut durch mediengerechte Verteilung von Care-Paketen instrumentalisiert, ein totales Abtreibungsverbot durchsetzt und das Land mit religiös-esoterischer Propaganda überzieht.
Trotzdem zählt manche europäische Solidaritätsgruppe auch die FSLN des Jahres 2009 zu den »fortschrittlichen Kräften« Lateinamerikas. Antiimperialistische Phraseologie, ein paar Sozialprogramme, wie sie die Weltbank in vielen Ländern zulässt, die aber in Nicaragua unter dem Titel Revolution laufen, sowie die Zugehörigkeit zum alternativen Wirtschaftsbündnis ALBA reichen aus, um die nicaraguanische Regierung auf die Seite des Guten im Kampf gegen das Imperium zu stellen.

Ölprofite als Basis des neuen Sozialismus in Venezuela

Die »Achse der Hoffnung gegen den Neoliberalismus« wird vom »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« in Venezuela zusammengehalten. In der linken internationalen Debatte gibt es folgende Positionen zu dieser Politik:
a) Jede Kritik am bolivarianischen Sozialismus ist »objektiv« pro-imperialistisch. Alles, was in Venezuela aktuell passiert, ist besser als die alte Ausplünderungspolitik der früheren Regierungen: Den »Massen« geht es materiell besser, sie haben eine politische Stimme bekommen, dem Imperialismus werden Schranken gesetzt. Diese Position wird vor allem von Leuten aus traditionellen kommunistischen oder antiimperialistischen Zusammenhängen vertreten.
b) An konkreten Punkten kann man die Regierung hart kritisieren, aber der »revolutionäre Prozess« muss grundsätzlich unterstützt werden; es gibt eine Übereinstimmung der »revolutionären Massen« mit dem leader, aber viele mittlere Kader sind »korrupt« bzw. »bourgeois«. Diese Position findet sich häufig bei den Basiskadern des chavismo, vor allem bei denen aus linksradikalen Gruppen früherer Zeiten.
c) Die bolivarianische Regierung traut sich nicht, wirklich ernst zu machen mit Enteignungen und Volksbeteiligung, die Führung einer echten Arbeiterpartei ist nötig. Diese Position wird von einigen (in größeren Betrieben verankerten) trotzkistischen Gruppen vertreten.
d) Die neue Regierung eröffnet gewollt oder ungewollt Spielräume für radikalere Initiativen von unten, darin besteht die mögliche Sprengkraft des Prozesses. Der chavismo schafft überhaupt die Voraussetzungen für Kämpfe, da Hungernde nicht kämpfen. Diese Position versucht in kritischer Solidarität mit dem »Prozess« eine Debatte über Absichten und Chancen der »Revolution des 21. Jahrhunderts« anzuschieben. Über die reale Entwicklung der Spielräume wird kaum diskutiert.
e) Der Chavismo hat lediglich eine neue Fraktion der Bourgeoisie an die Macht gebracht, der Kapitalismus bleibt unangetastet. Diese Position wird von libertären und rätekommunistischen Gruppen vertreten, z.B. in der Zeitschrift Kosmoprolet.

