Wildcat Nr. 74, Sommer 2005, S. 52–53 [w74_wright.htm]



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Arbeitsprozess und operaistische Theoriebildung


Steve Wright, Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus
Hamburg – Berlin 2005, (Assoziation A), SBN 3-935936-24-9, 280 Seiten, 18 Euro


Im Mai 2005 ist mit Den Himmel stürmen von Steve Wright die erste umfassende Darstellung der operaistischen Theoriebildung auf Deutsch erschienen. Neun Kapitel spannen den Bogen von den Anfängen der Arbeiteruntersuchung in Italien Ende der 50er Jahre bis zum »Niedergang des Operaismus« Ende der 70er, ein kurzes »Schluss«kapitel und ein Nachwort für die deutsche Ausgabe resümieren Stärken und Schwächen des Operaismus.

Steve Wright behandelt die operaistische Theorie des Klassenkampfs anhand ihrer Texte. Mit großer Übersicht stellt er Erkenntnisse und Durchbrüche des Operaismus spannend dar:

Planstaat (S. 55-57)

Im Gefolge der deutschen Sozialdemokratie hatte Lenin eine Lesart des »Marxismus« vorherrschend gemacht, wonach Kapital und Plan sich ausschließen und der Sozialismus als wissenschaftlich organisierter Arbeitsprozess (wie Lenin ihn im Taylorismus verwirklicht sah) plus gesellschaftlicher Planung (Überwindung der »Anarchie des Marktes«) vorgestellt und propagiert wurde. Panzieri zeigte, dass die Fünfjahrespläne aus der Sowjetunion keine »sozialistische« Gesellschaft machten, in Wirklichkeit sei sie kapitalistisch und ihr »Marxismus« zu einem »apologetischen Denken« verkommen. Planung und Kapitalismus schließen sich keineswegs aus.

Maschinerie (S. 52-54; auf S. 54 auch wichtige Kritiken an Panzieri)

Bereits zuvor hatte Panzieri das damals unter den meisten Marxisten vorherrschende Verständnis kritisiert, die kapitalistische Technologie sei etwas Neutrales. Was die Parteimarxisten und Gewerkschafter als »technologische Rationalität« anzuerkennen bereit waren, demaskierte Panzieri als »kapitalistischen Despotismus«, Kriegsmittel zur Niederschlagung von Arbeiteraufständen und zur Unterwerfung der lebendigen Arbeit. Der »technologische Angriff« konsolidiere die politische Macht des Kapitals, gleichzeitig stärke er aber auch die potentielle Macht des Gesamtarbeiters. Erst mit diesem theoretischen Durchbruch überwanden die Quaderni Rossi (trotzkistische) Vorstellungen wie »Arbeiterkontrolle« der Fabriken usw. Der qualitative Sprung wird deutlich, wenn man die Untersuchung bei Fiat mit der Untersuchung bei Olivetti vergleicht. [»Organische Zusammensetzung des Kapitals und Arbeitskraft bei Olivetti«; siehe http://www.wildcat-www.de/thekla/05/t05_oliv.pdf] Indem die Untersuchung den Antagonismus im Arbeitsprozess bis in seine Verästelungen verfolgt, erfasst sie die technische Zusammensetzung der Arbeiterklasse in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit: die ArbeiterInnen sind gleichzeitig Subjekte und gefangen in ihrer Atomisierung.

die Klasse ist Teil des Kapitals (S. 56-70)

Bei Fiat (»Die neuen Kräfte bei Fiat«) hatte Alquati noch nach der kollektiven Arbeiterintelligenz gesucht, welche die Produktion selber leiten kann. Erst bei der Olivetti-Untersuchung hatte er die Begrifflichkeit der »technischen Zusammensetzung der Arbeiterklasse« zur Verfügung und untersuchte nun die Verhaltensweisen der ArbeiterInnen, die offizielle Vorschriften übertreten (müssen), um den Arbeitsprozess überhaupt bewältigen zu können. Anhand dieses Widerspruchs ging er der Frage nach, wie die ArbeiterInnen die ihnen vom Kapital aufgezwungene produktive Kooperation umdrehen und als ihre eigene, kollektive Macht erkennen können.

Arbeiteruntersuchung

Den Begriff Klassenzusammensetzung macht Steve Wright zum roten Faden des Buchs. Leider hat Negri seit den 70er Jahren diesen Begriff als eine Art Dietrich bekannt gemacht, mit dem die Intellektuellen gleichsam magischerweise befähigt wären, aus der technischen eine politische (Neu-) Zusammensetzung »herzustellen«. Der größte Fehler des Operaismus ist sicherlich in dieser Avantgarde-Konzeption zu suchen, die zur »bewaffneten Partei« verlängert wurde. Sergio Bologna kritisierte 1979, dass »der primäre Bezugspunkt von … Potere Operaio immer die bewaffnete Partei war und weniger die Zusammensetzung der Klasse« (im Buch zitiert S. 158).

Steve Wright tendiert aber dazu, diesen Fehler zu entschuldigen und als »offensichtlichen Mangel« des Operaismus dessen »zu engen Blickwinkel auf den ›unmittelbaren Produktionsprozess‹ (Marx) als entscheidendes Terrain der Erfahrungen und Kämpfe der Klasse« hervorzuheben. Das hängt damit zusammen, dass er die politischen Erklärungen für bare Münze nimmt – und auf die Untersuchung des Arbeitsprozesses gar nicht eingeht. Er führt die beiden Untersuchungstexte von Alquati auf 13 Seiten kenntnisreich ein (S. 57-70), behandelt aber lediglich ihre theoretischen Implikationen und Grenzen. Logisch in einem Buch, das die Theoriegeschichte des Operaismus behandelt. Damit bleibt der Begriff Klassenzusammensetzung nebulös, und bei seinem Versuch, ihn für die heutige Praxis zu aktualisieren, bohrt Steve Wright die Begriffe theo–retisch so weit auf, dass sie ihren Gehalt verlieren (etwa die Behauptung, Mehrwert könne auch außerhalb der Produktion erzeugt werden – S. 147).

Zur Analyse von Arbeitsprozessen ist der Ansatz »Klassenzusammensetzung« nach wie vor unübertroffen (nicht nur von Fabrikarbeitsprozessen, die OperaistInnenen haben sich schon Anfang der 70er mit Angestelltenarbeit, Technikerarbeit, Tertiarisierung und Hausarbeit beschäftigt!). Das möglich gewordene neue Verhältnis zwischen Theorie und Praxis ist der wichtigste Bruch des Operaismus mit der offiziellen Arbeiterbewegung, die sich die Beziehung zwischen den die Theorie verkörpernden Intellektuellen und der Arbeiterklasse nur auf der Ebene des Apparats oder der Ebene des Bewusstseins vorstellen kann. Aber es war immer umstritten, wie sich diese Möglichkeit in revolutionäre »Politik« umsetzen lässt. Quaderni Rossi selber zerfiel diesbezüglich schnell in mehrere Fraktionen; einige gingen in die (1) KP zurück, andere arbeiten (bis heute!) für die (2) Gewerkschaften, wieder andere sehen die eigene Rolle als (3) »Briefträger für die ArbeiterInnen«. Potere Operaio, laut Steve Wright »buchstäblich die Verkörperung des klassischen Operaismus« (S. 144), verkehrte wesentliche »operaistische« Erkenntnisse ins Gegenteil und ging als (4) ultra-leninistische Organisation völlig an den Kampfformen und Bedürfnissen der damaligen Klassenzusammensetzung vorbei. Im Buch wird auch mit (5) Negris Abenteurertum in den 70er Jahren abgerechnet, der im Kostüm von Klassenzusammensetzung (»gesellschaftlicher Arbeiter«) seine Träume als Wirklichkeit ausgab.

1), 2), 4), 5), die vielen Parteiaufbauer der 70er Jahre und die heutigen »widerstandsebenenübergreifenden Netzwerke« haben mindestens einen Punkt gemeinsam: sie stellen sich die Emanzipation der Menschheit als das kontinuierliche Anwachsen der eigenen Organisation vor. Helmut Höge formulierte in der jungen Welt vom 3. März 2005: »ein Klein-Werden schaffen! Mit dieser französischen Formel war einmal zweierlei gemeint: Zum einen sollten die Aktivistengruppen nicht ständig danach trachten, größer zu werden, und zum anderen sich bemühen, ihre sozialen Zusammenhänge dergestalt zu erweitern, dass sie darin aufgehen, um tendenziell sogar zu ›verschwinden‹, d. h. sich schließlich mit nahezu jedem identifizieren zu können.« Mit dem Instrumentarium der »Klassenzusammensetzung« ließe sich diese »französische Formel« als revolutionäre Klassenpolitik buchstabieren – »Politik« im traditionellen Sinn aber wahrscheinlich gar nicht machen; und das ist auch gut so!

Die Grundgedanken des Operaismus: Kritik der kapitalistischen Maschinerie; solange es Ausbeutung gibt, liegt der wesentliche Antagonismus im Arbeitsprozess; militante Untersuchung der Klassenzusammensetzung; Kritik aller Institutionen … gehörten zum Handgepäck aller revolutionären Generationen seither. Und diese haben jede Menge Erfahrungen dazu beigetragen, wie sich das etwas beamtenmäßige von 3) ebenfalls kritisieren und überwinden lässt.

Von einigen Übersetzungsfehlern abgesehen, haben die HerausgeberInnen der deutschen Ausgabe gute Arbeit geleistet, unter anderem haben sie ein kleines Glossar angefügt und erklären die wichtigsten Begriffe und Zusammenhänge in Fußnoten. Sie verweisen nicht nur auf die bereits auf Deutsch vorliegenden Texte, sondern haben hin und wieder die damalige Übersetzung auch zu »überarbeiten« versucht (es gibt viel mehr operaistische Texte auf Deutsch als auf Englisch; sie wurden allerdings zu Beginn der 70er meist sehr hastig und schematisch übersetzt, deshalb ist dieser Versuch sinnvoll).

Steve Wright widerspricht explizit einer Interpretation seines Buchs ›militante Untersuchung war zu Zeiten des Massenarbeiters richtig, funktioniert aber heute nicht mehr‹. Genau das Gegenteil habe er sagen wollen. Darüber hatten wir bereits in der Wildcat 70 diskutiert (»Storming Heaven Part I«). – und an diesem Punkt wollen wir im nächsten Heft in den zweiten Teil des Interviews einsteigen. Bis dahin solltet Ihr alle das Buch lesen. Anfuttern könnt Ihr hier und hier findet Ihr weitere Texte zum Thema.

jaa



aus: Wildcat 74, Sommer 2005



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