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16.03.2022

aus: Wildcat 109, Frühjahr 2022

Editorial

»Lockdown heißt nun closed loop management

… zumindest in China.« So beginnt das Editorial der neuen Wildcat. BewohnerInnen der Neun-Millionen-Stadt Changchun dürfen nur noch alle zwei Tage zum Einkaufen vor die Tür. Lockdowns auch in Shanghai, Qingdao, Dongguan, Shenzhen…, sie heißen aber nicht mehr so, sondern je nach Stufe

封控区fengkongqu, geschlossenes Kontrollgebiet: Hausarrest, Verlassen der eigenen Wohnung ist verboten, »Essen« wird geliefert.

管控区guankongqu, verwaltetes Kontrollgebiet: viertägiger Hausarrest, ab dem fünften Tag darf man aus der Wohnung raus, aber nicht aus dem Gebäude, also im Trepenhaus rauf- und runterlaufen.

防范区fangfanqu, Gebiet unter besonderer Vorsicht: nur mit einem PCR-Test vom selben Tag kann man aus dem Gebiet raus, niemand darf rein.

In der 17-Millionen-Stadt Shenzen dürfen die Leute die Stadt nicht mehr verlassen und müssen sich alle zwei Tage testen lassen. Busse und U-Bahnen fahren nicht mehr. Viele Unternehmen haben ihre Arbeit weitgehend eingestellt: Foxconn fuhr die iPhone-Fabriken vorübergehend herunter, VW und Toyota haben ihre Porduktion teilweise gestoppt. Über den Hafen von Shenzhen werden zehn Prozent des chinesischen Containerwarenverkehrs abgewickelt… Mittlerweile gelten Foxconn-Fabriken als »geschlossene Kreisläufe«, da Wohnheime auf dem Gelände liegen: Die ArbeiterInnen befinden sich also in einer »Blase«, die nur noch aus Schlafen und Arbeiten besteht.

Die von vielen Linken bewunderte NullCovid-Strategie der KPCh scheitert gerade.

Bis zum 8. März waren weltweit offiziell 6 Millionen Menschen an Covid-19 gestorben und 450 Millionen hatten sich angesteckt. Die realen Zahlen liegen viel höher. Laut einiger im März veröffentlichten Studien sind zwischen Januar 2020 und Dezember 2021 18,2 Millionen Menschen mehr gestorben als in Nicht-Pandemiejahren zu erwarten gewesen wäre. In Indien betrug die Übersterblichkeit mehr als 4·Millionen, in den USA 1,13 Millionen, in Russland 1,07 Millionen.

Die Unfähigkeit der Regierungen in der Pandemie, die großen Widersprüche der Lockdowns, die Impfkampagnen… haben einige zur »Gesundheitsdiktatur« hochgeschwurbelt. Der von ihnen zunächst hochgelobte schwedische Staatsepidemiologe Anders Tegnell ist inzwischen zur WHO gewechselt. Wird das und die mehr als 18 Millionen Tote bisher dazu führen, dass Coronaleugner zur Besinnung kommen? Eher nicht – Corona ist wie die »Migrationskrise« 2015 nur ein »Artikulationsanlass« für rechte Mobilisierungen. Auch deswegen haben wir einen Artikel zu rechter Kontinuität in der ehemaligen DDR im Heft.

Lenin wird oft mit dem Satz zitiert, eine revolutionäre Situation sei dann gegeben, »wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen«. Stimmt das, so wären wir zumindest in einer vorrevolutionären Situation. In der Pandemie hat der Kapitalismus sehr deutlich gezeigt, dass er die Katastrophen, die er hervorbringt, nicht mehr beherrschen kann. Aber auf der Linken waren praktisch nur Staats-Antifa (»wir impfen euch alle!«) und ZeroCovid politisch sichtbar. Und fast alle linken Zusammenhänge haben Leute an die Coronaschwurbler verloren. Aber »zerreißt das die Linke«, wie einige der Leugner meinen? Oder trennt sich da eher die Spreu vom Weizen, wie es ein anderer für seine städtische Szene beobachtete? (Wir gehen nochmal auf die Entwicklung der Querdenker ein.)