Vom Caracazo zur Radikalisierung des chavistischen Projekts

30 Jahre lang hatten korrupte christ- und sozialdemokratische Regierungen die Ölrente an ausländische Konzerne und die venezolanische Oligarchie verteilt. 1989 explodierte die Wut der Massen in einem Aufstand in der Hauptstadt Caracas gegen ein weiteres vom IWF auferlegtes und von der damaligen Regierung gebilligtes Sparprogramm.
Nach dem Caracazo gelang es den Massen, sich in vielen selbstorganisierten Basiskomitees und Stadtteilversammlungen eine eigene Stimme zu verschaffen; sie begannen, einen Teil ihres Lebens in den Barrios selber in die Hand zu nehmen (Müllentsorgung, Wasserprobleme etc). In diese Situation hinein fallen die ersten Versuche des späteren chavismo, diesem Protest eine einheitliche Stimme in Richtung auf eine gerechtere und sozialere Demokratie zu geben.
Dieses Projekt wurde von einem Teil der traditionellen Eliten zumindest wohlwollend geduldet, weil sie sich dadurch bessere Gesamtbedingungen für die Kapitalreproduktion erwarteten: ein bisschen mehr für soziale Belange und ansonsten wieder Ruhe im Land. Diese Erwartungen wurden insofern enttäuscht, als die Hauptfigur des Projekts auch nach seiner Wahl zum Präsidenten 1999 den alten Formen von Vetternwirtschaft den Kampf ansagte und einige Sozialprogramme auflegen wollte. Dies und die Vorbereitung einer vorsichtigen Agrarreform sowie die Verabschiedung einer neuen Verfassung mit partizipativen Elementen schafften bei den alten Eliten und einem Großteil der Mittelklasse die Bereitschaft zu einem Putsch (April 2002) und einem von oben angezettelten Streik im zentralen Ölsektor (Dezember 2002 bis Februar 2003). Das Ziel, die neue Regierung zu stürzen, wurde beide Male verfehlt: die Massen aus den Armenvierteln von Caracas demonstrierten gegen die Putschisten, und Techniker-Arbeiter des staatlichen Ölkonzerns PDVSA übernahmen die Kontrolle eines Teils der lahmgelegten Ölproduktion. Diese beiden Mobilisierungen gewannen schnell eine eigenständige Dynamik, die aber von der bolivarianischen Regierung wieder abgewürgt wurde, nachdem sie erfolgreich im Sinne ihrer Machterhaltung waren.
Nach den beiden Putschversuchen wurde das bolivarianische Projekt radikalisiert: erst jetzt entstanden die umfangreichen Sozialprogramme (misiones), enteigneter Großgrundbesitz wurde verteilt, Schlüsselindustrien unter Mitbestimmung der ArbeiterInnen verstaatlicht, und der Bevölkerung weitgehende Beteiligungsmöglichkeiten im politischen Prozess eingeräumt. Soweit die offizielle Version des »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«. Vergleicht man die programmatischen Erklärungen der bolivarianischen Regierung mit der realen Entwicklung im Land, dann ergibt sich folgendes Bild: Die Sozialprogramme machten immer lediglich einen kleinen Teil der Ölrente aus und werden seit dem Einbruch des Ölpreises (Sommer 2008) langsam zurückgefahren; die Agrarreform verläuft zögerlich, weil die Regierung die Konfrontation mit den Latifundistas scheut und die Bereitschaft und Fähigkeit, auf dem Land tatsächlich zu produzieren, bei einer vor allem in den Städten lebenden Bevölkerung nicht ausgeprägt ist; in den verstaatlichten bzw. besetzten Betrieben hat sich kaum etwas im Sinne der ArbeiterInnen verändert; die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bevölkerung werden auf allen Ebenen zentralistisch kontrolliert und mit Geld zugeschüttet, d.h. BasisaktivistInnen hängen schnell am Tropf der Regierung und richten ihre Initiativen an dieser Geldquelle aus.

