Wildcat Nr. 83, Frühjahr 2009, [w83_polen.htm]



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Polen: Exportplattform im Sturzflug

Am 5. Februar protestieren 4000 MetallarbeiterInnen aus Stalowa Wola vor dem Sitz des staatlichen Stromversorgers PGE in der Regionalhauptstadt Rzeszow. Auf der Demo geht es richtig ab: Die ArbeiterInnen dürfen Dampf ablassen, schmeißen mit Böllern und zünden Autoreifen an. Die Demo in Rzeszow hat die Gewerkschaft Solidarnosc organisiert, weil der Maschinenbaubetrieb ZZM, ein Tochterunternehmen der Stahlhütte, Konkurs angemeldet hat. Alle wissen, dass ZZM die Aufträge von seinem größten Kunden in Österreich ausbleiben und dass Solidarnosc im Gegenzug für Beschäftigungsgarantien schon im Dezember einer Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich zugestimmt hat. Die Gewerkschaft behauptet aber, schuld an der Pleite, die die Beschäftigungsgarantien jetzt hinfällig macht, sei nicht die Krise, sondern die Strompreise, die sich im Lauf des letzten Jahres fast verdoppelt haben.

Boom

Seit dem EU-Beitritt sind die neuen Mitgliedsstaaten in Osteuropa konsequent zur verlängerten Werkbank Westeuropas umgebaut worden. Das gilt auch für Polen als mit Abstand größten dieser Staaten [1]. Speziell fürs deutsche Kapital stellte sich Polen geradezu als Paradies dar: direkt vor der Haustür, niedriges Lohnniveau, eine gut ausgebildete, aber durch 15 Jahre »Transformation« gründlich demoralisierte Arbeiterklasse, eine Arbeitslosenquote von 20 Prozent (beim Beitritt im Mai 2004), geburtenstarke Jahrgänge verließen die Schulen und Universitäten, und die niedrige Erwerbsquote von 51,5 Prozent deutete auf »mobilisierbare Arbeitskraftreserven« …...

Westliche Firmen aus der Auto- und Autozuliefer-, der Hausgeräte- und der Elektronikbranche bauten in kurzer Zeit sehr viele Werke in Polen. In der Autobranche produzieren VW, Fiat und Opel PKW, MAN und Volvo LKW, Toyota, GM und Fiat Motoren. Die beiden mit Abstand größten Exporteure Polens sind VW und Fiat. Außerdem haben sich fast sämtliche namhaften Zulieferer in Polen angesiedelt. In der Hausgerätebranche sind u.a. Bosch-Siemens, Indesit, Electrolux, LG und Whirlpool präsent. [2] Ein Großteil der Produktion geht in den Export - in der Autobranche über 90 Prozent, davon über 80 Prozent in die EU. Das Bruttosozialprodukt stieg jährlich um über sechs, die Industrieproduktion um zehn Prozent, der Export um mehr als zwanzig Prozent.
Die lohnabhängige Beschäftigung stieg von 9,3 im Jahr 2002 auf 12,3 Millionen 2008, den höchsten Stand seit 1989. Die Arbeitslosigkeit fiel gleichzeitig von 3,2 Millionen (20 Prozent ) 2002 auf 1,4 Millionen (9,1 Prozent). Das ist der niedrigste Stand seit 1990. Gleichzeitig emigrierten fast zwei Millionen Menschen v.a. nach Großbritannien und Irland, und die nicht Erwerbstätigen stellten sich als nur schwer mobilisierbar heraus: Ein Teil nutzte weiterhin eine Kombination von staatlich garantierter Subsistenzlandwirtschaft und informeller Lohnarbeit, v.a. Saisonarbeit im Ausland [3], ein anderer Teil war über Früh- und Berufsunfähigkeitsrenten dauerhaft raus aus dem offiziellen Arbeitsmarkt [4]. Dass wenige gern in Polen arbeiten wollten, war kein Wunder: 2005 lag der Durchschnittslohn im verarbeitenden Gewerbe bei etwa 470 Euro brutto im Monat. Außerdem waren die meisten neuen Jobs befristet. Die Zahl der befristeten Arbeitsverhältnisse stieg von 600.000 im Jahr 2000 auf 3,2 Millionen Mitte 2008. Das sind 27 Prozent aller Arbeitsverhältnisse. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Leiharbeitsverhältnisse offiziell von 30.000 auf 250.000.

