Wildcat Nr. 75, Winter 2005/2006, S. 16–17 [w75_heinrich02.htm]



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Michael Heinrichs Einführung in die Kritik der politischen Ökonomie

Mathematischer Kapitalismus …

… romantischer Antikapitalismus

 

Michael Heinrich:
Kritik der politischen
Ökonomie. Eine Einführung.

Schmetterling Verlag, Stuttgart 2004.
234 Seiten, 10 Euro.
ISBN 3896575880

www.theorie.org

 

Das Buch von Michael Heinrich ist nun schon in der dritten Auflage. Woher kommt dieser Erfolg? Das Buch hat das Verdienst, einige nicht einfache Marx’sche Fragestellungen analytisch erneut durchzugehen wie abstrakte Arbeit, Wert und Tauschwert usw. Womöglich weckt gerade heute die Rückbesinnung auf analytische Strenge Interesse. Heinrich lädt uns ein, die Marx’schen Kategorien neu zu überdenken. Und wie für jede Geschichte gilt auch hier, dass man von vorne anfangen muss. Erste Seite, erstes Kapitel des Kapital: »Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ›ungeheure Warensammlung‹, die einzelne Ware als seine Elementarform.« (MEW 23, S. 49) Marx will die Natur der Ware und ihren historischen Charakter erklären – das ist inzwischen Stand der Marxforschung. Nicht jede geschichtliche Produktionsweise hat Waren produziert, sondern die Ware ist die Form, die das Produkt der Arbeit in einer bestimmten Produktionsweise annimmt. Bei Heinrich heißt es: »Als ›Ware‹ bezeichnet man nur etwas, das getauscht wird.« (S. 38) Daraus folgert er, dass man Güter in jeder Geschichtsepoche getauscht habe und es deshalb in jeder Geschichtsepoche auch Waren gegeben habe, wenn auch nur vereinzelt, aber erst im Kapitalismus der Reichtum die Form einer »ungeheuren Warensammlung« annehme. Bei ihm macht also der quantitative Aspekt (»ungeheure«) die kapitalistische Produktionsweise aus. Das Ungeheuer betritt die Bühne, wenn die Warenform keine Ausnahme mehr ist, sondern zur Regel wird. (S. 37)

Für Marx ist die Ware die Form, die das Produkt in der kapitalistischen Produktionsweise annimmt: sie ist die »einfachste gesellschaftliche Form, worin sich das Arbeitsprodukt in der jetzigen Gesellschaft darstellt« (Randglossen zu Adolph Wagners »Lehrbuch der politischen Ökonomie«, MEW 19, S. 369). Heinrich hingegen spricht auch in feudalen Produktionsformen von Waren. Das kommt von seiner besonderen Betonung des Tauschaktes. Hier sei der Ort der Realabstraktion und damit der abstrakten Arbeit: im Tausch fände die Abstraktion vom Gebrauchswert und vom konkreten Charakter der Arbeit statt, die die Ware produziert hat. Das heißt, überall wo Gebrauchsgegenstände getauscht werden, werden auch Waren produziert. So werden Kategorien verewigt, die nur für die kapitalistische Produktionsweise gelten.

Das Konkretum der Ware

Gehen wir nochmal zum ersten Satz des Kapital. Lassen wir Ungeheuer und Gespenster beiseite und richten den Blick auf das »Konkretum der Ware« (Randglossen …, a.a.O. S. 362). Nicht vom Begriff der Ware auszugehen, sondern von der Ware in ihrer Konkretheit, bedeutet, von sofort an den Gebrauchsgegenstand als das Produkt der konkreten menschlichen Tätigkeit zu verstehen, nicht in einer abstrakten Form, sondern in der Formbestimmtheit des modernen Arbeitsprozesses. Wir gehen nicht vom Begriff der Ware aus, sondern von der konkreten Tätigkeit, die den konkreten Gegenstand produziert: der Arbeit, die Waren produziert. Marx fasst die Ware als »konkrete gesellschaftliche Gestalt des Arbeitsprodukts« (Randglossen… a.a.O., S. 369) und entwickelt die Kategorien des Kapital – abstrakte Arbeit und Wert – aus der modernen Form des materiellen Produktionsprozesses.