Krise und bolivarianisches Sparprogramm

Der seit 2002 kontinuierlich steigende und ab Sommer 2006 explodierende Ölpreis ermöglichte umfangreiche Investitionen in Sozialprogramme und Staatsbetriebe. Als ab Sommer 2008 der Preis des Hauptexportprodukts Venezuelas drastisch einbrach (Öl und Gas sorgen für 80% der Export- und 50% der gesamten Staatseinnahmen), wurde das zu einer Gefahr für das bolivarianische Projekt. Nachdem die KandidatInnen der chavistischen PSUV (Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas) im November 2008 bei den Kommunalwahlen die meisten Stimmen bekommen hatten, trat die Partei die Flucht nach vorne an: angesichts der sich rasant verschlechternden ökonomischen Bedingungen sollte gewährleistet werden, dass die PSUV 2012 noch einmal mit ihrem Chef antreten darf, ohne dessen Charisma die Wahl nicht zu gewinnen ist. Für den 15. Februar 2009 wurde eine Volksabstimmung über die Frage anberaumt, ob sich Bürgermeister, Gouverneure und Präsident nach zwei Amtsperioden wieder zur Wahl stellen dürfen, was die Verfassung bisher ausgeschlossen hatte. Wieder einmal wurde die Bevölkerung in eine Abstimmung gehetzt, in der alles auf die Frage zusammenschrumpft, ob man »für oder gegen den Sozialismus und dessen leader« sei.
Nach einer irrsinnigen Kampagne in den Medien und auf der Straße stimmten 6,3 Millionen der Verfassungsänderung zu (5,2 Millionen dagegen, 5 Millionen haben nicht abgestimmt). Sofort danach diskutierte die Regierung Maßnahmen gegen die Krise, die aber »dem Volk« nicht schaden sollten. Ein traditionelles Sparpaket (direkte Preisanhebung bei Lebensmitteln, Benzin, Transport etc.) wäre politischer Selbstmord. Mit »Volk« sind die 60 Prozent der Bevölkerung gemeint, die einkommensmäßig als arm oder sehr arm gelten, politisch bezieht sich dieser Begriff auf die unorganisierten Massen vor allem aus dem informellen Sektor bzw. diejenigen, die sich von staatlichen bzw. Partei-Institutionen angeleitet mobilisieren lassen.
In Venezuela leben ca. 28 Millionen Menschen, davon ca. 90 Prozent in den Städten. Zwölf Millionen sind jünger als 15 Jahre, 13 Millionen sind »wirtschaftlich aktiv«, ca. sieben Millionen haben irgendeine Art von Arbeitsvertrag. Viele der 2,5 Millionen Beschäftigten im Staatssektor, die allermeisten Beschäftigten im Handel, aber auch z.B. Bandarbeiter in der Automobilindustrie verdienen den von der Regierung festgelegten Mindestlohn.
Bereits am 21. März 2009 wurde schließlich ein Wirtschaftspaket verkündet, das ausdrücklich kein Sparpaket sein, sondern im Gegenteil die zentralen Errungenschaften der Revolution schützen soll. Das Paket bescherte den ca. drei Millionen MindestlohnempfängerInnen eine Erhöhung per Staatsdekret (ohne Diskussion) noch nicht einmal in Höhe der Inflationsrate, wie früher üblich: ab dem 1. Mai 2009 um 10 Prozent auf 880 Bolivares Fuertes, ab dem 1. September 2009 um weitere 10 Prozent auf 970 BsF. Das CestaTicket (ein Lohnbestandteil in Form von Coupons, die in vielen Geschäften einlösbar sind) erhält einen um 20 Prozent höheren Wert und entspricht jetzt monatlich ca. 400 BsF. Die Mehrwertsteuer wird von 9 auf 12 Prozent erhöht. Im April 2007 hatte der damalige Finanzminister zu dieser Steuer gesagt: »Wir werden die sozialistische Entscheidung treffen, diese Steuer, die uns die Neoliberalen mit ihren Sparpaketen des IWF eingebrockt haben, mittelfristig abzuschaffen.«