Mit der schnellen Austrocknung des Arbeitsmarkts stieg die Konfliktbereitschaft: Die Zahl der offiziell erfassten Streiks stieg von 8 im Jahr 2005 auf 1736 im Jahr 2007 und 11.987 allein im ersten Halbjahr 2008 [5]. In der Industrie wurden die Lohnerhöhungen meist durchgesetzt, bevor es zu offiziellen Arbeitskämpfen kam. Aus einigen Betrieben wissen wir von informellen Auseinandersetzungen, etwa von der Verweigerung von Überstunden bei Toyota 2007 oder von der geplanten Verweigerung von Überstunden bei VW 2007, die zu einer weitgehenden Gleichstellung der Leiharbeiter mit den direkt Beschäftigten führte. Nach einer materiell erfolglosen Welle von wilden Streiks bei der Post Ende 2006 [6] kam es 2007 und 2008 zu einer Welle von Lohnstreiks im öffentlichen Dienst, die sich über Monate hinzog. Diese Streiks setzten Lohnerhöhungen von bis zu 30 Prozent (auf zwei Jahre gerechnet) durch. Sie blieben zwar unter gewerkschaftlicher Kontrolle, da aber Hunderttausende aktiv wurden, sorgten sie für einen grundlegenden Umschwung der gesellschaftlichen Stimmung: Kämpfen schien sich wieder zu lohnen. [7] Insgesamt stiegen die Löhne 2006 um zehn, 2007 um zwölf und allein von Januar bis Ende September 2008 um gut elf Prozent. Damit waren die Lohnsteigerungen zwar nicht so rasant wie in Lettland und Bulgarien (wo sie 2008 bei 28 bzw. 24 Prozent lagen), aber schon 2006 doppelt so hoch wie das Wirtschaftswachstum. Um die »Überhitzung« zu bremsen, erhöhte die Nationalbank den Leitzins zwischen März 2006 und Juni 2008 insgesamt achtmal von 4,25 auf 6,25 Prozent, konnte die Lohndynamik damit aber nicht stoppen. Dafür wurde der Zloty aufgewertet – gegenüber dem Euro und erst recht gegenüber dem britischen Pfund [8], was erstmals die Auswanderung nach Großbritannien bremste.
Dadurch, dass die britischen Löhne nach der Umrechnung in Zloty immer weniger wert waren, ging die klassische »Gastarbeiterrechnung« (ein paar Jahre unter miesen Bedingungen schuften und sich dann in Polen ein Häuschen kaufen) immer weniger auf. Es gab aber keine große Rückkehrwelle. Offensichtlich rechneten sich immer mehr Polen in Großbritannien aus, dass ein britischer Lohn dort immer noch mehr Kaufkraft hat als ein polnischer Lohn in Polen, und stellten sich drauf ein, dauerhaft dort zu bleiben.
Unter dem Eindruck des Booms sahen besonders Teile der Mittelschichten eine Perspektive, ihrer Wohnungsnot ein Ende zu setzen, und kauften auf Kredit eine Eigentumswohnung. Das heizte den Bauboom an und trieb die Immobilienpreise bis zum Sommer 2008 auf bisher ungekannte Höhen – in Warschau stiegen die Quadratmeterpreise auf 9.000 bis 10.000 Zloty (zum damaligen Kurs zwischen 2.500 und 2.900 Euro). In dieser Situation hatten die Aufwertung des Zloty und die hohen Zinsen einen weiteren Nebeneffekt: Viele Leute gingen auf die lautstark angepriesenen Angebote der Banken ein und nahmen niedriger verzinste Kredite in ausländischen Währungen auf, besonders in Schweizer Franken. [9] Fast 70 Prozent aller Hypothekenkredite in Polen laufen in Schweizer Franken.
Mit den Erschütterungen im globalen Banken- und Währungssystem im September fing der Kurs des Zloty plötzlich an zu fallen und hört seitdem nicht mehr damit auf. Anfang Februar hat er wieder den Stand von 2004 erreicht. Der Wert der Wohnungen ist inzwischen um 15 bis 20 Prozent gesunken, während die monatlichen Zloty-Raten für Kredite in ausländischer Währung – also die effektiven Kaufpreise – um 25 bis 30 Prozent gestiegen sind. Ende Oktober betrug die Gesamtsumme der Hypothekenkredite 171 Milliarden Zloty, bis Ende des Jahres stieg sie auf 192 Milliarden, obwohl die Banken im November und Dezember praktisch keine neuen Kredite mehr vergeben haben.

Krise

Die Autoindustrie war die erste Branche der »Realwirtschaft«, in der die Krise sich bemerkbar machte: Schon im Mai 2008 liefen bei VW in Poznan Gerüchte über Absatzprobleme und mögliche Entlassungen um. Im Toyota-Motorenwerk in Jelcz wurde im September die dritte Schicht gestrichen. Bei Opel in Gliwice ruhte im Oktober synchron mit Eisenach und Bochum tageweise die Produktion. Inzwischen wurden die Zahlen für Januar 2009 bekannt: Die PKW-Produktion ist gegenüber dem Vorjahr um 30 Prozent eingebrochen, die Produktion von leichten Nutzfahrzeugen sogar um 58 Prozent.
Bezeichnenderweise sehen Regierung und »Experten« in Polen bis heute keinerlei Zusammenhang zwischen Finanzkrise und Autoproduktion. Dabei war die historisch einzigartige Ausweitung der weltweiten Autoproduktion von 58 auf 73 Millionen Stück zwischen 2002 und 2007 nur auf Kredit möglich. Die Autoindustrie hat die Finanzkrise maßgeblich mit angetrieben, da nur die Ausweitung des Kredits verhinderte, dass Überproduktion und Überkapazitäten sichtbar wurden. Gleichzeitig wurden immer neue Fabriken gebaut, besonders in den neuen EU-Staaten in Osteuropa: Die Produktionsausweitung in der EU um 1,7 auf 19,7 Millionen Autos zwischen 2002 und 2007 fand im wesentlichen hier statt, wo sie sich um 1,5 auf 2,9 Millionen mehr als verdoppelte. [10]
Die Kapitalisten mussten wissen, dass das »neue Detroit« ihre Probleme nicht langfristig lösen konnte. Zum einen hat sich historisch mit jeder Verlagerungswelle die Geschwindigkeit erhöht, in der die ArbeiterInnen an den neuen Standorten ähnliche Bedingungen wie an den alten Standorten durchsetzen. [11] Zum anderen ist EU-Osteuropa viel zu klein, um die ganze Autoindustrie Westeuropas dorthin zu verlagern, ohne die Bevölkerung komplett in AutomobilarbeiterInnen zu verwandeln. [12] Sie mussten wissen, dass ihnen nur ein kleines Zeitfenster blieb, auch wenn sie wohl nicht ahnten, wie schnell überall die Arbeitsmärkte austrocknen und die Löhne in Bewegung geraten würden und wie schnell damit Osteuropa seine Erpressungs- und Abschreckungsfunktion gegenüber Westeuropa verlieren würde. Nun kehrt – noch bevor dieser Zyklus politisch »reifen« konnte – die Krise der Autoindustrie als Kreditkrise zurück und reißt das ganze regionale Entwicklungsmodell der letzten Jahre mit.

