Wildcat Nr. 77, Sommer 2006, Fankurven und Vorstädte



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Fankurven und Vorstädte
Linke Snobs und radikale Rechte


Emilio Quadrelli (Genua)



Nach den Vorfällen der letzten Zeit kann niemand mehr einen Zweifel daran haben, dass die meisten Fankurven in den italienischen Stadien immer fester in der Hand der radikalen Rechten sind. Das ist eine Tatsache. Und von ihr müssen wir ausgehen, wenn wir - politisch und nicht moralisch - ein Phänomen angehen wollen, das sich seit einiger Zeit vor allem in den verschiedenen Peripherien der Großstädte ausbreitet, das aber nur dann zur Kenntnis genommen wird, wenn es in den Medien physisch sichtbar wird. Erst wenn Hakenkreuze oder Keltenkreuze auftauchen oder in den Stadien mit dem Holocaust gefl irtet wird, kriegen viele einen Schreck, so als erlebten sie ein Remake von Invasion der Körperfresser als Invasion der Ultrà- Brigaden [1], und dabei vergessen sie so einiges.

Erstens sind diese Leute ja nicht vom Himmel gefallen, sondern führen auch außerhalb des Stadions ein soziales Leben mit den Werten, die sie in der Fankurve zum Ausdruck bringen. Ihr Nazi - «Lebensstil» ist nichts rein Symbolisches und Improvisiertes im Karneval der Fankultur, sondern ein totaler und in vielen Fällen totalisierender «Lebensstil » im Alltag.

Zweitens müssen wir feststellen, dass sie auch in gesellschaftlichen Bereichen, die nicht unbedingt zur radikalen Rechten gehören, mühelos Konsens und Legitimation fi nden. Um nur die Situation in Rom zu nehmen, sei an das Lokalderby mit dem toten Kind erinnert. Einige extreme Flügel der Fan - Gruppen [2], von denen die «Zuständigen» meinen, sie hätten mit dem Rest der Zuschauer nichts zu tun, hatten ein Gerücht in Umlauf gesetzt, das aber sofort für das gesamte Stadion zur wahren Wahrheit wurde. Im Kern war es der Vorwurf, die Ordnungskräfte hätten im Verlauf der Knüppeleien vor dem Spiel ein Kind getötet. Das Dementi der Polizeiführung und der höchsten kommunalen Autoritäten wurde (sowohl von Lazio- wie von Roma- Fans) mit einem ohrenbetäubenden und lang andauernden Chor «infami, infami» [3] quittiert, was keinen Raum für allzuviele Interpretationen ließ, sondern zeigte, dass das ganze Stadion bei der Wahl zwischen der institutionellen Wahrheit und der illegitimen Wahrheit von «kleinen Gruppen» «gewaltbereiter Fans» keine größeren Zweifel hatte, auf welcher Seite es stand. Und wir könnten noch an viele andere Geschichten erinnern. Es scheint also zumindest legitim, sich einige Fragen zu stellen. Da die «Extremisten in den Stadien» keine Aliens sind, kommen sie nicht aus dem Weltraum, sondern leben in Stadtgebieten, die sich nicht allzu schwer ausmachen lassen: in den Peripherien. Das müsste für die Linke doch ein Problem sein. Warum sind die traditionellen städtischen Räume der Linken [4] plötzlich zum idealen Nährboden für die radikale Rechte geworden? Warum können «Kultur» und «Lebensstile» der «schwarzen Subversion » in einem Großteil der Stadien und in geringerem Maß in den Peripherien der Städte hegemonial werden? Vielleicht gibt es tiefgehende Erklärungen, für die man einen besonders scharfen Blick braucht, aber einiges kann man auch schon von der «Oberfl äche» aus sagen. Wir brauchen nur durch eine beliebige Peripherie zu laufen, um festzustellen, wie trostlos es dort aussieht, was ohne langes Drumherumreden zu bestätigen scheint, dass niemand diese Gebiete interessant oder attraktiv fi ndet, sondern sie etwas zu hastig und im Zuge gerade angesagter Soziologismen der Welt der Nicht- Orte zugeschlagen worden sind.