Bereits 2008 reichten Mindestlohn und Cesta-Ticket für die venezolanische Durchschnittsfamilie nicht aus, um die notwendigen Lebensmittel des allgemeinen Warenkorbes zu kaufen. Lebensmittel (außer den subventionierten), Kleidung, Restaurantbesuche, Kino, Friseur, Autoersatzteile haben fast dieselben Preise wie in der BRD, wirklich billig ist nur Benzin (50 Liter kosten 1,50 Dollar). Angesichts einer offiziellen Inflationsrate von 30 Prozent für 2008 und ähnlich steigenden Preisen in der ersten Hälfte 2009 ist mit dem Wirtschaftspaket die Kaufkraft der Bevölkerung weiter gesunken, der Mindestlohn von umgerechnet 650 Dollar (offizieller Kurs: 1 Dollar = 2,15 BsF) schrumpft so auf das »normale lateinamerikanische Maß« zusammen.
Außerdem enthält das Wirtschaftspaket eine Verringerung der Staatsausgaben um 6,7 Prozent und Gehaltskürzungen für höhere Regierungsfunktionäre. Ob damit tatsächlich »Korruption und Verschwendung« angegangen werden, ist zweifelhaft. Diese Parole wird zwar in regelmäßigen Abständen ausgegeben, sie bestätigt aber nur, dass Korruption im Staatsapparat keine Erfindung der Opposition ist.
Es geht um das politische Überleben bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen. Den politisch niedrig gehaltenen Benzinpreis zu erhöhen, bleibt tabu, um die Transportkosten nicht noch weiter in die Höhe zu treiben und um diese Subvention für die autofahrende Mittelschicht nicht zu gefährden. Es gibt erste Stimmen aus dem Regierungslager, die zumindest über den symbolischen Benzinpreis diskutieren.
Die Finanzierung der Sozialprogramme wird langsam heruntergefahren, das berichtet auf ihrer website die staatliche Ölgesellschaft PDVSA, aus deren Gewinnen die misiones bezahlt werden. Die Regierung will »dem Volk« zwar weiterhin Zugang zu subventionierten Basisdienstleistungen gewährleisten. Aber die kostenlose medizinische Grundversorgung wird ausgedünnt: Medikamente und Personal fehlen, Öffnungszeiten schrumpfen zusammen. Es gibt ein enges Netz staatlicher Märkte (mercales), in denen Lebensmittel zu subventionierten bzw. staatlich festgelegten Preisen verkauft werden, aber es kommen längst nicht alle Produkte regelmäßig: wenn Hühnerfleisch im Angebot ist, stehen die Leute, die Zeit haben, ab 3 Uhr morgens Schlange, es gibt Schlägereien. Wegen der logistischen Schwierigkeiten und der Korruptionsanfälligkeit der mercales gibt es inzwischen eine zweite Verkaufsstruktur, PDVAL, die direkt mit der Ölgesellschaft PDVSA gekoppelt ist.
Gleichzeitig will die Regierung gewährleisten, dass wichtige Produkte auch von privaten Erzeugern billig angeboten werden. Wo das nicht funktioniert, interveniert der Staat mit der Armee, wie z.B. im März 2009 in einigen Reisfabriken, allerdings wurde der staatlich festgelegte Reispreis im August 2009 erhöht. Durch die Verstaatlichung von Lebensmittelproduzenten soll die Produktion ausgeweitet werden, aber der Importanteil liegt auch bei den subventionierten Grundnahrungsmitteln immer noch bei mindestens 60 Prozent.

