Wildcat Nr. 83, Frühjahr 2009, [w83_spanien.htm]



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In der jetzigen Krise implodiert ein durch Fördermittel und Kredite subventioniertes Entwicklungsmodell. Sie markiert das Ende einer Epoche, die mit dem Übergang vom Frankismus begann und über die Integration in den europäischen Markt bis zu der Einbindung in den Weltmarkt führte. Die Krise ist aber auch ein medial vermarktetes Großereignis, das täglich zelebriert wird wie ein kollektiver Selbstversuch, in dem alle ihre neuen Rollen suchen. Die Politiker wirken dabei verunsichert, weil in einer Situation, die sie immer offenkundiger zu Statisten macht, die Manipulation des Wählerwillens schwieriger wird und sie bei der ersten Gelegenheit als Sündenbock abgestraft werden können. Die Medien ermahnen uns ständig, beim Einkauf auf die Sonderangebote zu achten, der Wirtschaftsminister empfiehlt den Kauf einheimischer Produkte, während an allen Ecken über den Einbruch der kreditfinanzierten Nachfrage gejammert wird, die für das spanische Wirtschaftswunder so wichtig war.

Spanien: Backsteine, Blasen und Bankrott

English version

Nationalökonomie als Versuchslabor des Krisenmanagements

Ein Albtraum tritt nun an die Stelle jener heiteren Jahre, in denen alle wussten, dass das irgendwie verrückt ist und nicht ewig so gehen kann: Das ganze Land eine gigantische Wachstumsmaschine, wenn auch mit einigen Besorgnis erregenden Nebeneffekten, wie dem, dass ganze Landstriche mit schäbigen Wohnschachteln verschandelt wurden – für die Zweitwohnung am Meer, für die wachsende Bevölkerung, für die anlagesuchenden Ersparnisse aus aller Welt oder für das Waschen von Schwarzgeld. »Damals«, als in Spanien soviel Zement verbraucht wurde, wie in den vier größten europäischen Volkswirtschaften zusammen, als hier ein Drittel aller 500-Euro-Scheine zirkulierte, um die korrupten Seilschaften aus Politikern, Beamten und Bauunternehmen zu schmieren, als die kommunalen Einnahmen aus der Verwandlung von Äckern in Bauland nur so sprudelten.

In den letzten zehn Jahren wuchs das Bruttoinlandsprodukt durchschnittlich um 3,5 Prozent und lag damit deutlich über dem EU-Durchschnitt. Da war es zu verkraften, dass die Subventionen aus EU-Fördermitteln, 118 Mrd. Euro seit 1986, ab 2006 verebbten, und es kümmerte wenig, dass man im globalen Wettbewerb zunehmend ins Hintertreffen geriet, weil die Produktivität nicht mit dem Lohnzuwachs Schritt hielt. [1] Die wachsende Verschuldung und das Handelsbilanzdefizit (10 Prozent des BIP) wurden aus schier unerschöpflichen, globalen Kapitalströmen auf der Suche nach renditeträchtigeren Anlagen finanziert. Spätestens mit dem Kollaps von Lehman Brothers ist das Märchen aus und haben sich alle Beschwichtigungen blamiert, die eine weiche Landung versprachen.
Von 1993 bis Anfang 2008 stieg die Beschäftigtenzahl von 12 auf über 20 Millionen. Im Juli 2007 konnte erstmals seit 1978 mit 1,76 Millionen Arbeitslosen eine Rate unter 8 Prozent gemeldet werden. Allerdings waren über ein Drittel der neuen Arbeitsplätze befristet (in der Bauindustrie über die Hälfte), was nun mitverantwortlich ist für die rasant steigende Arbeitslosigkeit, die gerade offiziell auf 3,3 Mio. (14,4%) gestiegen ist – mit täglich 6400 neuen Arbeitslosen. In der Baubranche hat sich die Arbeitslosigkeit innerhalb eines Jahres mehr als verdoppelt (307.000); in der Industrie stieg sie um 43 Prozent (120.000), im Dienstleistungssektor um 38 Prozent (492.000). Mindestens 80.000 ArbeiterInnen sind in die Schattenwirtschaft abgetaucht. 29,5 Prozent der Jugendlichen unter 25 sind arbeitslos.
Anfang 2009 waren im Automobilsektor, wo neun Prozent der Beschäftigten arbeiten, bereits 70.000 von Kurzarbeit oder Entlassungen betroffen, darunter 18.000 Entlassungen bei denVertragshändlern. Zunächst wurden vor allem Befristete und indirekt Beschäftigte entlassen. Aufgrund der tiefen Spaltung der Belegschaften in garantierte und prekäre ArbeiterInnen blieb der Protest bislang relativ marginal. Bis auf wenige Ausnahmen waren die Aktionen und Demonstrationen isoliert und gewerkschaftlich kontrolliert. Mobilisierungen führen häufig zu einer Reduzierung der Stammbelegschaften über Sozialpläne und Frühverrentung.
Die Regierung versucht sich als Krisen-Feuerwehr wie eben alle Regierungen derzeit. Beinahe im Wochentakt werden neue Programme zur Stützung des Finanzsektors, der Immobilienunternehmen, der Kommunen, des Konsums verkündet. Darunter u.a. abgestufte Moratorien für die nicht mehr einforderbaren Hypotheken und Versuche zur Feinregulierung der Immigration – was politisch als Prophylaxe gegen die xenophobe Bedrohung von rechts legitimiert wird.
Die Staatsverschuldung liegt inzwischen bei fast 40 Prozent. Die Schulden der privaten Haushalte allein aus Hypothekenverpflichtungen belaufen sich auf eine Billion Euro; für die Tilgung muss jeder Haushalt durchschnittlich fast 50 Prozent seines Einkommens aufbringen. Immobilien- und Baufirmen sind mit 400 Milliarden Euro verschuldet. Die Summe der faulen Kredite hat sich 2008 auf 60 Milliarden Euro vervierfacht.

Die Chancen der Krise: Senkung des Lohnniveaus

Analysten und Regierungsvertreter reden von der »Chance«, die sich jetzt biete, um die überfälligen Strukturreformen einzuleiten. Spanien müsse endlich seinen »Sandwich-Status« überwinden, wo das Lohnniveau in den weniger kapitalintensiven Sektoren der Konkurrenz aus Osteuropa und Asien nicht standhalten kann und die technologisch fortschrittlicheren Sektoren von der Überlegenheit der »reiferen« Volkswirtschaften erdrückt werden. Finanzmittel flossen in den letzten Jahren in den Bausektor; für Investitionen zur technologischen Innovation blieb da nichts übrig. Und jetzt fehlt das Geld sogar für dringend notwendige Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur. In einem sind sich alle »Analysten« einig: Das Lohnniveau muss gesenkt werden.
Tatsächlich hat der Bauboom dazu beigetragen, dass trotz relativ bescheidener Lohnzuwächse das verfügbare Einkommen der Haushalte - bedingt durch gestiegene Beschäftigung, verbilligte Kredite, gewachsene Vermögenswerte und verschiedene Steuerreformen - deutlich zunahm. [2]
Die Herunterstufung der Bonität der schwächsten Volkswirtschaften der EU durch die Rating-Agentur Standard&Poor’s und Ende Januar auch für Spanien treibt die Refinanzierungskosten in die Höhe. Wollen diese Länder einem langfristig drohenden Staatsbankrott entgehen, müssen sie die Reproduktionskosten massiv und direkt senken. Die Rating-Agenturen selbst sind ein (stark umstrittenes!) Werkzeug im Gerangel um die Neuordnung globaler Herrschaftsstrukturen, und der politische und ökonomische Kollaps des kapitalistischen Weltsystems nagt an der Legitimität dieser Institutionen, die ihre drastischen Sparpläne als »Rechnung für die Übertreibungen der Vergangenheit« präsentieren. Andererseits geben von supra-nationalen Institutionen wie IWF, Weltbank oder Ratingagenturen »aufgezwungene« Strukturanpassungen den Regierungen die Möglichkeit, die eigene Verantwortung und Rolle zu vertuschen. In diesem Kontext sind die Schwierigkeiten der Herausbildung einer europäischen Regierungsgewalt, aber auch der zwischenstaatlichen Solidarität angesiedelt.

Die sozialistische Regierung traut sich bislang nicht, die Bedingungen der ArbeiterInnen frontal anzugreifen. Früher hätte man in einer vergleichbaren Situation die Peseta abgewertet – was einem Rabatt auf die gesamte spanische Arbeiterklasse auf dem Weltmarkt gleichkam, sich aber leichter durchsetzen ließ als die direkte Senkung der Einkommen. Die Absenkung der gesetzlichen Abfindungen von 45 Tagen pro Arbeitsjahr bei Kündigung wird immer wieder gefordert, ist der Regierung aber zu riskant.[3] Steuererhöhungen würden die Binnennachfrage weiter drosseln. Ausgabenkürzungen sind zur Zeit auch nicht umsetzbar. Die öffentlichen Dienstleistungen, insbesondere die Gesundheitsversorgung, haben bereits erhebliche Funktionsprobleme, u.a. deshalb, weil sie nicht dem Bevölkerungswachstum angepasst wurden. Die im Gesamtvolumen erheblich gewachsenen Lohnersatzleistungen reichen schon jetzt kaum zur Deckung des Lebensbedarfs; eine Kürzung würde außerdem den Ausfall der Immobilienhypotheken weiter beschleunigen. Zu erwarten ist allenfalls eine »Modernisierung« der Wohlfahrt, um mit mehr Kontrolle und Kursen die Rotation der Arbeitslosen zu erhöhen (und die Statistik zu schönen: Wie in der BRD werden 700.000 in Kursen zwischengeparkte Arbeitslose nicht mehr als arbeitslos gezählt).
Deshalb stehen vorerst die Löhne und die dafür geforderte Leistung im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. In der Privatwirtschaft ist der Angriff bereits voll in Gang als Abbau von Überkapazitäten und den damit einhergehenden Wellen von Kurzarbeit und Entlassungen. Die Regierung sah sich kürzlich sogar veranlasst, die Unternehmen zu ermahnen, »die Krise nicht auszunutzen«.[4] Ein massiver Abbau der Stammbelegschaften provoziert erfahrungsgemäß militantere Mobilisierungen. In den letzten Jahren wurden sie vor allem beim Personalabbau in der Autozulieferindustrie zum Ritual, um die Abfindungen in die Höhe zu treiben. Gerade Jüngere verfolgten das Ziel, mit einer hohen Abfindung aus der Fabrik abzuhauen, statt »um den Arbeitsplatz« zu kämpfen. Aber wenn die Alternative Arbeitslosigkeit heißt, dürften solche Konflikte an Schärfe gewinnen. Deswegen empfehlen immer mehr »Analysten« als bestes Mittel zur Einkommenssenkung die Rückkehr zu den konzertierten Abkommen der 70er Jahre, den nach dem Regierungssitz benannten »Pactos de la Moncloa« zwischen Gewerkschaften, Unternehmern und Regierung.

