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15.03.2025

aus: Wildcat 106, Sommer 2020

Österreichs Seilbahnschaften

Mancherorts hängen 40 Prozent vom BIP am Tourismus – ganze Alpentäler und einheimische Unternehmer wurden reich. Aber wenn ein Einfaltspinsel als Tourist im galanten Unterhemd auf einer spanischen Insel ausspricht, was in Österreich sowieso alle wissen, bebt die ganze Polit-Landschaft – weil er dabei gefilmt wurde. »Ischgl« kombiniert das: es ist reich, einfältig, zerstörerisch und gefährlich.

Die »Wendigkeit« der herrschenden Politiker Österreichs sehen viele als Vorbild. Sie sind aber nicht nur korrupter, sondern auch unfähiger als im westeuropäischen Durchschnitt. Sie wurden nicht gezwungen, mit dem Faschismus zu brechen. Die FPÖ hatte bessere Startbedingungen als rechte Parteien in der BRD und konzentriert heute die Nazis auf sich. Auch die Wurzeln der ÖVP reichen über Dollfuß bis hin zu »den Antisemiten« aus dem 19. Jahrhundert.

Großgrundbesitzer, Rentiers, Industrielle und politische Schicht sind die besten Freunde. In dem kleinen Land (8,8 Millionen EinwohnerInnen – davon 1,9 Mio. in Wien) kennt jeder jeden. Ab einer bestimmten Einkommenshöhe gehört man dazu, Kontakte sorgen für weiteren finanziellen Erfolg. In den letzten 20 Jahren haben sich die Finanzvermögen ungleicher verteilt als im Rest Europas.

Die Bevölkerung ist aber »normal«: Homosexuelle und Migranten toleriert, den Sozialstaat finden alle gut, usw. Die Klassenzusammensetzung ist geprägt durch die staatliche Industrie. Seit den 1980ern wird diese privatisiert, am Sozialstaat gespart. Dafür brauchten die Unternehmer Migration, die EU und die FPÖ. Nachdem Kreisky 1983 seine absolute Mehrheit verloren hatte, koalierte seine SPÖ zum ersten Mal mit der FPÖ (1970 sicherte Kreisky der FPÖ durch eine Wahlrechtsreform mehr Mandate und trug somit entscheidend zu ihrem politischen Aufstieg bei). 2000 bis 2006 koalierte die ÖVP auf Bundesebene mit der FPÖ, um üble Reformen und weitere Privatisierungen anzuschieben. Die FPÖ zerlegte sich im Machtrausch selber, aber trotz des Hypo-Skandals konnte sie sich seit den Bankenrettungen mit ihrer lauten Sündenbock-Politik erneut in den Vordergrund drängen.

Der EU-Beitritt 1995 ebnete den Weg für die Exportindustrie und stärkte die Rolle des Landes als Logistikhub. Auch Finanzwirtschaft und Tourismus profitierten.

zuwandern

1961-74 kamen viele Jugos, weniger Türken; von 1988-93 erhöhte sich ihr Anteil an den Arbeitskräften erneut, dazu kamen Polen, Tschechen, Ungarn.

1990 beschloss die SPÖ-ÖVP-Regierung die Einführung einer Ausländer-Quote, definiert als ein maximaler Anteil von ausländischen Arbeitskräften am gesamten Arbeitskräftepotenzial. Die jährlich festgesetzten Quoten schwankten zwischen acht und zehn Prozent.

Der Anteil der Ausländer an der Bevölkerung verdoppelte sich während der Jugoslawienkriege von vier auf acht Prozent. Seitdem hat er sich auf über 16 Prozent erneut verdoppelt. In Wien haben fast die Hälfte der zwei Millionen Einwohner einen Bezug zu »Migration«; jene mit österreichischem Pass wählen oft SPÖ; unter der größten Gruppe, ehemals türkische Gastarbeiter, 60 bis 80 Prozent.

reGIERen

Kurz holte nach seinem Wahlsieg im Dezember 2017 die FPÖ in die Regierung. Die Unternehmer bejubelten das Ende des »Reformstaus«: Ausweitung des gesetzlichen Arbeitstages, Umstrukturierung der Sozialversicherung und Angriff auf die Arbeitslosen (»Mindestsicherung neu«).

Allerdings zerlegte sich die FPÖ auf Ibiza schon wieder, und Strache zeigte der Bevölkerung präzise, was sein Wahlspruch »unser Geld für unsere Leut´« hieß – z. B. krallte er sich über 40 000 Euro/Monat. Die Aufarbeitung der kriminellen Geldflüsse beginnt erst, in »Ibiza« hängen alle mit drin.

Dann kam Türkis-Grün. Die Grünen waren nie links und sie entstanden aus keiner Bewegung. 2017 waren sie mit 3,8 Prozent aus dem Nationalrat geflogen – mit »Ibiza« und »Klima« kamen sie in der Wahl 2019 auf 13,9 Prozent.

Die ÖVP hat seit 2008 einige Milliarden Euro in den Banken versenkt; ein Geheimdienst-, ein Schredder-Skandal, der Postenschacher … haben keine Konsequenzen; die Partei hat illegale Spendengelder zu 98 Prozent von österreichischen Unternehmern und den Reichen erhalten. Trotz ständiger Zusagen, die Steuern für die kleinen Leute zu senken, sind die Lohnsteuereinnahmen stärker gewachsen als die Bruttobezüge. Die Gewinnsteuer hingegen war von ÖVP-FPÖ 2005 von 34 auf 25 Prozent gesenkt worden. Türkis-Grün will sie erneut senken.

niedergehen

Die ÖVP vertritt die Grundeigentümer – der größte ist die katholische Kirche – und die Unternehmer. Die SPÖ repräsentierte die Facharbeiter und die Stadtbevölkerung; die Arbeiter hat sie an die FPÖ verloren, die Stadtbevölkerung an die Grünen. ÖVP und SPÖ hatten und haben relativ gesehen noch immer deutlich mehr Mitglieder als in anderen Ländern, aber der Absturz der SPÖ-Mitgliederzahlen ist massiv.