Mit dem Volk gegen die Arbeiterklasse?

Auf einem anderen Gebiet wird schon seit längerem »gespart«. Es gibt Entlassungen in Staatsbetrieben, der Anteil an schlecht gestellten Leiharbeitern im Staatssektor bleibt trotz gegenteiliger Versprechungen hoch, und vor allem werden im Erziehungs- und Gesundheitswesen, in den öffentlichen Verwaltungen und in staatseigenen Betrieben wie PDVSA, der U-Bahn von Caracas 1, sowie in der Schwerindustrie seit Jahren keine neuen Tarifverträge abgeschlossen, oder die neuen Verträge werden nicht eingehalten und nur die niedrigen Grundlöhne ohne Zulagen ausgezahlt. Diese Situation ist mit Schlamperei, selbstherrlicher regionaler Bürokratie, aber auch mit Konkurrenzkämpfen unter Gewerkschaften zu erklären, die dann vom zuständigen Arbeitsministerium gerne aufgegriffen werden, um den Verhandlungspartnern die Legitimation abzusprechen und so die längst fälligen Tarifverhandlungen auszusetzen.
Aber dahinter steht auch eine grundsätzliche politische Orientierung von Regierung und Partei: die Arbeiter in den größeren staatlichen Betrieben seien durch ihre hohen Löhne und ihre sichere soziale Lage gegenüber den verarmten Volksmassen »privilegiert« und müssten entsprechend »Opfer bringen«. Streikende im Gesundheitswesen, bei der U-Bahn (5000 Beschäftigte), im Stahlwerk SIDOR 2(12 000 Beschäftigte) und vor allem beim Ölkonzern PDVSA 4(80 000) wurden in den letzten Monaten mehrfach als »Arbeiteraristokraten« beschimpft 3, deren »Sonderinteressen« das sozialistische Gesamtprojekt in Gefahr brächten.
Ihnen wurde mit dem (organisierten und zu organisierenden) »Volk« gedroht, das für ihre Streikaktionen kein Verständnis habe.
Bisher ist unklar, ob sich die soziale Basis des chavismo, also vor allem die verarmten städtischen Massen aus dem informellen Sektor und die neue Mittelschicht in der Bürokratie von Staat, Partei und Sozialprogrammen, tatsächlich gegen Arbeiterstreiks funktionalisieren lassen oder ob es bei der propagandistischen Drohung bleibt. Nationalgarde und andere Polizeieinheiten wurden immer wieder gegen ArbeiterInnen eingesetzt: z.B. gab es bei den Streiks bei SIDOR im Frühjahr 2008 kurz vor der Verstaatlichung des Stahlwerks viele Verletzte und Verhaftete, einige von ihnen stehen jetzt vor Gericht. Beim Versuch, die besetzte Mitsubishi-Fabrik (1400 Arbeiter) zu räumen, wurden im Januar 2009 sogar zwei Arbeiter erschossen.
Die spannende Frage wird sein, ob sich Arbeiter aus Großbetrieben und Barriobewohner tatsächlich gegeneinander ausspielen lassen, ob »das Volk« wirklich glaubt, dass Krankenschwestern und U-Bahn-Beschäftigte genug verdienen und moralisch nicht zum Protest legitimiert sind, oder ob die Bevölkerung genug über die realen Verhältnisse in solchen Betrieben weiß. Andersherum ist die Frage, ob die Arbeiter es schaffen, in ihren Kämpfen über den Tellerrand ihrer Betriebe hinauszublicken, welche Dynamiken aus den Kämpfen der »relativ Privilegierten« entstehen.
Bei den aktuellen Auseinandersetzungen in der Ölindustrie erinnert die Regierung gerne an den »konterrevolutionären« Streik von 2002/2003, der mit vielen tausend Entlassungen beantwortet wurde. Für die Ölarbeiter und ihre Gewerkschaften wird es nicht weiterführen, die arbeiterfeindliche Haltung der Regierung anzuprangern. Sie werden sich gegen diese Angriffe nur schützen können, wenn sie mit ArbeiterInnen anderer Betriebe und den BewohnerInnen ihrer Stadtviertel in die Diskussion über ihre Arbeits- und Lebensbedingungen kommen. Dann geht es nicht darum, als »geeintes Volk« ohne Klassenunterschiede die jeweilige Regierungslinie nachzuvollziehen, sondern um den Versuch, die eigenen Bedürfnisse zu formulieren, unabhängig davon, ob sie »der Revolution« nützen…