Noch im Oktober bestritten in Polen Regierung und Ökonomen, dass das Land überhaupt von der »Finanzkrise in den USA« betroffen sei. In den meisten Branchen wurden immer noch Leute eingestellt [13], und noch Anfang November sagten die meisten, der in einer Umfrage der Gazeta Wyborcza befragten Unternehmen, sie seien von der Krise nicht betroffen und planten keine Entlassungen.
Ende November hatte sich die Situation vollkommen geändert. Seitdem bringt die Presse ständig neue Listen geplanter Entlassungen. Plötzlich meldeten Firmen reihenweise »Gruppenentlassungen« beim Arbeitsamt an [14]. Landesweit wurden schon im November 38.000 Gruppenentlassungen gegenüber 55.000 im ganzen Jahr 2007 registriert. [15] Tatsächlich gibt es in Polen keine Puffer wie die Kurzarbeit, so dass die Entlassungswellen nicht wie in der BRD verschoben werden können.
In der Klasse kommt die Krise aber erst langsam an. Wegen laufender Kündigungsfristen stehen die meisten angekündigten Gruppenentlassungen noch bevor. Rausgeflogen sind bisher hauptsächlich Befristete und LeiharbeiterInnen, ähnlich unsichtbar wie in der BRD: Auslaufende Zeitverträge wurden nicht verlängert, LeiharbeiterInnen (bei VW in Poznan etwa waren es noch im Herbst 900) sind verschwunden. Einige Leiharbeitsfirmen wie Randstad in Lodz haben selbst schon Gruppenentlassungen angemeldet, aber die meisten LeiharbeiterInnen hatten selbst befristete Verträge, die inzwischen ausgelaufen sind.
Wie die Autoindustrie kündigen auch die anderen exportabhängigen Branchen Entlassungen an: Hausgeräte, Elektronik, die oft mit polnischem Kapital, aber für den Export produzierende Möbelindustrie, die Stahlindustrie. Auch die Baubranche steht vor der Krise, da nach dem Zusammenbruch des Immobilienmarkts Neubauprojekte storniert werden. Sobald durch die Massenentlassungen die Kaufkraft spürbar nachlässt, wird wohl auch der Einzelhandel dran sein.
Ein Teil der Entlassenen versucht noch in letzter Minute, auf den Zug der Frührente aufzuspringen oder sich erwerbsunfähig schreiben zu lassen. Aber alle Prognosen zu den Arbeitslosenzahlen fallen von Woche zu Woche düsterer aus. Nur die Rückwanderung von ArbeitsmigrantInnen spielt bisher keine große Rolle. Lediglich zehn Prozent der arbeitslos Gemeldeten sind Rückkehrer aus dem Ausland. Allerdings ist durch den Absturz des Zloty das Pfund wieder mehr wert, und mit dem Ende des Booms auf dem polnischen Arbeitsmarkt gibt es auch sonst wenig Anlass, nach Polen zurückzukommen. Die polnischen ArbeiterInnen, die sich an den Streiks in der britischen Ölindustrie Anfang Februar beteiligt haben, zeigen damit auch, dass sie ihren Platz in der Krise eher dort sehen.