Österreich ist eine ähnlich alte Gesellschaft wie die BRD – aber die Renten sind fast doppelt so hoch. SPÖ und ÖVP werden von RentnerInnen gewählt – so wie SPD und CDU.

Ischgl

»Alles findet in Pseudoalmen statt. Die Alm gilt als archaisches Rückzugsgebiet des Bauernstandes und hat den höchsten Wert an Ehrlichkeit. Die Touristiker haben die Almhütte ins Tal gezerrt und ausgehöhlt. In Wahrheit ist es eine große Kulturlüge, mit automatisierten und computergesteuerten Getränkeverteilern im Keller und oben einem lederbehosten Synthetik-Tiroler, der dir auf die Schulter haut und sagt: ›Kimm eina, trink ma oan!‹«

Der Fotograf Lois Hechenblaikner:
»Einen Instinkt fürs Tier« (FAZ, 30.5.2020)

Die Industrieproduktion ist in Tirol so wichtig wie in der BRD (Tirol: 28 Prozent vom BIP; BRD: 30). Aber jeder dritte Euro wird im Tourismus erwirtschaftet, ein Viertel aller Arbeitsplätze hängen an der Branche. Der Umsatz belief sich in der Saison 2018/19 auf 8,4 Milliarden Euro – fast so viel wie die Industrie herstellt. Eine besondere Goldgrube ist die Gemeinde im Paznauntal: Mit 1,4 Millionen Nächtigungen belegte Ischgl letztes Jahr Rang 2 in der Statistik (Platz 1: Sölden). Auf 1600 Einwohner kommen 10 000 Gästebetten.

Après-Ski-Betriebe setzen an Spitzentagen bis zu 100 000 Euro um. Der Tourismus erklärt, warum im Unterschied zur BRD der österreichische Lockdown relativ dreimal so viele Arbeitslose produzierte.

Angela Merkel lobte, Österreich wäre »immer einen Schritt voraus« gewesen – das hat die Regierung sehr gerne gehört. In Wirklichkeit trifft es auf die ersten Schritte hinein in die Pandemie zu. Da hat das »virologische Quartett«, wie Kanzler, Vizekanzler, Gesundheits- und Innenminister später medial tituliert wurden, völlig versagt. Von Ischgl aus infizierten sich mindestens 1670 Österreicher, über 11 000 Menschen in ganz Europa – und noch Zigtausende mehr, die Covid-19 in 45 Länder auf fünf Kontinente trugen. Die Einnahmen aus dem Tourismus waren wichtiger als die »Gesundheit«.

Trotzdem steigerte Kurz in der Pandemie seine Beliebtheitswerte. Er dachte sich das »Team Österreich« aus, zu dem »alle Österreicherinnen und Österreicher« gehören, aber nicht die eineinhalb Millionen Menschen mit anderen Pässen. Im Gegensatz zur BRD gab es keine öffentliche medizinische Debatte über »Corona« - niemand hat Kurz widersprochen, als er behauptete, ohne Lockdown hätte es »bis zu 100 000 Tote« gegeben. Ende April wurden Dokumente geleakt, wo rauskam, dass Kurz eine Strategie der Angst wählte.

Falsche Hoffnungen

Nicht nur »Ischgl«, auch Laudamotion zeigt perfekt die österreichischen Verhältnisse. Die Beschäftigten hängen an ihren Jobs und bieten selber Zugeständnisse an. Die Gewerkschaft hat‘s schon viel früher verkackt. So wurden Löhne und Belegschaft erfolgreich geschrumpft. Generell haben die Betriebe lange vor »Corona« Stellen auf das Minimum reduziert – dagegen gab es keine gemeinsamen Kämpfe, dafür immer mehr Einzelkämpfer nach dem Motto »Ich kümmere mich nur noch um mich selbst«. Der Einzelne leidet und weiß um seine Verwundbarkeit – und hofft auf Stabilität. Aber die geht flöten – die Unternehmer rationalisieren weiter.

Trump nahmen und nehmen die meisten als den Horrorclown wahr, der er ist. Aber die Clowns im eigenen Land werden anders betrachtet; »Ibiza« konnte man zuerst nicht richtig glauben, dann war man enttäuscht – unsicher und politisch desorientiert war man schon vorher. Viele waren sehr wütend, dass sie im Lockdown weiterarbeiten mussten, während »die Bosse« sich in ihren Villen schützen. Andere waren wütend über ihre Einkommensverluste in der Kurzarbeit (Lohn von 80-90 Prozent des Nettolohns bei Arbeitszeiten zwischen 0 und 90 Prozent der Normalzeit), vor allem weil die Arbeitszeit so unterschiedlich aufgeteilt war. Also Ungerechtigkeitsempfinden vorhanden, aber Protest organisieren? – Schwer vorstellbar. Die Hoffnungen sind auf wiederkehrende »Normalität« gerichtet. Aber das ist noch unvorstellbarer.

Siehe auchy
  • Wildcat 96: Krise Korruption Kämpfe, Frühling 2014
  • Wildcat 100: Rechte Arbeiter in Österreich, Sommer 2016
  • Wildcat online: Schon wieder Wahlen – Klassenkampf in Österreich, 25.10.2017
  • Wildcat 103: FPÖ und Sozialstaat, Winter 2019 und Update zu »Ibiza« vom 24.5.2019
 
 
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