Die schlichte Tatsache, dass dort Millionen von Menschen leben, wird bestenfalls als bloß lästig, als einfaches Überbleibsel oder als ungewollte Nebenwirkung der Postmoderne wahrgenommen. Aber was ist denn so wenig vorzeigbar an den Bewohnern der Peripherien? Was haben sie sich zuschulde kommen lassen, dass sie das Kainsmal einer untilgbaren Erbsünde tragen? Offensichtlich so einiges! Wenn sie arbeiten, machen sie niedrig qualifi - zierte Handarbeit, völlig unwesentlich, ob «produktiv » oder «unproduktiv», wenn sie nicht arbeiten, dann nutzen sie das nicht, um den so angesagten Bereich der «Post-Arbeit» zu bereichern, sondern sinken in die schlichteste Arbeitslosigkeit hinab und machen damit unnötigerweise noch einmal deutlich, wie sehr sie das «20. Jahrhundert» mit sich herumschleppen. Aber diese an sich schon veraltete und nicht vorzeigbare Situation reicht ihnen noch nicht. Nicht wenige von ihnen machen illegale Sachen. Aber auch dabei zeigen sie wenig Zugehörigkeit zur Welt von heute. Statt sich wenn schon nicht ehrbaren, dann zumindest trendigen illegalen Aktivitäten wie z.B. dem Hacken zu widmen, klauen, rauben und dealen sie usw. usf. Kurz gesagt gelingt es ihnen überhaupt nicht, kognitarisch oder immateriell [5] zu werden, nicht einmal als Verbrecher. Und wenn sie wie so häufi g zusammen mit ein paar Millionen anderen in den «Blaumann» steigen und jeden Tag dem Kapital auf dem Spielfeld des «Arbeitstages» gegenübertreten und sich dabei vielleicht einbilden, sie spielten noch eine wenn nicht historische, so doch gesellschaftliche Rolle, dann eilt der gerade angesagte neue Philosoph herbei und erklärt ihnen, dass sie sich nicht aufregen sollen, denn falls es ihnen noch nicht aufgefallen ist, sie existieren gar nicht mehr. Und nicht nur das! Die Suche nach einer starken Identität sei nicht nur historisch überholt, sondern objektiv reaktionär, weil sie den subversiven Gehalt blockiere, den das Zeitalter des globalen Kapitalismus, vielleicht unfreiwillig, mit sich bringt: die Epoche des Individuums. Aber um als Individuum auftreten zu können, muss man erst einmal die Möglichkeit haben, eins zu sein. Und diese Möglichkeit muss breiten Bevölkerungsschichten verboten werden. Wie bei jeder anderen großen Veränderung verlieren auch im globalen Zeitalter welche, wenn jemand gewinnt. Wenn viele, allerdings immer noch eine Minderheit, dank der Möglichkeiten, die der globale Kapitalismus bietet, sich von jeder Bindung befreien können (auch wenn diese Möglichkeit, wie Carosone [6] sagen würde, fast immer auf Mamas Handtasche beruht) und die leichte Identität des freien Individuums auf dem freien Markt annehmen, so haben die meisten doch deutlich andere Erwartungen ans Leben. Auf sie wartet nur ein Leben am Rande ohne Anfang und Ende. Und das ist die einzige klägliche «Identität», die ihnen zugestanden wird.

