.wildcat

15.03.2025

aus: Wildcat 107, Frühjahr 2021

Ischgl 2.0

Hofers Mutanten

Österreich ist geprägt vom Konflikt zwischen Osten und Westen. Der Osten mit der Hauptstadt Wien und den großen Industriebetrieben war mal eine kommunistische Hochburg. Davon ist nichts mehr übrig, bis heute regiert in Wien die Sozialdemokratie.

Im Westen zählt Tirol heute 750 000 Einwohner, 90 Prozent leben im Inntal. Die ÖVP, eine Nachfolgeorganisation des Faschisten Engelbert Dollfuß, ist im Land durchgängig an der Macht. Bis in die 1980er hatte sie über 50 Prozent der Stimmen in Landtagswahlen, der Tiefstwert war 2013 mit knapp unter 40 Prozent. Wirtschafts-, Landwirtschafts-, Arbeiterkammer, Bauernbund, Landesregierung, Gemeinderäte, alles ÖVP.

Bis heute gilt das Andreas-Hofer-Lied als Landeshymne. Andreas Hofer (1767-1810) war ein religiöser Fundamentalist, sogar für seine Zeit viel patriarchaler als der Durchschnitt. Er trat 1796 der Meraner Schützenkompanie bei. Die »Schützen« waren bewaffnete Truppen, die auf Kaiser Maximilian I. (1459-1519) zurückgehen, der in einem Dokument erlassen hatte, dass Leute aller Tiroler Stände im Kriegsfall ausschließlich für Tirol zu kämpfen hätten (»Landlibell« von 1511).

1806 ging Tirol an Bayern. Sie installierten eine Verfassung nach französischem Vorbild mit religiösen Freiheits- und Gleichheitsrechten. Leibeigenschaft und ständische Privilegien sollten abgeschafft, Gesundheitsfürsorge und Pockenimpfung eingeführt werden. Hofer sah die Macht der Katholiken und die Standesordnung bedroht. Sein Mitkämpfer Joachim Haspinger, ein Kapuzinerpater, behauptete, mit der Impfung würden die Bayern den Tirolern »bayrisches Denken« einimpfen. Dagegen organisierten sie ab 1809 den bewaffneten Widerstand. Hofer war inzwischen vom Kaiser zum niederen Adel erhoben und zum Tiroler Landeshauptmann ernannt worden. Aber seine Herrschaft, die Feste verbot und Frauen Kleidervorschriften aufzwang, ließ die Kampfmoral seiner Schützen niedergehen. Außerdem mussten sie sich zunehmend um ihre Familien und Ernten kümmern. Am 20. Februar 1810 wurde Hofer in Italien von Soldaten erschossen. Friedrich Engels schrieb 1845, Hofer, »ein stupider, ignoranter, bigotter, fanatischer Bauer, kämpfte für den väterlichen Despotismus«. Aber viele Tiroler feiern ihn bis heute.

Die Schützen schwören jedes Jahr Kaiser Maximilian I. und dem Land Tirol die Treue. Sie sind die einzige legale bewaffnete Gruppe in Österreich, mit fast 20 000 Mitgliedern um das fast Zehnfache mehr als die Tiroler Polizei. Natürlich sind viele »Schützen« – Gastwirte. Der Tourismus ist das Um-und-Auf und macht 20 Prozent der Wirtschaftsleistung aus.

Seit den 60er Jahren geht eine Autobahn durchs Inntal. Somit sind es nur noch 30 Autominuten nach Deutschland im Norden und gleich viele nach Italien im Süden. Noch heute wird das Für und Wider der Autobahn diskutiert: Der enorme LKW-Transitverkehr bringt Luftverschmutzung und Staus, aber man will sich auch in den Tiroler Alpen an der Globalisierung bereichern. Jeder LKW bringt Mautgebühren, die Autobahn bringt die Touristen vom Flughafen schnell in jedes Tal – im Winter landen alle zwei Minuten Flieger aus England und Russland.