Bauboom und Migranten

Das spanische Wachstumsmodell hat Parallelen zur irischen und in gewissem Maße zu allen angelsächsischen Ökonomien. Der Einstieg in den Euro 1999 verschaffte der seit 1994 andauernden Wachstumsphase eine neue Grundlage, auf der die unterbewertet konvertierte Peseta einige Jahre lang für einen Wettbewerbsvorteil sorgte; zugleich bereitete die Aussicht auf währungspolitische Stabilität die Basis für die Verschuldung. Negative Realzinsen und aufgeblasene Finanzmärkte ermöglichten die schnelle Expansion der Bauwirtschaft, die in zehn Jahren von 5 auf 13 Prozent des BIP wuchs.
Die »Modernisierung« Spaniens drückte sich seit Beginn der 70er Jahre und besonders mit den Krisen 1984 und 1992 darin aus, dass die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft und in der Industrie zugunsten des Dienstleistungssektors und vor allem des öffentlichen Sektors stark zurückging. Diese als Tertiarisierung bezeichnete Transformation reduziert die strategischen, konjunkturbestimmenden Branchen auf ein Minimum. In der Industrie arbeiten heute noch gut 16 Prozent aller Beschäftigten, in der Bauwirtschaft 13 Prozent. Dem stehen jeweils 30 Prozent in den Bereichen »Handel/Finanzen« und »andere Dienstleistungen« gegenüber. Der aktive Bevölkerungsanteil erreichte mit 60 Prozent eine historische Höchstmarke. Als Ursachen gelten die gestiegene Beteiligung der Frauen am offiziellen Arbeitsmarkt und die Arbeitsimmigranten.
Die mit Wohnsitz registrierte Bevölkerung wuchs von 2002 bis 2008 durchschnittlich um 720.000 Personen jährlich, zu 90 Prozent durch Zuwanderung. Im Jahr 2004 nahm Spanien ein Drittel aller EU-Einwanderer auf – hauptsächlich aus Marokko, Lateinamerika und Osteuropa. Nur durch die massive Arbeitsmigration war die fieberhafte Bautätigkeit mit bis zu 800.000 Wohnungen jährlich möglich.

Die Baubranche…

Die großen Baufirmen sind alle aus Familienunternehmen hervorgegangen, die sich im Filz mit den Parteien entfaltet und unter aggressivem Gebrauch finanzieller Hebel zu global playern entwickelt haben. Fünf der zehn größten europäischen Baufirmen sitzen in Spanien. Sie haben bereits vor Jahren angefangen, ihr Geschäftsfeld zu diversifizieren, um dem drohenden Kollaps vorzubeugen.
Ein gutes Fünftel der Beschäftigten und mehr als ein Drittel des Umsatzes konzentriert sich auf nur 1,1 Prozent der Firmen. Unterhalb dieses starken Konzentrationsprozesses ist die Baubranche aber durch viele kleine und mittlere Unternehmen geprägt, 90 Prozent der Firmen haben weniger als elf Beschäftigte, die durchschnittliche Unternehmensgröße beträgt sogar nur fünf Beschäftigte bei einem hohen Anteil (schein-)selbstständiger Arbeiter. Baufirmen kommen und gehen, allein 2007 wurden 2036 Firmen geschlossen und 20.729 neu gegründet bei insgesamt über 500.000 Firmen. Die kaskadenförmige Beschäftigungsstruktur mit vielverzweigten Ketten von Subunternehmen ermöglicht Heuern und Feuern beinahe just in time nach Bedarf – ganz ähnlich übrigens im Transportsektor.

… und ihre Beschäftigten

Die Beschäftigung in der Baubranche hat sich von 1995 bis 2006 mehr als verdoppelt auf 2,6 Millionen bzw. 13 Prozent der Gesamtbeschäftigung. – 30 Prozent der Arbeiter sind 16 bis 29 Jahre alt, womit die Branche die jüngste Arbeiterschaft aufweist. Der Immigrantenanteil wird mit 25 Prozent angegeben, ebenfalls Rekord. Für die illegale Beschäftigung werden Zahlen zwischen 500.000 und 1,5 Millionen für den Gesamtarbeitsmarkt gehandelt (23 Prozent des BIP). Der Anteil im Bausektor dürfte relativ hoch sein. 16 Prozent der illegalen Inmigranten arbeiten hier.
Die Zusammensetzung nach Qualifikationen: Verwaltungstätigkeiten und Techniker machen etwa 20 Prozent aus, qualifizierte Arbeiter über 60, Unqualifizierte 15 Prozent. 44 Prozent der Arbeitsverträge sind befristet, 20 Prozent arbeiten als Selbstständige. Die Löhne sind stark differenziert. Qualifizierte Bauarbeiter bekommen etwa 1400 bis 1600 Euro monatlich, was unter dem gesellschaftlichen Durchschnittslohn liegt (Ende 2008: 1692 Euro – Zahlen jeweils in brutto). Techniker oder Facharbeiter verdienen teils erheblich mehr. Bautechniker waren bis zum Kriseneinbruch stark gesucht und konnten große Zuschläge aushandeln. Dennoch gehören die Stundenlöhne auf dem Bau mit durchschnittlich 8,73 Euro zu den niedrigsten; gegenüber 10,43 Euro in der Industrie und 9,61 Euro im Dienstleistungssektor (2005 – neuere Zahlen nicht verfügbar).
Der gewerkschaftliche Organisierungsgrad der Bauarbeiter wird als sehr gering angegeben. Über Arbeitskonflikte in der Bauindustrie dringen nur selten Nachrichten an die Öffentlichkeit. Die außerordentlich hohe Unfallrate hat einige Male zu kürzeren lokalen Arbeitsniederlegungen geführt. Mit 308 Unfalltoten gab es 2005 einen Höchststand (31 Prozent aller tödlichen Arbeitsunfälle). Aber auch seither starben jährlich zwischen 250 und 300 Bauarbeiter.

