Wildcat Nr. 71, Herbst 2004, S. 8–9 [w71_montags.htm]


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Wir waren das Volk

(Transpi auf einer Leipziger Montagsdemo)

Während Arbeitsloseninitiativen, Sozialforen und diverse Bündnisse sich über Monate auf einen Heißen Herbst vorbereiteten, begannen mitten im Sommerloch in ostdeutschen Städten Montagsdemos gegen die Sozialreformen. Zigtausende gingen Woche für Woche auf die Straße. Was in Magdeburg als kleiner Umzug begonnen hatte, wuchs schnell an – und schrumpfte im September ebeso schnell zusammen als deutlich wurde, dass die Regierung nur kosmetische Korrekturen an Hartz IV vornehmen würde. Bisher ist nicht ausgemacht, ob die Montagsdemos der Auftakt zu einer allgemeinen Bewegung gegen den Angriff auf das proletarische Reproduktionsniveau waren, oder ob sie in die Sackgasse einer ostdeutschen Selbstverständigung münden.

Der Angriff

Hartz IV markiert einen Paradigmenwechsel. Mehr als jede andere Regierungsmaßnahme geht die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe an eine der Wurzeln der gesellschaftlichen Organisation des deutschen Kapitalismus. Taktisch ungeschickt, dass Hartz, als Personalmanager von VW, im Herbst 2004 auch für den Angriff auf die Standards in der Industrie steht.

Durch den Wegfall der Arbeitslosenhilfe werden alle spätestens nach einem Jahr Arbeitslosigkeit auf das selbe Niveau gedrückt. Die Anwendung des »Bedürftigkeitsprinzips« bedeutet, dass die Lebensverhältnisse der Arbeitslosen und ihrer Angehörigen ausgeschnüffelt werden (parallel dazu wurde das Aufspüren von Schwarzarbeit durch den nun waffentragenden Zoll massiv intensiviert). Damit sollen die »unklaren Ressourcen« ausgetrocknet werden, mit denen viele Arbeitslose noch ganz gut über die Runden kommen konnten. Das Abschaffen der Arbeitslosenhilfe soll genügend Druck aufbauen und sparen (sie schätzen, dass 600 000 Leute sofort aus dem Leistungsbezug rausfliegen).

Der frühere Sozialminister Blüm, ein Hartz IV-Gegner, warnt davor, dass damit »uralte Gerechtigkeitsvorstellungen« verletzt würden. Nach zwanzig oder mehr Jahren in der Fabrik war bislang garantiert, dass man im Fall der Arbeitslosigkeit und im Alter ein Auskommen hatte, das sich am letzten Arbeitseinkommen orientierte, und sogar an die Lohnsteigerungen in der Industrie angepasst wurde. Mit dem Wegfall bricht eine der legitimatorischen Säulen des »rheinischen Kapitalismus« weg; der soziale Frieden in diesem Lande basierte auch auf der dauerhaften Trennung der Kernarbeiterklasse von den Sozialhilfeempfängern.

Hartz IV demütigt die Leute. Ihr Einkommen wird auf die Grundbedürfnisse zusammengestrichen, manchen wird es sogar ganz entzogen, so dass sie dauerhaft finanziell von ihren EhepartnerInnen abhängig werden. Zweites kann die Sachbearbeiterin jeden ALG-Bezieher bei Drohung der Einkommensstreichung dazu zwingen, eine putzige Uniform anzuziehen und im Park den Müll zusammenzulesen. Dafür bekommt er dann ein »Almosen« von einem Euro extra die Stunde. Diese Kränkung geht tiefer als Politikverdruss.

Für den Osten, wo sich 15 Jahre nach der Wende nur wenige hochproduktive Inseln aus einem Meer der Stagnation und Arbeitslosigkeit erheben, heißt Hartz IV Ende der Fahnenstange; der Aufbau ist zuende, mehr gibt's nicht! Abwandern oder arbeitslos auf unterstem Reproduktionsniveau.