Die Arbeitgeberverbände fordern erwartungsgemäß Zugeständnisse wie die weitere gesetzliche Flexibilisierung der Arbeitszeit. Die Gewerkschaften bieten vorauseilend Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohnausgleich zur Rettung von Arbeitsplätzen an, aber die Unternehmen zeigen wenig Interesse an solchen Abkommen, sondern gehen gleich zu Entlassungen über.
Die Regierung muss zur Verhinderung eines Staatsbankrotts den sinkenden Zloty stabilisieren, will aber nicht den Leitzins erhöhen, weil sie befürchtet, damit nur Panik zu schüren und das Vertrauen in die Währung vollends zu untergraben wie Ungarn und Island im Oktober. [16] Außerdem würden hohe Zinsen die Kreditklemme verschärfen und die Konjunktur noch weiter abwürgen. Stattdessen hat sie den Leitzins in drei großen Schritten auf 4,25 Prozent gesenkt und versucht die Währung über radikale Haushaltseinsparungen zu stabilisieren. Als politische Begründung muss die möglichst schnelle Einführung des Euro (bzw. die dafür zu erfüllenden Konvergenzkriterien) herhalten, da nur die EZB in der Lage sei, Liquidität in die Märkte zu pumpen. Da Polen frühestens 2012 der Eurozone beitreten kann, ist diese Begründung äußerst fragwürdig, sie hilft aber, die öffentliche Diskussion über die sozialen Folgen der Sparpolitik zu blockieren.
In Lettland wurde ein »Notkredit« des IWF an Auflagen wie eine Lohnsenkung um 15 Prozent im öffentlichen Dienst und die Erhöhung der Mehrwertsteuer geknüpft. Am 13. Januar demonstrierten über 10.000 Menschen dagegen und versuchten, das Parlament zu stürmen. Ähnliche Proteste gab es am selben Tag vor dem bulgarischen Parlament in Sofia und am 16. Januar vor dem litauischen Parlament in Vilnius. Demgegenüber gibt es in Polen bisher keinerlei politische Mobilisierung gegen die Krise. Tatsächlich fügt sie sich schwer in das politische Koordinatensystem ein: Die Arbeiterbewegung versteht sich mehrheitlich immer noch als »rechts«. Eine Kundgebung von Busfahrern vor dem Warschauer Rathaus im Sommer 2008 endete mit minutenlangen »Kommunisten raus!«-Sprechchören gegen die neoliberale Stadtverwaltung. »Kommunismus« funktioniert immer noch als Chiffre für »die Herrschenden«. Im nationalen Kontext mag das funktionieren. Aber die aktuelle weltweite Krise lässt sich nur schwer dem »Kommunismus« in die Schuhe schieben.
Aktionen wie die eingangs erwähnte Demo gegen die Strompreise sind Ausdruck der Krise, vermeiden aber den ausdrücklichen Bezug auf sie. Darin ähneln sie den wilden Streiks in der britischen Ölindustrie gegen die Vergabe von Bauaufträgen an ausländische Firmen. Sie thematisieren lokale Einzelprobleme und suchen ein Gegenüber, mit dem es einen Weg zurück zu einem »gerechten« Deal geben könnte.In den letzten Wochen gab es auch mehrere an den Gewerkschaften vorbei organisierte Betriebsbesetzungen zur Einforderung ausstehender Löhne: Beim indischen Display-Hersteller Videocon in Piaseczno bei Warschau, der im Lauf der letzten Jahre bereits 4700 von früher 5000 Beschäftigten entlassen hatte, besetzten ab dem 22. Januar 200 ehemalige ArbeiterInnen das Verwaltungsgebäude, bis die ausstehenden Löhne und Abfindungen auf ihren Konten waren. Beim Elektronikproduzenten HanPol in Lodz hatte sich der koreanische Eigentümer über Weihnachten ins Ausland abgesetzt, und die ArbeiterInnen fanden Anfang Januar nur noch eine leere Halle vor. Das Arbeitsamt wollte sie mangels Kündigungen nicht mal als arbeitslos registrieren. Ab dem 14. Januar besetzen sie drei Tage lang den Betrieb, bis schließlich ein Konkursverwalter eingesetzt wurde, der die Schließung jetzt ordnungsgemäß abwickeln soll.
Es wird noch mehr solcher Auseinandersetzungen um nicht gezahlte Löhne, Pleiten und betrügerische Unternehmer geben – wie im benachbarten Nicht-EU-Land Ukraine (das mangels internationaler Investitionen nicht über die allerersten Schritte zur Exportplattform hinausgekommen ist). Dort wurden die ArbeiterInnen der Busfabrik LZA in Lviv am 12. Dezember in unbezahlten Weihnachtsurlaub geschickt. Als sie am 26. Januar wieder zur Arbeit wollten, ließ sie der Werkschutz nicht aufs Gelände: »Die Geschäftsführung hat beschlossen, euren Urlaub zu verlängern«. Daraufhin blockierten sie eine Hauptstraße vor dem Betrieb. Die ArbeiterInnen der Landmaschinenfabrik ChMZ im südukrainischen Cherson hatten seit September keinen Lohn mehr bekommen. Sie gründeten einen Arbeiterrat und besetzten am 3. Februar das Verwaltungsgebäude mit der Forderung nach Nachzahlung der Löhne und Verstaatlichung des Betriebs.
Beim eingangs erwähnten Maschinenbaubetrieb ZZM in Stalowa Wola sind die Januarlöhne ebenfalls nicht mehr ausgezahlt worden. Am 9. Februar erklärten die Chefs der Firma und der Stahlhütte als Eigentümer achselzuckend, sie könnten nur einen Abschlag von 200 Zloty pro Person zahlen, den Rest sollten die ArbeiterInnen sich von der Konkursverwalterin holen. Am 10. Februar besetzte eine große Gruppe von ArbeiterInnen das Verwaltungsgebäude der Stahlhütte, um die Auszahlung der Löhne zu fordern, und zündete einen Reifenstapel unter dem Fenster des Geschäftsführers an.

Eine wichtige Frage ist, wie lange sich solche Auseinandersetzungen politisch als Ausdruck von Tragödien und Skandalen isolieren lassen. Bisher greift das bis weit in die Linke hinein, wie das Statement eines Funktionärs der Linksgewerkschaft Sierpien 80 zu HanPol zeigt: »Sie sagen, die Krise sei schuld, aber wenn das wirklich so wäre, dann könnte der Arbeitgeber den Betrieb legal und zivilisiert schließen.« Legales und zivilisiertes Vorgehen führte zuletzt der Autositze-Hersteller Lear in Tychy vor. Dort wurden gerade knapp 300 von 2000 Beschäftigten entlassen, hauptsächlich Näherinnen. Die ersten Kündigungen wurden am 30. Januar während der Nachtschicht verteilt. Zuerst nahmen die Teamleiter den ArbeiterInnen alle scharfen Werkzeuge ab, dann wurden die Kündigungen mit sofortiger Freistellung ausgehändigt und anschließend wurden die Entlassenen vom Werkschutz zu draußen bereitstehenden Bussen eskortiert.

Stand vom 10.2.2009

English version

[1] In Polen leben 38 von insgesamt 102 Millionen EinwohnerInnen der 12 neuen EU-Staaten. In Rumänien leben 21, in Tschechien und Ungarn je 10, in Bulgarien 8, in der Slowakei 5, in Litauen 3,4, in Lettland 2,2, in Slowenien 2, in Estland 1,3, in Zypern 0,7 und in Malta 0,4 Millionen.

[2] siehe »Das gelobte Land der Hausgeräteindustrie«, Wildcat 75.

[3] Ein Landwirtschaftsbetrieb mit 1 ha Fläche reicht, um sich in der Bauernsozialkasse KRUS günstig kranken- und rentenzuversichern. 2008 waren dort über 1,5 Millionen Menschen versichert.

[4] Das durchschnittliche Renteneintrittsalter liegt bei 57 Jahren. Speziell im öffentlichen Dienst gibt es Vorruhestandsregelungen, die erst jetzt angegriffen wurden: Angehörige von Polizei, Zoll und Militär konnten bis Ende 2008 nach 15 Jahren in Frührente gehen, Bergleute nach 20 und Lehrer nach 25 Jahren. Die Zahl der Bezieher von Berufsunfähigkeitsrenten ist nach 1989 innerhalb weniger Jahre um 50 Prozent gestiegen und beträgt heute 5 Millionen!

[5] An den Streiks beteiligten sich 196.700 ArbeiterInnen. Dabei fielen 1.354.900 Arbeitsstunden aus, also 7 Stunden pro TeilnehmerIn. Die Zahlen erklären sich durch viele kurze Warnstreiks v.a. im öffentlichen Dienst, bei denen jede beteiligte Arbeitsstelle wie Schule und Krankenhaus einzeln erfasst wird.

[6] siehe »Wilde Streiks der Briefträger bei der polnischen Post«, Wildcat 78.

[7] siehe »Die ersten offensiven Streiks. Polen: Nachschlagbewegung im öffentlichen Dienst« in Wildcat 81.

[8] Gegenüber dem Euro stieg der Zloty von 4,70 zu 1 im Januar 2004 auf 3,20 zu 1 im August 2008; gegenüber dem Pfund im gleichen Zeitraum von 7,10 zu 1 auf 4,05 zu 1, gegenüber dem Schweizer Franken von 3 zu 1 auf 2 zu 1.

[9] Die Verschuldung der Privathaushalte (größtenteils Hypothekenkredite) stieg von 2006 bis 2008 von 145 auf 230 Milliarden Zloty.

[10] »Die Autoindustrie in Tschechien als Motor der Kapitalakkumulation – und des Klassenkampfs?« in Wildcat 76 und »Slowakei: das neue Detroit?« in Wildcat 78.

[11] Siehe Beverly Silver: Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870, Berlin: Assoziation A 2005.

[12] siehe »Zweite Luft für die Autoindustrie«, Wildcat 76

[13] In gerade fertiggestellten Fabriken wie bei Gillette in Lodz wurde sogar noch Anfang Dezember in großem Umfang eingestellt.

[14] Wenn eine Firma mehr als 20 Beschäftigte oder mehr als 10 Prozent ihrer Belegschaft entlässt, muss sie beim Kreis-Arbeitsamt eine ’Gruppenentlassung« anmelden.

[15] Zum Vergleich: die bisher größte Welle von Gruppenentlassungen ereignete sich während der »Schocktherapie« zwischen 1991 und 1994. 1992 waren es über 600.000.

[16] Ungarn erhöhte am 22. Oktober den Leitzins um 3 Prozentpunkte auf 11,5 Prozent, Island am 28. Oktober um 6 Prozentpunkte auf 18 Prozent.



aus: Wildcat 83, Frühjahr 2009



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