Kriseneinbruch

Etwa ein Drittel des Bauumsatzes entfällt auf den Wohnungsbau, Investitionen in den übrigen Bereichen sind in großem Umfang Folgeleistungen des Wohnungsbaus. Der Überhang nicht verkaufter Neubauwohnungen wird jetzt schon auf über eine Million beziffert. Dennoch macht sich der Kriseneinbruch erst mit Verzögerung bemerkbar, weil angefangene Projekte in der Regel fertiggestellt werden. 2007 wurden noch fast 10 Prozent mehr Wohnungen fertiggestellt als 2006, während die Bauanträge schon um 16 Prozent fielen. 2008 brachen die Bauanträge um über 70 Prozent ein. Der erste massive Stellenabbau läuft in der Bauplanung und bei kommerziellen Dienstleistungen.
Der Staat versucht mit Kredit- und Mietsubventionen oder Manipulation der Grundstückspreise den Einbruch abzufedern. Investitionsprogramme sollen die Bautätigkeit im Nicht-Wohnungssektor anregen.

Migranten und Junge ohne soziale Netze

Trotz seiner zentralen Bedeutung im hinter uns liegenden Zyklus kam es aus dem Bausektor nicht zu offensiven Impulsen zur politischen Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse. Verhindert haben das anscheinend die prekäre Arbeitsorganisation einerseits und die für Migranten relativ hohen Einkommen andererseits, die über ausgedehnte Arbeitszeiten und leicht zugängliche Kredite verfügbar waren. Bauarbeit ist in unterschiedliche Gewerke organisiert.
Spezifische Leistungen werden mit dem Baufortschritt meistens von Kolonnen unabhängiger Firmen erbracht. Diese sind meist wenige Wochen auf der Baustelle. Dieser im Vergleich zur Fabrikarbeit niedrige Grad der Kooperation begründet einerseits die geringere Produktivität (Studien sprechen von bis zu 30%; allein 15% Kosten durch Nacharbeit) – andererseits aber auch die elementaren Schwierigkeiten für jede Arbeiterinitiative.
In jedem Fall sind in den vergangenen Jahren Veränderungen in Gang gekommen, für deren Verständnis hier nur erste Materialien geliefert werden können. Anders als aus den Herkunftsländern betrachtet (siehe den Bericht aus Rumänien in diesem Heft!) sieht es hier so aus, dass die Immigranten wohl zum größten Teil hier bleiben werden, weil ihnen die Rückkehr keinerlei Vorteile bietet. Sie sind zu über 50 Prozent befristet beschäftigt, durch die Krise stärker betroffen und bewegen sich im Moment mehr als die autochthone Bevölkerung auf der Suche nach neuen Einkommensquellen.
Der zunehmende Ausschluss der jüngeren Generationen vom Arbeitsmarkt ist ein weiterer Punkt, der einer genaueren Analyse bedarf – wobei hier offensichtlich auch ein Moment der Verweigerung mitspielt. Die Ereignisse in Griechenland haben in Spanien sofort die Alarmglocken schrillen lassen. Werden die Bewegungen der SchülerInnen und Studierenden neue Anstöße geben, die über die Bildungspolitik (Bologna-Prozess) hinausweisen?
Die vielzitierten sozialen Netze, die bisher noch in jeder Krise eine stabilisierende Funktion erfüllten, befinden sich in fortgeschrittener Auflösung. Ein Indikator dafür ist z.B. das Rekordwachstum der inhaftierten Bevölkerung. Von 45.000 im Jahr 2001 ist die Zahl der Häftlinge auf über 72.000 gestiegen und mit 160/100.000 weist Spanien hinter den USA (und vor GB mit 137/100.00) die höchste Rate in der westlichen Welt auf.
Neben den traumatischen Erfahrungen, die das abrupte Ende des Booms auslöst, werden jetzt vielschichtige Prozesse der Neuorientierung beginnen. Eine entscheidende Frage drängt sich in den Vordergrund: Wie kann die gesellschaftliche Reproduktion verteidigt werden gegen die entfesselte Gewalt ihrer ökonomischen Strukturen?