Wer geht auf die Straße

Die Montagsdemos waren nicht von SPD und Gewerkschaften organisiert (um auf einen Regierungswechsel hinzuarbeiten, wie im Januar 1998) und nicht vom DGB finanziert (wie am 3. April 2004). Weder der Copyright-Anspruch einiger ehemaliger DDR-Bürgerrechtsler auf die Marke »Montagsdemo« noch die Hetze von DGB-Chef-Sommer, die Organisatoren seien eine Front aus PDS und NPD, konnte die Leute davon abhalten, montags ihre Wut verbal rauszulassen. Und die kam recht derbe rüber: »Abschießen, das Dreckschwein!«, »Clement in den Tagebau; Schröder in die Produktion – aber zum Hungerlohn!«

Nach 14 Jahren des Vertröstens haben die Leute die Schnauze voll: sie glauben einfach nichts mehr, und die Demos waren eine Möglichkeit, das öffentlich und offensiv zu machen. Eine wütende Leipziger Rednerin: »Wir wählen diese Schweine einfach nicht mehr. Wir sind selbst genug. Wir wählen das nächste mal uns selbst!« Hier sprechen keine VertreterInnen. Hinter den Demos in Leipzig, Magdeburg, Senftenberg oder Stralsund steckt nicht der Apparat von DGB oder PDS, sondern die kleinen, lokalen Sozialforen, Leute von der Basis, Gruppen, die schon Anti-Kriegs-Demos organisiert haben, lokale Gewerkschaftsaktivisten bzw. PDS-Mitglieder, anderswo werden Leute aktiv, die bisher noch gar nicht in Erscheinung getreten sind. Entsprechend uneinheitlich sind auch die Demonstrationen, aber in ihrer großen Mehrheit waren es im Osten »ganz normale Leute«, es waren »proletarische Demos«.

Wer zu spät kommt…

In allen westeuropäischen Ländern wurden in den letzten Jahren die Rentengesetze reformiert und die Einkommen der Arbeitslosen gekürzt. Im Gefolge der Wiedervereinigung hat die sehr hohe und regional konzentrierte Arbeitslosigkeit im Osten verhindert, dass diese Einschnitte in der BRD schon in den 90er Jahren angepackt werden konnten. Die jetzigen Angriffe sind sozial unausgewogen, volkswirtschaftlich kurzschlüssig – und können nicht durch das Versprechen, Jobs zu schaffen, legitimiert werden. Selbst konservative Wirtschaftstheoretiker sehen diese Schräglage bei Hartz IV. Denn zur Rechtfertigung solch scharfer Einschnitte ist die glaubwürdige Versicherung vonnöten, dadurch wäre »Vollbeschäftigung« erreichbar. Kurz vor der Bundestagswahl 2002 waren Hartz und Schröder tatsächlich mit der Ankündigung vor die Presse getreten, ihr Programm würde zur Halbierung der Arbeitslosigkeit führen! Die Entwicklung im Osten widerlegt aber alle Behauptungen, durch Niedriglohn und Flexibilität würden Arbeitsplätze entstehen. Inzwischen ist klar geworden, dass sich ganze Generationen als working poor in Minijobs und Zwangsarbeitsprogrammen wiederfinden oder bis zur Rente arbeitslos sein werden. Selbst die Regierung ist von ihrer der Behauptung abgerückt, Hartz IV würde Jobs schaffen.