Der Revolution dienen oder …

Das passiert immer noch viel zu selten. Die Menschen haben zwar mehr Selbstbewusstsein, weil sie sich überhaupt gehört fühlen, aber meistens übersetzen sie ihre Interessen in Petitionen an den Staat, die Partei und den großen Chef. Diese paternalistische Ausrichtung auf die jeweiligen Führungsfiguren machen auch die linken nicht-bolivarianischen Gewerkschaften mit. Leute, die für ihre sozialen Forderungen auf die Straße gehen wollen, werden durch die hochgeputschte Dauerpolarisierung, die Ja-Nein-Alternativen zwischen der reaktionären Opposition und dem chavismo zerdrückt. ArbeiterInnen als mögliche organisierte Kerne in solchen Auseinandersetzungen bleiben politisch isoliert. Eigenständige Organisierung und Unabhängigkeit von staatlichen Institutionen in sozialen Auseinandersetzungen sind fast unmöglich.
Die mangelnde Orientierung auf Selbstorganisierung und Debatte ist kein Problem der reaktionären Kader des alten Staatsapparates, wie Freunde der bolivarianischen Revolution gerne behaupten, sondern sitzt tief in der PSUV und den heutigen Revolutionären. Nach ihrem Selbstverständnis repräsentieren Regierung und Partei in Venezuela die Interessen »des Volkes«, aus dem Mund des Präsidenten spricht »das Volk«. Abweichungen von der vorgegebenen politischen Linie stehen schnell im Geruch der Konterrevolution. Die Räume, die der chavismo radikaleren Initiativen angeblich eröffnet, bleiben Spielräume.
Die Vorstellung, der »fortschrittliche Staat« leite die Revolution an und könne angesichts einer starken Opposition von rechts keine Abweichungen »im eigenen Lager« dulden, wird auch in vielen europäischen Venezuela-Solidaritätsgruppen gepflegt. Die sehr widersprüchlichen Entwicklungen der »bolivarianischen Revolution« müssen aus dieser Perspektive nicht genauer diskutiert werden, da der venezolanische Staat einen (kleinen) Teil der Ölrente ausdrücklich in Sozialprogramme steckt, während in den kapitalistischen Kernländern der Sozialstaat zum Luxus erklärt worden ist. Außerdem organisiere die bolivarianische Regierung gegen die Kriege in Afghanistan und Irak eine »internationale revolutionäre Perspektive«.

Die Leerstellen der Zentralamerika-Solidaritätsbewegung sind seit 25 Jahren offensichtlich nicht gefüllt worden. Solche Debatten würden aber Vorstellungen und Praxis von Revolutionierung der gesellschaftlichen Verhältnisse ganz anders voranbringen – und zwar nicht nur in Lateinamerika.



Fußnoten:

1 Bei der U-Bahn in Caracas verdienen viele der 5000 ArbeiterInnen nur wenig mehr als den Mindestlohn plus Cesta-Ticket. Zunächst behauptete das Arbeitsministerium, der Tarifvertrag vom Dezember 2008 sei ungültig, später hieß es, die Lohnerhöhungen seien nicht bezahlbar. Bis zum Referendum am 15. Februar 2009 gab es nicht-öffentliche Verhandlungen im ganz kleinen Kreis unter Beteiligung einiger Gewerkschaftsvertreter. Am 17. Februar forderten 2000 Metro-ArbeiterInnen in einer Versammlung, dass jede Veränderung des Vertrages mit ihnen zu diskutieren sei. Danach demonstrierten hunderte Metro-Beschäftigte mehrere Male in Caracas. Am 6. März bekräftigte der Staatspräsident öffentlich, man werde bei der Metro und in der Schwerindustrie keine »politisch motivierten Sabotageakte« tolerieren. Er brachte die Streikdrohungen mit »konterrevolutionären Absichten der Opposition« in Verbindung und forderte die Polizei auf, diese Unternehmen gegen Sabotage zu verteidigen. Schließlich wurde ein neuer Vertrag abgeschlossen, in dem ungefähr 40 Prozent der bereits ausgehandelten Verbesserungen gestrichen wurden. Versammlungen zur Diskussion fanden nicht mehr statt.