Der historische Bruch, der Übergang von der Produktion und dem Tausch von Gebrauchsgegenständen zur Produktion und zum Tausch von Waren, muss erklärt werden. Solange der Wert, das heißt die gemeinsame gesellschaftliche Substanz, aus dem Tausch erklärt wird, wird diese Zäsur, die von der Warenform gekennzeichnet ist, mit übergeschichtlichen Kategorien gefüllt, die aus ihr ein Kontinuum machen. Marx hingegen denkt diesen Bruch. Er tut es zum ersten Mal im Anhang zur Ausgabe von 1867, indem er sich mit Aristoteles auseinandersetzt. Was macht eine Ware »unmittelbar austauschbar« mit einer anderen Ware: dieses gemeinsame Element ist für Marx »unterschiedslose[r] menschliche[r] Arbeit«, das heißt »wie alle andre, Waren produzierende Arbeit, dennoch Arbeit in unmittelbar gesellschaftlicher Form« (MEW 23, S. 73). Aristoteles versteht, dass man nicht tauschen kann ohne Gleichheit und dass es Gleichheit nicht ohne Kommensurabilität gibt. Er begreift, dass zwei Waren nicht aufeinander als Wertgrößen beziehbar sind, wenn es keine Wesensgleichheit gibt, aber vor dieser gemeinsamen Substanz stutzt er und sagt uns, dass so verschiedenartige Dinge nicht kommensurabel sein können. Marx betont, dass der Begriff, der Aristoteles fehlte, die »gleiche menschliche Arbeit« sei: er konnte ihn nicht ableiten, »weil die griechische Gesellschaft auf der Sklavenarbeit beruhte, daher die Ungleichheit der Menschen und ihrer Arbeitskräfte zur Naturbasis hatte«. (MEW 23, S. 74) Aristoteles fehlte der Wertbegriff. Marx fährt fort: »Das Geheimnis des Wertausdrucks, die Gleichheit und gleiche Gültigkeit aller Arbeiten, weil und insofern sie menschliche Arbeit überhaupt sind, kann nur entziffert werden, sobald der Begriff der menschlichen Gleichheit bereits die Festigkeit eines Volksvorurteils besitzt.«

Mit dieser Präzisierung können wir den Übergang zur Warenform und zum Wert als historischen Bruch verstehen. Aristoteles konnte den Wert nicht verstehen, denn das wird erst möglich, wenn der Begriff der Gleichheit die »Festigkeit eines Volksvorurteils besitzt«. Indem Marx diese historische Bestimmtheit einführt, verdeutlicht er, dass der Klassenkampf die Ebene der kategorialen Abstraktionen durchdringt. Denn die Gleichheit als Volksvorurteil fällt nicht vom Himmel, sondern ist das Resultat konkreter Kämpfe, in denen die unterdrückten Klassen die alten ständischen Herrschaftsbeziehungen und die antike Ausbeutungsform des Patriarchats in Stücke geschlagen haben. Dieser Prozess der Auflösung ist von konkreten Praxen der Befreiung und Subjektivierung der Unterdrückten vollzogen worden, die als formal freie ArbeiterInnen in das Arbeitsverhältnis zurückkehrten.

Wert, Kapital, Lohnarbeit

Indem Marx die zum Volksvorurteil gewordene Gleichheit als Voraussetzung zur Entschlüsselung der Begriffe Wert und abstrakte Arbeit aufstellt, führt er in seine Kategorien eine historische Bestimmtheit ein, die nicht nur die Zäsur der Moderne kennzeichnet, sondern auch dazu zwingt, die Kategorien des Kapital als radikal vom Klassenantagonismus durchzogen zu denken. Das Abstraktionsniveau, das für ein Verständnis von Wert erforderlich ist, kann erst erreicht werden, wenn in den realen gesellschaftlichen Verhältnisse die konkrete Arbeit als abstrakte erscheint. Diese Abstraktion findet real statt, wenn der Produktionsprozess zum Verwertungsprozess wird. Das erste Kapitel des Kapital muss mit einer Hand im fünften Kapitel gelesen werden. Das »Konkretum der Ware«, mit der das erste Kapitel beginnt, ist eine Dynamitladung, deren Zündschnur vom Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft gezündet wird. Mit der Ware zu beginnen, ist kein unschuldiger Anfang: er bedeutet, die Nichtreduzierbarkeit des Gebrauchswerts der Ware zu zeigen, eine Nichtreduzierbarkeit, die explosiv und revolutionär wird im Gebrauchswert der besonderen Ware Arbeitskraft.