… muss mit Montagsdemos rechnen

Die Erosion der sozialdemokratischen Basis ist in vollem Gange. Die Wahlalternative mobilisiert viele Leute und könnte von der Zusammensetzung her die erste »Arbeiterpartei« in der BRD werden. Wie ausgezehrt die politische Klasse in der BRD ist, konnte man im August live erleben. Politiker zofften sich quer zu ihrer Parteizugehörigkeit bzgl. des richtigen Umgangs mit den Demos, Sachsens Ministerpräsident, der die Gesetze mit verabschiedet hat, wollte sich am liebsten in den Demonstrationszug einreihen, und die DGB-Führung hatte Angst davor, zur Teilnahme an den Demonstrationen aufzurufen. Die Nerven lagen blank, Schröder drehte fast durch wegen ein paar Eiern … Die einfachsten Formen von kritischem Dialog (nämlich überhaupt zu versuchen, sich bemerkbar zu machen) und demokratischer Meinungsbildung wurden mit drohendem Zusammenbruch der Ordnung gleichgesetzt und als »Gewalt« diffamiert. Dieses Erschrecken der gesamten »politischen Klasse« hat die Demos weiter ermutigt und anschwellen lassen. Als Schröder sich im September dann mit DGB-Chef Sommer traf, um die Durchführung von Hartz IV zu bereden, hatte das etwas Gespenstisches. Denn Schröders Agenda-2010-Rede vom Frühjahr 2003 war der bewusste Bruch mit dem bisherigen korporativen Modell gewesen: Gewerkschaften und SPD-Untergliederungen wurden vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen, um den Angriff nicht auf bewährte Art zu verwässern. Der DGB war bis zuletzt ängstlich darauf bedacht, nicht zu den Montagsdemos aufzurufen … wie soll er jetzt was integrieren und kontrollieren können?

Grenzen…

Die Leute gingen im August massenhaft auf die Straße, um ihre Wut auszudrücken und ließen sich von der Medienhetze nicht beeindrucken. Die Demos waren ein spontaner Ausbruch und als solcher unberechenbar für die Politiker. Das war ihre wichtigste Stärke. Ihre größte Schwäche war, dass zu wenig selbstorganisierte Strukturen entstanden waren, als sich die Organisatoren im September in die Rolle drücken ließen, Vorschläge zu machen.

Natürlich hat Lafontaine bei seiner Rede in Leipzig verschwiegen, dass er als Finanzminister sofort nach der Regierungsübernahme 1998 Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammen legen wollte. Stattdessen trug er eine volkswirtschaftliche Kritik an Hartz IV vor: Es sei ökonomisch unsinnig, alle Lasten auf die ArbeiterInnen und Arbeitslosen abzuwälzen, solange es keine neuen Jobs gibt. Lafontaine will erst den Aufschwung und dann den Arbeitszwang. Und er kann damit an den gemeinsamen Nenner des Protests andocken: »Arbeit statt Hartz IV« – keine Kritik des Kapitalismus, sondern der Wunsch, er möge funktionieren.

Im Westen gab es auch deswegen nie eine Arbeitslosenbewegung, weil gar nicht alle »Arbeit« woll(t)en, weil gerade die politisch aktive Minderheit der »Erwerbslosen« die »Staatsknete« als eine legitime Form von Einkommen behandelt(e). Im Osten hingegen wird Arbeit vor allem als Teilhabe an der Gesellschaft, Arbeitslosigkeit als Ausschluss davon begriffen. Was die großen Demos im Osten möglich macht, ist gleichzeitig (noch?) ihre Schranke. Doch wenn es als Belohnung für die »Arbeit her!«-Rufe jetzt 600 000 Ein-Euro-Jobs gibt, erledigt sich vielleicht endlich die dumme Losung »Hauptsache Arbeit!«. Die Ein-Euro-Zwangsjobs werden verdammt, so hatte man es schließlich nicht gemeint.

Hier fallen aber die vermeintlichen Bündnispartner Wohlfahrtsverbände den HartzIV-GegnerInnen in den Rücken. Nachdem sie monatelang die Kürzungen kritisiert hatten, sofern sie ihre Klientel (und damit ihre Einnahmen) betreffen, entdeckten sie dann im Sommer die andere Seite der Reform: sie können mit Hilfe der Ein- oder Zwei-Euro-Jobs tausende Stellen billig besetzen. In den Worten des Pressesprechers der Arbeiterwohlfahrt: man müsse Hartz IV eine Chance geben, schließlich gehe es um die Schaffung von Arbeitsplätzen. Zwischenzeitlich ist die AWO schon mal aus dem Bundesmanteltarifvertrag ausgestiegen…

… überwinden?