Was bietet die Rechte diesen Massen ohne Geschichte und ohne Zukunft? Eigentlich nicht viel. Sie versorgt sie mit einem kollektiven Klebstoff, was bestimmt abgeschmackt ist, aber besser als nichts. Vor allem bietet sie ihnen einen Feind. Nur die Eliten können mit zynischer und ironischer Distanz betrachten, welche Macht das Begriffspaar Freund/Feind auf die Welt ausübt. Für die meisten, für die aus der goldenen Welt der Individuen Ausgeschlossenen ist der Feind nach wie vor unverzichtbar, um die «festen» Umrisse der Freundschaft zu defi nieren. Kurz gesagt lenkt die extreme Rechte den Hass der Peripherien auf etwas «Konkretes». Sie bietet ihnen eine Identität und eine Hoffnung. Dass wir heute so schlecht dran sind, so der Kern ihrer Botschaft, ist die Schuld derer, die «im Zentrum » wohnen, die das Geld, die Mittel und die Macht haben und sie gegen uns einsetzen. Aber wir sind nicht mehr bereit, das zu ertragen. Wir existieren, und das werden sie bald zur Kenntnis nehmen müssen.

Historische Veränderungen beruhen immer auf einem Wir im Gegensatz zu einem Sie, aus dieser Dimension kommt man nicht heraus. Die radikale Rechte liefert den Peripherien ein maßgeschneidertes Wir, das den Hass irgendwie in eine Identität und ein Projekt verwandeln kann. Man kann natürlich einwenden, wie lächerlich und grotesk das alles ist, aber man muss dabei bedenken, dass man seine Wahl immer auf der Basis konkreter und erreichbarer Angebote trifft. Und an den Peripherien scheint es keine anderen zu geben. Ohne jedes eigene Verdienst, aus reinem Mangel an Konkurrenz hat die radikale Rechte unerwartet das Monopol auf die Peripherien in der Hand.

Dagegen hat sich die Linke seit geraumer Zeit von der Freund/Feind-Rhetorik verabschiedet und sich für «Visionen von der Welt» entschieden, in denen die Philosophie der «richtigen Gesinnung» vorherrscht. Da sie sich zudem ohne Bedenken mit der Sache der Individuen verheiratet hat, kann sie sich von den anonymen Massen der Peripherien entfernen und auf Distanz gehen. Eine snobistische Haltung, die diese Massen - wie verdreht auch immer - bemerken. Abgesehen von kleinen Beispielen wie den - von der Linken allerdings als reine Folklore betrachteten - Fußballfans in Livorno, wo die politischen Militanten keine Angst hatten, sich bei den «niederen Volksinstinkten» anzustecken, gibt es wenig Aufmerksamkeit gegenüber diesen Welten. Und was für die Fankurven gilt, gilt um so mehr für die Welt der Fitnesscenter. Auch hier hat sich der Nazi-«Lebensstil» mit Leichtigkeit breit durchgesetzt. Auch diese Welten werden von einem kaum verhohlenen Intellektualismus dem Reich des «nackten Lebens» zugerechnet, über das man sich bekanntlich keine Gedanken zu machen braucht. Die radikale Rechte hat es nicht viel Mühe gekostet, diesen Raum zu besetzen, mit dem zu beschäftigen sich lohnen würde, und sei es auch nur, um ihn zu untersuchen.

Da die Linke alles bereut, mag sie inzwischen auch keine organische Beziehung mehr mit dem «Volk» aufrechterhalten, das in den - wirtschaftlichen oder intellektuellen - guten Stuben per Defi nition nicht besonders vorzeigbar ist (und auch noch nie war). Wer sich die Mühe macht, auch nur ein bisschen Arbeit vor Ort zu machen, wird ohne Mühe feststellen, dass das Ergebnis deprimierend ist. An den Peripherien wird die Linke ohne große Unterschiede als eines der vielen Gesichter des «Zentrums» wahrgenommen, als Leute, die von außen kommen, die in der goldenen oder als golden empfundenen Welt des Dazugehörens, der Individuen, der Post-Arbeit und des Post-Sonstwas leben, die aber nichts mit denen zu tun haben, die sich jeden Tag irgendwie durchschlagen müssen.