Wenn Marx die Kategorien Tausch und Ware darstellt, bevor er denVerwertungsprozess behandelt, tut er das möglicherweise aus dem Geist eines Systems heraus, von dem er sich noch nicht emanzipiert hatte, aber er tut es auch, weil er mit der Ware als realem Ausgangspunkt die logischen Kategorien von der konkreten warenproduzierenden Tätigkeit aus erklären kann. Und diese Tätigkeit ist die Lohnarbeit.

Abstrakte Arbeit

Der Begriff abstrakte Arbeit ist also, was auch Heinrich betont, nicht das Ergebnis einer gedanklichen Abstraktion und schon gar keine anthropologische Konstante der menschlichen Tätigkeit, sondern sie ist erfassbar durch eine Optik, deren Brennpunkt der Klassenkampf ist. An den Kategorien des Kapital liegt immer »elektrische Spannung« an, deren Pole die Ausbeutung und der Klassenkampf sind. Genau diese Spannung zwingt den historischen Materialisten dazu, abstrakte Arbeit und Verwertungsprozess zusammen zu denken. Wenn Heinrich stattdessen die Abstraktion in die Sphäre des Tauschs verlegt, entführt er die Kategorien der kapitalistischen Produktionsweise in eine neutrale Gespenstigkeit. Dann kann er nicht nur den geschichtlichen Inhalt der Kategorien, sondern auch die Konkretheit des Klassenkampfs in Klammern setzen.

Während bei Marx der Klassenkampf die Kategorien durchzieht und ihren historischen Inhalt ausdrückt, kann bei Heinrich der Klassenkampf da sein oder ausgeblendet werden oder von außen eingeführt werden. Heinrich betont richtigerweise, dass der kapitalistische Produktionsprozess die Einheit von Produktion und Zirkulation ist und dass »die Wertgröße […] vor dem Tausch noch nicht bestimmt« ist. (S. 53) Gegen eine moralisierende Lesart betont er auch die Natur des »automatischen Subjekts« im Kapital. Aber so wie er seine Kategorien ausgehend vom Tausch und der Abstraktion entwickelt, fällt er selbst in eine moralische oder romantische Kritik des Kapitalismus zurück: Der ungeheure Mechanismus, der Verwertungsprozess als automatisches Subjekt, enthülle heute wie nie zuvor seine ihm innewohnende zerstörerische Natur: Die Kritik des Kapitalismus wird zur Kritik des »destruktiven Potentials kapitalistische[r] Produktivkraftentwicklung« (wie die Überschrift von Kapitel 5.4 lautet). Das Kapital als Prozess, dessen einziger Zweck die Verwertung ist, habe ein nihilistisches Wesen, für das Mensch und Natur nur Mittel seien: die Kritik der kapitalistischen Produktionsweise ist die Kritik ihrer »immanenten Destruktivität« (S. 129 und S. 153). So formt sich ein romantischer Antikapitalismus. Marx im Schwarzwald. Gegen diesen Nihilismus des Kapitals sind die verschiedensten Kampfformen gleich gut. Diese Allgemeinheit zwingt nicht dazu, durch die Hölle der produktiven Arbeit und des Arbeiterantagonismus zu gehen; und das mag ein weiterer Grund für die Faszination sein, die das Buch von Heinrich ausübt.

Max (übersetzt aus dem Italienischen)

 


 

Literatur

Karl Marx:
Das Kapital, Band I (1867)
in: Marx-Engels-Werke, Band 23

Randglossen zu Adolph Wagners »Lehrbuch der politischen Ökonomie«, (1880)
in: Marx-Engels-Werke Band 19



aus: Wildcat 75, Winter 2005/2006



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