2 Die in den Streiks vom Frühjahr 2008 umstrittenen Punkte sind ein Jahr nach der Verstaatlichung von SIDOR immer noch dieselben: zwar sind die Löhne erhöht worden, aber im täglichen Arbeitsprozess gibt es weiterhin regelmäßig Verletzte, manchmal auch Tote. Die Situation der 8000 Leiharbeiter hat sich nicht geändert: bis auf wenige hundert (das war genau das Zugeständnis der früheren argentinischen Firma in den Verhandlungen) ist niemand übernommen worden. Inzwischen gibt es Pläne zur Frühverrentung mit 50% der Bezüge für mehrere hundert Festangestellte, und angesichts der sinkenden Stahlnachfrage auf dem Weltmarkt sind hunderte Arbeiter in Kurzarbeit. Die Regierung will den seit November geltenden neuen Tarifvertrag neu verhandeln, da er in der Krise zu kostspielig sei. Die Mobilisierungen gehen weiter, der zuständige Minister für Basisindustrien und Bergbau droht den Aktivisten, da sie angeblich gemäß einem Plan der rechten Opposition die gesamte Region destabilisieren wollen.

3 In seiner Enttäuschung über die Kriegsbeteiligung der deutschen Sozialdemokratie (bis dahin seine Lehrmeister) entwickelte Lenin in seiner Schrift Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus eine regelrechte Theorie der »Arbeiteraristokratie«: Hochqualifizierte Teile der Klasse, würden aus Extraprofiten mit einem hohen Arbeitslohn »bestochen«. Zugespitzt bedeutet diese Vorstellung eine Umkehrung der Verelendungstheorie: materiell besser gestellte Klassenteile tendieren zu konterrevolutionären Einstellungen. Jede soziale Dynamik innerhalb der Klasse wird damit ausgeschlossen.
Der Unterschied zwischen Mindestlohn und Hochlohnbranchen in Venezuela entspricht in etwa dem zwischen Niedriglohnsektor und festangestellten Mercedesarbeitern in der BRD.

4 Anfang März 2009 gab der staatliche Ölkonzern PDVSA (80 000 Beschäftigte) in allen Tageszeitungen bekannt, dass er ab sofort wieder seinen Zahlungsverpflichtungen für die Subunternehmen in der Ölindustrie (20 000 Beschäftigte) nachkommen werde. Damit reagierte er auf viele kleinere Streiks und Demonstrationen von Leiharbeitern in der Ölindustrie, die ihre Löhne wochenlang gar nicht oder nur teilweise bekommen hatten, weil die PDVSA die Subunternehmen nicht bezahlt hatte. Der zuständige Minister erklärte Ende April 2009 in einer Rede an die Öl-ArbeiterInnen, auf die Krise des Kapitalismus werde man mit »mehr Sozialismus« antworten. Der Führungsschicht des Unternehmens würden ihre Privilegien (Dienstfahrzeuge, großzügige Spesen) beschnitten und die Einkommen gekürzt. Seine zentrale Botschaft richtete sich an die ArbeiterInnen: Angesichts der Krise und des niedrigen Ölpreises könne es für niemanden bei PDVSA Lohnerhöhungen geben. Stattdessen müsse man die Ölindustrie »mit einem Höchstmaß an Bewusstsein« verteidigen. Damit scheinen von der Regierung die anstehenden Tarifverhandlungen erledigt zu sein, so befürchten zumindest einige der Gewerkschaften.

Zum Weiterlesen:

Jenseits der Sturmhauben des mexikanischen Südostens, in: Wildcat-Zirkular 22

Bürgerbeteiligung + Sozialstaat + Antiimperialismus = Revolution?, in: Wildcat 73, Frühjahr 2005.

Präsident Chávez ist ein Werkzeug Gottes, in: Kosmoprolet

Boliven: Verwandlung von Bewegung in Institution?, in: Wildcat 72



[spanische Version]


aus: Wildcat 85, Herbst 2009



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