Diese Wahrnehmung ist gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt, wenn wir uns z.B. ansehen, wie einsam die Revolte der französischen Peripherien im Herbst 2005 geblieben ist. Die größte und gewaltigste Erhebung von unten im Zeitalter des globalen Kapitalismus (wenigstens im Westen) wurde von der Linken sofort als reiner Schmerzensund Verzeifl ungsschrei der Bettler der République abgetan, um nicht zu sagen stigmatisiert. Und doch sehen trotz des nicht sehr idyllischen Szenarios viele die Dringlichkeit und die Notwendigkeit, wieder die eigenen Räume und Orte der Linken und des Antifaschismus zu besetzen. So gesehen ist es den Fans in Livorno zwar am besten gelungen, eine antifaschistische und militante Präsenz in den Stadien (und nicht nur dort) durchzusetzen, aber auch anderswo steht man ihnen (wenn auch objektiv mit geringerer Durchschlagskraft) nicht nach, was im gegenwärtigen Klima schon nicht wenig ist. Vielleicht wäre es sinnvoll - und das ist mein bescheidener Vorschlag am zum Schluss -, uns über diese Erfahrungen stärker auszutauschen und sie damit zum gemeinsamen Erbe all dieser zwar minoritären, aber in den meisten dieser Welten präsenten Versuche zu machen, für die Antifaschismus und Klassenkampf weiterhin ein unverzichtbarer Teil ihrer Existenz sind. "

Emilio Quadrelli
Andare ai resti. Banditi,
rapinatori, guerriglieri
nell´Italia degli anni Settanta
336 S., 17.50 Euro. Rom
(DeriveApprodi), ISBN 88-88738-19-3


[1] Nicht übersetzbares Wortspiel: Don Siegels Film Invasion of the Body Snatchers von 1956 heißt auf italienisch L´invasione degli ultracorpi, worin ultrà und corpi stecken, also fanatische Fußball-Fans und Corps.
[2] Gemeint sind hier die faschistischen Fan-Gruppen Irriducibili (Die Unbeugsamen - Lazio Roma) und Boys (AS Roma), die mit dieser Aktion einen Spielabbruch erzwangen und so ihre Macht im Stadion unter Beweis stellen wollten.
[3] ungefähr: »Schweine, Schweine«
[4]Die BewohnerInnen der seit den 50er Jahren rund um die Industriestädte enorm gewachsenen Arbeitervorstädte waren die Subjekte der Bewegungen in den Fabriken der 60er Jahre und der Jugendbewegung der 70er Jahre, auf die sich die linksradikalen Gruppen stützten. Die «Zirkel der proletarischen Jugend» versetzten die Bürger Mailands in Angst und Schrecken, wenn sie die Innenstädte stürmten; die «Proletarische Gegenmacht» in Rom war in Stadtteilen wie Centocelle, San Lorenzo oder San Basilio verankert. Hier fanden die großen Hausbesetzungen und später die Schulbesetzungen statt. Von dieser wesentlichen Rolle, die die Peripherien in der Geschichte der Linken Italiens spielten, ist heute nichts mehr zu spüren. Wildcat-Leser erinnern sich vielleicht an das «Autonome Kollektiv Barona»/ Mailand oder die Schilderungen der Angeklagten der Kolonne Walter Alasia («Fabrikguerilla in Mailand 1980/81» - erhältlich beim Wildcat-Vertrieb).
[5] Die Negrianer unter den Postoperaisten sehen in der «immateriellen Arbeit» den zentralen Sektor der jetzigen Phase, während Bifo (Franco Berardi/Bologna) den WissensarbeiterInnen («Kognitariat») eine zentrale Rolle in der Veränderung der Verhältnisse zuschreibt.
[6] Renato Carosone: 2001 verstorbener Liedermacher aus Neapel.



aus: Wildcat 77, Sommer 2006



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