Die Mehrheit der MontagsdemonstrantInnen hat die Notwendigkeit »zu sparen« nicht prinzipiell in Frage gestellt – nur eben nicht bei den Arbeitslosen, den Rentnern usw. Mit Diskussionen über gerechtes/ungerechtes Sparen droht die Bewegung gegen die Hartz-Gesetze sich in ihr Gegenteil zu verkehren. Was dem Regierungsprogramm mit seiner Zerstörungswut fehlt, ist ein positiver Entwurf, eine Art neuer Gesellschaftsvertrag, der der kapitalistischen Produktionsweise und dem Staat neue Legitimität verschaffen könnte. Über einen solchen Entwurf aber wollen die Kritiker gern in ein sachliches Gespräch kommen. Forderungen nach einem Existenzgeld von 1000 oder mehr Euro werden in dieser Auseinandersetzung nicht mehr sein als Beiwerk der Ausgestaltung eines neuen Modells kapitalistischer Verwertung. Allzu krasse »Ungerechtigkeiten« am Gesetz werden korrigiert, und mit einigen kosmetischen Veränderungen, wie dem Vertrauensschutz für die über 58jährigen, wird Hartz IV dann durchgesetzt…

Auch die Parole, Geld sei genügend da, man müsse es nur anders verteilen, ist nur scheinbar radikal und schlägt aus dem Protest – ganz auf der Linie von Lafontaine – Legitimation für den Kapitalismus. Sie verschweigen den eigentlichen Skandal der kapitalistischen Verwertung: der Arbeiterklasse soll es schlechter gehen, weil ihre Arbeit produktiver geworden ist. Mit Vernunft hat das nicht viel zu tun, mit Ökonomie schon. Weil wir mit immer weniger Arbeit immer mehr produzieren können, sollen wir den Gürtel enger schnallen und mehr arbeiten. Alle Proteste des Inhalts »Sparen Ja, aber nicht bei uns!«, alle Vorstellungen von »gerechterer Verteilung« befördern diesen Mechanismus und helfen dabei mit, die ArbeiterInnen weltweit gegeneinander in Konkurrenz zu setzen, machen ihn zu einem Naturgesetz. Wenn in China die Produktivität steigt, was sollte daran schlecht sein? Prima für alle – weniger Arbeit, mehr Zeit, ein besseres Leben. Nur in einer Welt, in der die Teilhabe am Reichtum an die Verausgabung der eigenen Arbeitskraft (oder die Verfügung über fremde) gekoppelt ist, kann das ein Problem sein. Wenn wir arbeitslos sind, fehlt uns nicht die Arbeit, sondern die Möglichkeit, all die Dinge zu tun, die wir gern tun würden. Sich bewegen (Öffentlicher Nahverkehr), verreisen (Bundesbahnpreise), ins Konzert oder Kino gehen, bis hin zu den Maschinen, die wir brauchen, um die Welt zu machen, »wie sie uns gefällt«…all das ist noch immer an Geld gebunden.

Und die radikale Linke?

»Überall wurden uns im August die Flugis aus der Hand gerissen: in den Demos, von PassantInnen, vor Arbeitsämtern«, erzählen alle. »Wir hätten noch mehr los werden können; die Leute wollten was wissen«.

Als größte Grenze der Demos empfinden die allermeisten Beteiligten natürlich, dass viele zehntausend Menschen auf der Straße »nichts ändern können«. In anderen Ländern haben wir in den 90er Jahren bereits erlebt, dass wesentlich größere und radikalere Mobilisierungen die Angriffe auf den Sozialstaat nicht abwenden konnten. Diese offensichtliche Machtlosigkeit demoralisiert. Das kann die Hoffnung auf den starken Mann schüren, oder Bedarf nach politischer Repräsentation wecken, es kann aber auch dazu führen, dass die richtigen Fragen gestellt werden.

Die Nazis halten wir für die kleinere Gefahr. Sie können zwar in einigen Städten offen auftreten, und sie haben einfache und häufig radikalere Antworten auf die »soziale Frage« als linke Parteien. Aber bis auf ihren symbolischen Erfolg in Magdeburg, wo es ihnen einmal gelang, die Demo anzuführen, blieb ihr Einfluss marginal. Wie in Leipzig wurden Neonazis auch anderswo verbal der Demo verwiesen – ohne sie jedoch tätlich anzugreifen. In vielen Städten waren die Organisatoren unbeholfener, gaben sich betont unpolitisch, oder ließen verlauten, man wolle »niemanden ausgrenzen«. Wo Nazis selbst Anti-Hartz-Demos anmeldeten (in Wolgast als Bürgerinitiative »Schöner Wohnen Wolgast«, in Herne/Ruhrgebiet …), endete das desaströs mit wenigen Teilnehmern und unter dem Spott der Öffentlichkeit.

Die ak hoffte, die PDS könne die Demos unter Kontrolle kriegen, weil »uns« (?) sonst langanhaltende soziale Proteste von rechts drohen. Eine solche Position ist sicherlich nicht linksradikal – sie ist zudem falsch, denn das größere Problem waren die linken Vereinnahmer. Wohlmeinende Gewerkschafter oder die »Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit« begleiteten die Proteste mit allerlei Vorschlägen zur Besteuerung der Superreichen und Unternehmen, mit alternativen Konjunkturprogrammen. Die MLPD hat mit ihren offenen Mikros zunächst Einfluss gewonnen – und dann die Demos in eine offene Spaltung getrieben. Auch innerhalb der Sozialforen gab es Rangeleien und Machtkämpfe, für die die Masse der DemonstrantInnen nur das nichtsahnende Fußvolk abgeben.

Stattdessen müssen wir den Kampf vor Ort verbreitern, die alltäglichen Konflikte auf den Ämtern ermutigen und politisieren, Selbstorganisierungsprozesse von unten befördern. Der Protest muss andere Ausdrucksformen finden, die den vorgegebenen Rahmen sprengen, er muss phantasievoller und direkter werden. Wir dürfen auf keinen Fall drei Monate mit der Vorbereitung auf den »Agenturschluss« verplempern. Arbeitsagenturen kann man auch jetzt schon besetzen, man kann Enteignungsaktionen in Nobelgeschäften durchführen, das Schwarzfahren und proletarische Einkäufe organisieren. Und vor allem: weg mit dem Größenwahn, »wir« könnten mit ein paar Demos »Hartz kippen«! Das Mobilisieren auf Großereignisse wie den 2. (oder 3.) Oktober befördert den Dialog mit den Herrschenden. Warum gehen die Demos nicht mal zu den Betrieben, wenn Schichtschluss ist?

Es gibt ein breites soziales Unbehagen. Es gibt Wut und Hass in den Betrieben. Aber bisher bleiben die Leute in ihren Rollen, sind streikende Studis, wütende Arbeitslose, KriegsgegnerInnen, ArbeiterInnen, die sich gegen Lohnsenkungen oder Ausweitung der Arbeitszeiten wehren. Ab und zu wurden aber schon kleinere Betriebsdelegationen auf Montagsdemos gesichtet. Dauerbeschäftigte ArbeiterInnen interessieren sich für die Arbeitslosen, weil sie tendenziell auch betroffen sind. Und die allgemeine Empörung über Hartz IV hat im Juli auch zur Mobilisierung der Daimler-ArbeiterInnen beigetragen. Hier sollten wir ansetzen. Politisierungs- und Selbstorganisierungsprozesse von unten anregen. Das Betätigungsfeld war schon seit vielen Jahren nicht mehr so groß und so vielversprechend.




Der Anfang: Magdeburg 26. Juli – 200 Leute; Medien und Polizei sagen 600

Obwohl im Vorfeld nahezu keine öffentliche Werbung gemacht wurde (nur in der »Magdeburger Volksstimme« war eine Kurzmeldung) und der Montagabend ziemlich verregnet war, schlossen sich zahlreiche MagdeburgerInnen spontan der Demo an.