[1] Die im Vergleich zum Euroraum höhere Inflationsrate bildete die deutlich schneller steigenden nominalen Lohnstückkosten ab. Das Berliner DIW verkündete am 31.5.2007: »Gemessen am Durchschnitt der Eurozone haben sich die Lohnstückkosten seit dem Beginn der Währungsunion im Jahr 1998 bis zum Jahr 2006 in Spanien um gut 16 Prozent erhöht.« Einfacher sagt es Ignacio Buqueras, Präsident der Nationalen Kommission zur Rationalisierung der Arbeitszeiten (ARHOE): »Was die Produktivität angeht, ist Spanien Schlusslicht. Das liegt daran, dass die Spanier die bloße Anwesenheit im Job schon für Arbeiten halten.«

[2]Thomas Fricke schrieb am 22.10.2004 in der FTD: »Wie fortgeschritten Spaniens Aufschwung bereits ist, lässt sich an Dingen erahnen, die auch das Ende des New-Economy-Booms prägten. Alles scheint möglich und bezahlbar, auch bei der Beschäftigung. Die Firmen verdienen so gut, dass Jobs bezahlt werden, die in Deutschland vor lauter Krise längst wegrationalisiert sind. Da stehen an einer Supermarktkasse schon einmal zwei Kassiererinnen, während Obst und Gemüse eigens von einer Arbeitskraft gewogen werden. Schluss mit Selfservice. Es wimmelt von Leuten, die mehr oder weniger unqualifiziert mehr oder weniger sinnlose Jobs machen. Kein Wunder, dass Spaniens Produktivität seit geraumer Zeit um jährlich weniger als ein Prozent zulegt.«

[3]Nach einer Studie der Weltbank liegen die Abfindungskosten in Spanien bei 56 auf einer Skala bis Hundert; zum Vergleich: OECD 25, USA 0, GB 22, BRD 69.

[4]Sony hat für die Fernseher-Produktion im Werk bei Barcelona nach Drohung mit Kurzarbeit, Entlassungen und Verlagerung in das zweite europäische Werk in der Slowakei den über 1000 Beschäftigten für eine zweijährige Standortgarantie eine Ausdehnung der Arbeitszeit um 40 Stunden und Arbeitszeitkonten von 60 Stunden pro Jahr und einen Lohnstopp bis 2010 abgerungen. Außerdem werden 185 Logistik-Arbeitsplätze ausgelagert, 93 Leute gehen »freiwillig«. Darüber hinaus hat die katalanische Regierung Subventionen für technologische Entwicklung zugesichert.
Nissan droht, die Hälfte der 3332 ArbeiterInnen im Werk bei Barcelona zu entlassen. Die Verhandlungen hängen im Moment in der Luft; die Produktion stand eine Weile still, weil ein Zulieferer für Sitze pleite gegangen war.



aus: Wildcat 83, Frühjahr 2009



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