Wer die organisatorischen Kräfte hinter den No-Vax-Demos sind, wurde in Italien schnell klar, nachdem wichtige Forza Nuova-Kader nach dem Sturm auf die Gewerkschaftszentrale eingeknastet wurden: die Demos gingen stark zurück. Aktuell gibt es in Italien eine neue Arbeitermobilisierung und eine Schülerinnenbewegung. (Auch dazu ist ein Artikel im Heft.)

Die meisten Leute, die sich nicht impfen lassen, sind keine Coronaleugner; bei ihnen stehen soziale Probleme im Vordergrund. Deshalb gehen wir nochmal auf die Geschichte des Gesundheitssystems in den USA ein. Die Hälfte der Leute sind über ihren Job krankenversichert. 30 Millionen sind unversichert, die meisten von ihnen liegen knapp über der Bemessungsgrenze für Medicaid. Wer krank wird, steht vor einem riesigen Schuldenberg.

Es gibt inzwischen einige wichtige Analysen zu Covid, zu den Coronaleugnern und zur Perspektive einer möglichen linken Strategie im Umgang mit der Pandemie. (Im Heft haben wir Zusammenfassungen und Besprechungen von: Alex de Waal, Blinde Passagiere von Karl Heinz Roth, einem Text von Antithesi u.a.)

Corona-Klarheit

Während der Pandemie haben viele Menschen ihr Leben geändert, ihren Job gekündigt, sie sind umgezogen, haben sich privat oder beruflich neu orientiert. Bei einer Umfrage in Deutschland sagten 60 Prozent, ihre Lebenseinstellung habe sich nachhaltig verändert. Mehr als die Hälfte hat ihren Konsum eingeschränkt – und vermissen nichts. Anstatt zu verzichten, würden sie vor allem Güter mehr teilen. Einer Forsa-Untersuchung zufolge möchten 17 Prozent der Beschäftigten in Deutschland auch nach dem Auslaufen der Homeoffice-Pflicht überhaupt nicht mehr zurück ins Büro, weitere 14 Prozent möchten zukünftig drei Viertel ihrer Arbeitszeit im Homeoffice absolvieren. (Die Mehrheit der Befragten kann ihren Job gar nicht im Homeoffice machen.)

Im März 2020 hatten wir kaum Vorstellungen, wie sich die weltweite Pandemie auf die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen auswirken würde. Historisch konnte man sehen, dass die Unterklassen nach der großen Pest mächtig aufholten und die Arbeiterklasse politisch entstand (siehe die Umschlagseiten der Wildcat 96 zum Aufstand der Ciompi in Florenz!). Aber damals waren zwischen einem Viertel und der Hälfte der Bevölkerung der betroffenen Gebiete gestorben! Somit lassen sich daraus keine Schlussfolgerungen für heute ziehen.

Tatsächlich scheinen sich aktuell die Kräfteverhältnisse insgesamt zugunsten der globalen Arbeiterklasse zu drehen. In den USA wird ein neues Kapitel aufgeschlagen. (Artikel zu Big Quit und den neuen Arbeiterkämpfen)

Die erste Phase des Populismus ist abgeschlossen. Und wir sehen Anzeichen, dass eine zwanzigjährige Phase linker Staatsgläubigkeit zu Ende gehen könnte. (Artikel zu Staatskritik).

Das Elektroauto ist technisch und ökologisch ein Rückschritt. Es soll alles ändern, um alles beim Alten zu lassen! (Zur Situation der Autoindustrie)

Das Wirtschaftswort des Jahres 2021 war »Lieferengpässe«. Aber die Reedereien haben es genauso wie die Autoindustrie geschafft, »eine globale Krise in einen historischen Lottogewinn« zu verwandeln. Ihre gewaltigen Gewinne stehen in einem dramatischen Verhältnis zur elenden Lage der Seeleute. (In Piräus haben nun zumindest die Hafenarbeiter den Kampf aufgenommen.)

Außerdem Buchbesprechungen zu Amazon, »vaterlandslose Gesellen« im Ersten Weltkrieg, zu den »unvollendeten Revolutionen im Sudan«, zur Rolle von Fentanyl in der Opioidkrise – und wir stellen ein Buch zum NSU vor, das bisher keinen Verlag gefunden hat.

 
 
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