Magdeburg 2. August – 6000 Leute

Für die Demo wurde offenbar über Mund-zu-Mund-propaganda mobilisiert, nicht über Plakate, Aufruftexte etc.. Sie begann recht gut, aber dann setzten sich ca. 80 Nazis mit zwei Transpis (»den Volkszorn auf die Straße tragen«) an die Spitze. Die Veranstalter meinten, jeder ist willkommen, der/die gegen Hartz ist.

Das Erscheinungsbild der Demonstration unterschied sich gründlich von dem der linksradikalen und gewerkschaftlichen Demos: keine Ordner, viele selbstgemalte Transparente, keine Lautsprecher, keine Kundgebung mit Reden. Stattdessen ganz normale Leute mit Fahrrädern, Kinderwagen oder in Arbeitskleidung.

9. August mindestens 40 000 Leute in ostdeutschen Städten – erstmals auch in Hamburg und Köln

15 000 in Magdeburg

Diesmal Transparente gegen Sozialabbau und Rechts, in der Demo sind keine offen rechten Transparente mehr zu sehen. Die meisten wollten vor allem einen Arbeitsplatz. Teilweise waren die Leute richtig wütig, einige drohten sogar: »Arbeit für alle, sonst gibt's Krawalle«. Egal, was für Arbeit? – die Sprechchöre »Niedriglohn und Zwangsarbeit, dafür ham' wir keine Zeit« wurden des öfteren mit Ablehnung bedacht.

Auf jeden Fall war mächtiger Frust und Wut da (ein paar Angestellte der Staatskanzlei wurden offenbar von wütenden Demonstranten am Nachhausefahren gehindert, bei der ersten Demo haben mehrere dem Anschein nach durchaus ernsthaft das Für und Wider eines Rathaussturms erörtert. Ähnliches wurde z.B. aus Köthen berichtet.)

10 000 in Leipzig

Gewerkschaften, Kirchen, K-Gruppen, Nazis, Anarchisten und andere – »Weg mit Hartz IV« ist Konsens, aber alle wollen in irgendeine Richtung weiter. Radikale Flugis werden interessiert angenommen, insgesamt herrscht aber eine dumpfe Dagegen-Stimmung.

16. August

Die erste »richtige« Montagsaktion in Duisburg. 200 Leute, die sich etwa zwei Dutzend Reden am »offenen Mikro« (lauter für MLPD-Leute, leiser für den Rest) angehört haben, was sich über eineinhalb Stunden hinzog. Danach gab es noch 10 Minuten Demo unter den Klängen des MLPD-Singekreises.

In Düsseldorf waren 650 bis 700 Leute. MLPD mit open mike, PDS mit ihrem Sozialforum, ISL, Arbeitslosen-Ini, die Antifa mit eigenem Flugi. Überraschend viele, die seit Jahren (außer Irak-Krieg) nicht mehr auf Demos waren.

Über 20 000 in Leipzig. Viele Arbeitslose, ältere Leute, aber auch ein paar ganz junge, die so gar nicht nach 'Demo' aussahen. Nicht viele eigene Transparente, keine Sprechchöre, keine Lautsprecherwagen… also mehr oder weniger ein Schweigemarsch.

In Potsdam waren ca. 500 Leute auf der Kundgebung, organisiert von der »Familienpartei« und den »Grauen Panthern«. Die PDS, DKP und der Arbeitslosenverband Brandenburg waren auch da, Faschos keine. Der Typ von den Grauen forderte eine »Volksfront« gegen die Regierung und hatte auch gleich einen sieben-Punkte-Plan zur Rettung Deutschlands – (illegale Beschäftigung von Ausländern bekämpfen, deutsche Konzerne zurück nach Deutschland…).

16. und 23.August in Magdeburg

Beide Male haben sich Nazis unter Polizeischutz gegen Ende der Demo eingereiht und wurden von Antifas mit Sprüchen usw. begleitet. An der Haltung der Mehrheit der DemonstrantInnen zu dieser Problematik hat sich anscheinend nix geändert. Die Beteiligung flaut langsam ab, die Stimmung scheint bei Teilen immer aggressiver zu werden.

23. August

Auch in Potsdam waren es nicht mehr als letzte Woche, einige Fahnen mehr, die Gewerkschaftsjugend von IGM und IGBau waren diesmal da.

6. September

200 in Eisenach. Das Bündnis gegen Sozialkahlschlag Eisenach lässt am Anfang die Prinzipien der Montagsdemo Magdeburg abstimmen: jedeR darf mitmachen, von Faschisten grenzen wir uns ab usw.. Dann geht die Demo los: verschiedene Organisationen der MLPD, viele Ältere von der PDS, ungefähr die Hälfte sind »normale« Arbeitslose. Die Eisenacher Kameraden (15 zumeist kahlköpfige Typen zwischen 20 und 30) werden nach hinten verwiesen, fünf Bullen eskortieren sie.

»Das Volk« ist zwischen der bürokratischen Bevormundung der MLPD und den Faschisten eingeklemmt und zeigt leider wenig Selbstorganisation und Eigeninitiative.

9. September

Donnerstag auf der Erfurter »Montags«demo: 600 Leute, abnehmende Tendenz, Auftaktbeiträge von der Gewerkschaft, einem »normalen« Erfurter und einem jüngeren Menschen aus dem unabhängigen linken Milieu.

Den Leuten scheint zu dämmern, dass diese Art von Demos nicht weit führt. Viele sind wirklich wütend, enttäuscht über die Kaltschnäuzigkeit der Regierung, versprechen sich von denen da oben gar nichts mehr.

13. September

2000-3000 in Magdeburg

Zunächst einmal lieferten sich Protestführer Ehrholdt, Sozialforum und »Marxisten-Leninisten« über Mikrofon Redegefechte. Ehrholdt hatte als Auftakt wie gewohnt eine seiner ebenso kurzen wie inhaltsleeren Reden gehalten (er zähle sich zu den »demokratischen Kräften« und wolle keinen »Umschwung« wie die Extremisten von links und rechts).

Die Krönung war die Abschlusskundgebung, wo u.a. ein Irrer aus der Ehrholdt-Riege gegen die »Milliarden von Windrädern« in Deutschland und die »30% Zinsanteil im Brot« vom Leder zog.

Allerdings waren die Meinungen zu den Reden auf der Abschlusskundgebung durchaus geteilt, nicht wenige verließen kopfschüttelnd den Platz.

Am 13.9. waren in Sentftenberg noch 2000-3000 Leute auf der Straße, keine Parteien, keine sichtbaren Nazis und keine Linkssektierer, dafür ausschließlich offenes Mikrofon und gute Stimmung.

Freiburg

Ca. 150 Leute sind eine Stunde durch die Innenstadt gezogen, MLPD, Linksruck und diverse Gewerkschaftsredner hatten abwechselnd das Mikro in der Hand. Vor zwei Wochen waren es mehr gewesen, auch die Mischung war anders, nicht nur Leute aus Szene bzw. Organisierte, man hatte auch den Eindruck gehabt, dass es zwischen Demo und den »Umstehenden« ne Dynamik gab… das hat diesmal gefehlt.

Berlin

Die Demo war wieder ziemlich widersprüchlich, ein großes Durcheinander. Es waren deutlich weniger Leute, als beim letzten Mal. Richtig unangenehm wurde es, als der Oberredner der MLPD bei der Abschlusskundgebung sich in die Rolle des Vertreters der Demokraten (»100 000 für den 3. Oktober«) gegen attac und den 2. Oktober steigerte. Es war eine richtige Spaltung inkl. »Spontankundgebung« der MLPD nach Beendigung der Demo (zum Zwecke einer Resolutionsabstimmung für den 3. Oktober).



aus: Wildcat 71, Herbst 2004



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