Der Massentourismus entwickelte sich seit den 1970er Jahren. Der Wintertourismus von Oktober bis Mai übersteigt mit ungefähr 30 Millionen Nächtigungen den Sommertourismus um ein Drittel. In den letzten Jahrzehnten sind ehemals bitterarme Bergbauerndörfer wie Ischgl und Sölden mit 1600 und 3000 Einwohnern zu den weltweit bekanntesten »Skiorten« geworden. Zwölf Millionen Gästeankünfte und fast 50 Millionen Übernachtungen pro Jahr. Bauernhöfe wurden zu Hotels, Land- zu Gastwirten und dann zu Firmenchefs. Wegen ihnen haben ÖVP-FPÖ 2018 die gesetzliche Grenze des Arbeitstags auf 12 Stunden angehoben.

Skilehrer-Cluster

In der Pandemie konnte man sehen, was passiert, wenn Tourismus-Imperien wie Bergbauerndörfer geführt werden und wenn Reichtum auf (Tourismus-)Rente beruht. Bei »Superspreader« und »Corona-Hotspot« denkt jeder an Ischgl. Und auch in der zweiten Welle kümmerten sich ländliche Lumpenmillionäre und christlich-soziale Talchefs wenig um Nächstenliebe. Wieder wurde Tirol zum Corona-Hotspot – diesmal nicht wegen hoher Infektionsraten (diese sind unter dem österreichischen Durchschnitt), sondern weil sich die »südafrikanische« Mutation ausbreitete und weil niemand die Hotel- und Liftchefs gestoppt hat. Sie organisieren sich in der »Adler Runde«, sitzen selbst im Landtag, sogar im Nationalrat in Wien und betreiben starken Lobbyismus. Dazu kommt die Arroganz und der Einfallsreichtum der reichen Kundschaft – zum Beispiel meldeten sich englische Börsenzocker als Skilehrer oder für einen Zweit- bzw. Hauptwohnsitz in Tirol an – so konnten sie einreisen. Das wurde geduldet.

Anfang Februar 2021 wurde über die »Abschottung« Tirols diskutiert – eine Innsbrucker Virologin forderte die Isolation des Bundeslands. Die Regierung in Wien stand unter Druck, weil sie vor und in der zweiten Welle so ziemlich alles falsch gemacht hatte (höchste Infektionsraten, größter wirtschaftlicher Absturz in der EU, Skandale, usw.). Der grüne Gesundheitsminister wollte einen verlängerten Lockdown in Tirol, der ÖVP-Landeshauptmann lehnte das ab. Der Obmann der mächtigen Seilbahnindustrie sprach von »Rülpsern aus Wien«. Der Wirtschaftskammer-Chef drohte: »Dann werden sie uns kennenlernen.« Ab 12. Februar 2021 drückte der Osten dem Westen extra Maßnahmen auf – 600 Polizisten und 1000 Soldaten kontrollierten wochenlang alle 26 Grenzübergänge. Deutschland, woher 50 Prozent der Touristen anreisen, hat Tirol zum »Mutationsgebiet« erklärt. Manche sprechen davon, dass die Macht der Touristiker bröckelt, weil sie es sich nicht nur politisch verspielt haben, sondern weil auch der Tourismus nachhaltigen Schaden genommen hat – hoffentlich!

Am 20. Februar 2021 gedachten der Landeshauptmann und Landeskommandant der Tiroler Schützen in Innsbruck mit einer heiligen Messe samt Kranzniederlegung dem 211. Todestag Andreas Hofers. Gleichzeitig widersetzten sich hunderte Tiroler einem polizeilichen Versammlungsverbot. Einige wollten auf den Bergisel, wo Andreas Hofer seinen »Freiheitskampf« führte. Zur verbotenen Anti-Corona-Demonstration in Wien reisten Tiroler in Bussen an, ihr Motto: »Der Tiroler Adler fliegt, wohin er will.«

Bis heute sind fast 600 Menschen in Tirol an oder mit Covid-19 gestorben. Die Toten wegen Ischgl wird man womöglich nicht zählen können.

Literatur: Maschek – Tirol den Tirolern, 24.3.2020 (abrufbar auf Youtube)

 
 
 [Seitenanfang] [Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt]