aus: Wildcat 104, Winter 2019/2020
Das Modewort »Industrie 4.0« verspricht »selbstorganisierte« Produktion durch »intelligente«, digitale Systeme. Mit schnell fließenden, gewaltigen Datenmengen sollen Menschen, Maschinen, Logistik und Produkte miteinander vernetzt und »Wertschöpfungsketten optimiert« werden. Eine aktuelle Werbebroschüre »Industrie 4.0 in der Anwendung« zeigt jene »Geisterschichten« und »mannarmen Prozesse«, von denen Kapitalisten in den 80ern träumten. Kapitalberater feiern »intelligente Paletten«, »intelligente Müllcontainer«, »intelligente Behälter, die sich selber organisieren«.1 Konzerne und Regierungen streuen Propaganda, dass diese neuen Technologien zu massiven Arbeitsplatzverlusten führen werden. Und der WEF-Gründer Klaus Schwab warnte in seiner Eröffnungsrede in Davos 2019, die Menschen würden zu Sklaven der Roboter. Dazu kommt der kapitalistische »Umweltschutz«, voran das E-Auto: allein in der BRD sollen über hunderttausend (einigermaßen gut bezahlte) Autoindustrie-Arbeitsplätze wegfallen.
Die Drohungen mit Kontroll- und Arbeitsplatzverlust verdichten sich mit der angeblich bevorstehenden Klimakatastrophe zu einem »hyperventilierenden Digitalisierungsdiskurs«2. Hierbei gehen Propaganda, Managementsprech, Ideologie, Utopie und Angst wild durcheinander, die Realität bleibt meist auf der Strecke.
»Revolutionieren« die Internet-Konzerne tatsächlich die kapitalistische Produktionsweise durch Share Economy einerseits, Künstliche Intelligenz andererseits? Was ist diesmal anders? Erleben wir eine Zäsur? Wo stehen wir? Wo steht das Kapital?
Immer wieder haben die Kapitalisten neue Technologien gegen den Arbeiterkampf entwickelt. Versuche, die Produktivität durch bessere Kontrolle der Arbeiter und »Fehlervermeidung« oder durch die Intensivierung der Arbeit zu steigern, sind so alt wie der Kapitalismus selbst. Und immer wieder wurde dabei das »Ende der Arbeit« prognostiziert – was politisch schlussendlich meint, dass alle anderen außer der Arbeiterklasse über die Zukunft entscheiden. In den 80ern waren es »Roboterisierung« und »Vollautomation«. In den 90ern waren die Schlagworte »Toyotismus«, »Zukunft ohne Jobs« und »Welt ohne Arbeiter«. Aktuell kommt das Internet dazu. Und Roboter kochen, führen Gespräche, pflegen, man kann sogar Sex mit ihnen haben.
Manche »Marxisten« bezeichnen das als »Digitalen Kapitalismus« und behaupten, beim Internetsurfen in der Freizeit würden wir Mehrwert produzieren. Am prominentesten tun das Christian Fuchs und Timo Daum, letzterer bekam dafür von der Friedrich-Ebert-Stiftung den Preis »Politisches Buch des Jahres 2018«. In seiner Abhandlung Das Kapital sind wir – zur Kritik der digitalen Ökonomie lesen wir von der »Geburt eines neuen Akkumulationsmodells«3. Bevor wir dies und einige weitere Bücher zum Thema besprechen, gucken wir zunächst in die Geschichte.
Die Entwicklung von Maschinen soll nicht den Arbeitern eine Mühe erleichtern, sondern sie erneut dem Kapital unterwerfen und produktiver ausbeuten.
Eine der ersten Maschinen haben Arbeiter schon 1758 abgefackelt. Die historisch ersten systematischen »Automatisierungsangriffe« auf die Arbeiterklasse begannen in den 1830er Jahren nach den Kämpfen in den englischen Textilfabriken, die mit Wasser angetrieben waren. Die Arbeiter weigerten sich, bei hohem Wasserstand mehr zu arbeiten und forderten Arbeitszeitverkürzung – dabei zerstörten sie die Mühlen. Die Kapitalisten schwenkten um auf Kohle – somit konnten sie Fabriken unabhängig von Flussverläufen und rebellischen Arbeitermassen laufen lassen, und auch mal verlagern. Der »fossile Kapitalismus«4 war entstanden.
1842 protestierten Arbeiter in den Plug Plot Riots gegen die Luftverschmutzung durch mit Kohle generierte Dampfkraft; dabei sabotierten sie die neuen Dampfmaschinen. Im selben Jahr hielt Charles Babbage in Turin einen Vortrag für seine Analytical Engine, ein erstes »Programm« zur Berechnung von rationalen Zahlen. Er hatte eine mechanische Recheneinheit und einen Datenspeicher als zwei voneinander getrennte Teile vorgesehen – heute heißt das Prozessor und Arbeitsspeicher. Seine Kollegin Ada Lovelace hatte erste Vorstellungen von einer »Software«: »[Die Analytical Engine] könnte auf andere Dinge als Zahlen angewandt werden, wenn man Objekte finden könnte, deren Wechselwirkungen durch die abstrakte Wissenschaft der Operationen dargestellt werden können und die sich für die Bearbeitung durch die Anweisungen und Mechanismen des Gerätes eignen.«5
Die Mechanisierung entwickelte sich jedoch widersprüchlich und langsam in einer Koexistenz von einfacher Warenproduktion in Werkstätten und in Heimarbeit, Manufaktur und entstehender großer Industrie.6
Fließband
Nach der wissenschaftlichen Anwendung der Naturkräfte kam die »wissenschaftliche Betriebsführung«. F. W. Taylor sah, dass die Arbeiter sich immer wieder freie Zeit herausholen konnten, weil sie den Arbeitsprozess optimierten – aber eben nicht, um mehr zu produzieren. Taylor versprach den Unternehmern, die Produktivität durch Kontrolle der Bewegungsabläufe zu erhöhen und entwarf darauf aufbauende Arbeitsanweisungen – aber erst das Fließband entriss den Arbeitern die Kontrolle über die Geschwindigkeit des Fertigungsprozesses und das Tempo ihrer Handgriffe (dazu Wildcat 33 & 34: Taylors Alpträume). Es lief schnell, man durfte nicht mehr einfach so weg, die Entfernung der Arbeitsstationen war größer, es war laut, man musste ständig aufmerksam arbeiten. Der »Automatisierungsangriff« des 20. Jahrhunderts war die Entwicklung des Fließbands.
1936 baute Konrad Zuse in Berlin den ersten Rechenautomaten basierend auf einem Binärsystem. Zur gleichen Zeit konnte der Engländer Alan Turing zeigen, dass mit Rechenmaschinen auch Aufgaben gelöst werden können, wenn dazu Algorithmen vorliegen. Mit der Entwicklung der Kybernetik in den 40er Jahren kam die Steuerungstechnik in die Betriebe, auch diesmal wieder mit großen Versprechungen. Norbert Wiener, ihr Begründer, hielt 1950 völlig automatisierte Fabriken für leicht konstruierbar. Anfang der 60er Jahre setzten sich die Quaderni Rossi im Rahmen ihrer Arbeiteruntersuchungen mit der »Kybernetisierung der Fabrik« auseinander. Bei Olivetti habe diese die Arbeit »vollständig pulverisiert«, andererseits aber die »Funktionen des Gesamtarbeiters … neu zusammen gesetzt«7. Denn politisch müssen die Arbeiter im Arbeitsprozess voneinander getrennt werden, für den Verwertungsprozess müssen sie aber produktiv kooperieren.
In einem Vortrag von 1967 sieht Alquati das Kapital mittels der Elektronik einen großen technologischen Sprung vorbereiten, vor allem in den USA.8
Dann kam es in den Fließband-Fabriken zu den größten und kräftigsten Arbeiterkämpfen der Geschichte. Der von der Technologie vorgegebene Rhythmus hatte den Konflikt von der Ebene Arbeiter – Meister auf die Ebene Arbeiter – Fabrik verlagert. Somit konnten relativ kleine Arbeitergruppen ganze Großfabriken lahmlegen. Dieser Kampfzyklus fand seinen Höhepunkt im Heißen Herbst 1969 in Italien. 1972 haben junge Arbeiter bei General Motors in Lordstown (Ohio, USA) im fulminanten wilden Streik die damals »modernste Fabrik der Welt« zum Stillstand gebracht.9 Diese Arbeiterkämpfe gaben den kapitalistischen Automatisierungsanstrengungen einen neuen Schub.
FIAT war in den 70er Jahren weltweit führend, was die Installation von Robotern betraf und wollte tatsächlich »das Fließband überwinden«. Das sogenannte Robogate sollte vollautomatischen Rohbau und Motorenfertigung bringen. Der Angriff war massiv, etwa in der Schweißerei, wo für bestimmte Arbeitsschritte statt 20 nur noch vier Arbeiter gebraucht wurden, die die Anlagen bedienten.10 Mit Hilfe der Gewerkschaften gelang es tatsächlich, die alte Klassenzusammensetzung abzuräumen – aber FIAT schlitterte wegen der hohen Investitionen und der Fertigungsprobleme in die Existenzkrise. 11
Am bekanntesten in der BRD war die ähnliche Entwicklung in der Montagehalle 54 bei Volkswagen in Wolfsburg. Die Sensation sollte sein, dass Endmontagearbeiten roboterisiert werden, was viel schwerer war als im Rohbau oder in der Lackiererei. Der reale Automatisierungsgrad von 25-30 Prozent in der Montage galt als beispiellos. Auch »das [nächste] Vorzeigeprojekt der Automobilindustrie ... erlebt ... 1990 den ersten wilden Streik.«12 Volkswagen rückte vom Konzept der Vollautomatisierung ab, weil es sich unterm Strich nicht rechnete. Aber politisch hatte es sein Ziel erreicht, kämpferische Belegschaften zu zerlegen (in Anlagenführer, Instandhalter und Einleger/Helfer).
Die Kombination aus »politischem Erfolg gegen die Arbeiterklasse« und »es rechnet sich nicht« prägt seither die Stagnation: die Akkumulationsrate (Rate der Erhöhung des fixen Kapitalstocks) ist seitdem in allen OECD-Ländern gesunken. Die Großbelegschaften wurden zerschlagen, die Arbeiterkämpfe schwächer, die Roboterisierung in den OECD-Ländern verlangsamte sich.
In den 80ern war die Quote der Investitionen in Hightechausrüstung in den USA um durchschnittlich 1,8 Prozent pro Jahr gestiegen, halbierte sich in den 90ern, sank von 2000-09 auf 0,3 Prozent und kam in der »Erholungsphase« nach der globalen Krise mit 0,08 Prozent fast vollständig zum Erliegen. Das Wachstum der Investitionen in die Informationsverarbeitung von 1992 bis 2015 lag bei 2,4 Prozent, industrielle Ausrüstung 5,8 Prozent. Wesentlich für die »Globalisierung« waren Investitionen in Transportausrüstung: plus 11 Prozent pro Jahr. Über die angeblichen Produktivitätszuwächse durch Computerleistung hatte Paolo Giussani schon 2000 geätzt, siehe »Spekulatives Wachstum«13. Kim Moody nennt diesen Trend »Hightech in Zeitlupe«; es sei »überraschend, [wie] langsam Roboter in der Industrie eingeführt wurden«.14
Anfang der 90er Jahre kam im Westen die Zeit des »Toyotismus« und der Lean Production. Das Buch von Womack/James/Roos (dt. 1992: Die zweite Revolution in der Autoindustrie) wurde zur Bibel. Als Erklärung für den Aufstieg japanischer Konzerne sehen sie systematisches Abgreifen von Arbeiterwissen (in deren Sprache: KVP – kontinuierlicher Verbesserungsprozess/schriftliche Dokumentation) und Arbeitsintensivierung bzw. Abschaffung der Puffer/Zwischenlager (Wertstromanalyse, Just-in-time, usw.). Deutlich hatte der Toyota-Ingenieur Taiichi Ohno in seinem Buch Toyota-Produktionssystem den Kern herausgearbeitet: »Wir stellten 1947 die Maschinen parallel in Reihen oder in L-Form auf und versuchten, ob ein Arbeiter drei oder vier Maschinen gleichzeitig bedienen kann. Wir stießen jedoch auf starken Widerstand der Arbeiter, obwohl sich ihre eigentliche Tätigkeit nicht änderte, oder sich die Anzahl der Arbeitsstunden nicht erhöhte. Sie wollten nicht vom Prinzip ›ein Arbeiter, eine Maschine‹ abrücken und sich auf ein System ›ein Arbeiter, viele Maschinen in verschiedenen Arbeitsgängen‹ einlassen. [Aber dieses System] erhöhte schließlich die Produktivität um das Zwei- und Dreifache.«15
Den Widerstand der japanischen Arbeiterklasse hatten sie in den Nachkriegsstreiks niedergeschlagen – deshalb konnten sie den »Toyotismus« in Japan früher durchboxen. In den 80er/90er Jahren befanden sich die US-amerikanische und europäische Arbeiterklasse nun in derselben Situation.
Im April 2000 rutschte die »Dotcom-Ökonomie« in eine Rezession; der Zustrom des »ungeduldigen Geldes« in »alles, was mit Internet zu tun hat«, versiegte. Die Risikoinvestoren zweifelten auch an der Überlebensfähigkeit Googles. Deshalb gaben dessen Gründer Larry Page und Sergej Brin ihre »leidenschaftliche Abneigung gegen die Werbung auf«, um durch Anzeigen Geld reinzubekommen. Wurde in den 90er Jahren noch über Datenschutz diskutiert, so stellte die US-Regierung nach den Anschlägen am 11. September 2001 alle Weichen auf Massenüberwachung. Der Ausnahmezustand begünstigte Googles Wachstum, die »Interessenverwandtschaft« mit den US-Geheimdiensten verstärkte sich. Nun wurde Personal zwischen US-Regierung und Google hin und her getauscht, zusammen wichtige Firmen gekauft, Programme entwickelt, Aufträge vergeben, usw. 2002 gab der NSA-Chef das Total-Information-Awareness-Programm bekannt, es spricht von »relevanten Informationen, die aus … Daten extrahiert werden« sollten. Diese müssten »in Repositorien mit aufbereiteten semantischen Inhalten der Analyse verfügbar gemacht werden...«.16 Das machen die Algorithmen der Internetkonzerne heute. Denn Uber hat keine eigenen Fahrzeuge, Facebook keine eigenen Inhalte, Alibaba keine eigenen Lager, Airbnb keine eigenen Immobilien.
Das Internet hat die Überwachungsmöglichkeiten auf eine neue Stufe gehoben. Die Herrschenden lassen Software entwickeln, die Daten, Verhaltensmuster und Aussagen in den sozialen Medien auswerten und Aufstände und Streiks vorhersagen sowie die Kriegsführung erleichtern sollen. Dazu brauchen sie sehr viele Leute.17
Entgegen den Vorhersagen in den 90ern, die Automatisierung führe zu massiven Jobverlusten, stieg die Beschäftigung in Wirklichkeit weiter an, weltweit um 0,4 Prozent von 1991 bis 2016 – aber bei einer noch größeren Zunahme der verfügbaren Arbeitskräfte. Die »Globalisierung« brachte einen »Angebotsschock«. Das Kapital hatte mit der Expansion und Verlagerung nach Asien schlagartig eineinhalb Milliarden neue Arbeiter zur Verfügung, die weltweite Arbeitskraft vergrößerte sich von 1980 bis 2007 um 75 Prozent.18
Aber der Wirtschaftsboom in Asien konnte die Stagnation im Westen nur teilweise ausgleichen, z.B. konsumseitig durch eine Schwemme von billigen Waren minderer Qualität, und in der Produktion durch Outsourcing. Den Herrschenden gelang es, sinkende Profite mit Kreditausweitung und Druck auf die Löhne abzuwehren. Die ArbeiterInnen kompensierten sinkende Löhne mit der Aufnahme von Krediten; zudem entstanden viele neue Jobs in der Transportindustrie.
Die »Globalisierung« brachte keine revolutionären Produktivitätssprünge, sondern setzte die Arbeiter weltweit zueinander in Konkurrenz bei gleichzeitig vermehrten Investitionen in Überwachungstechnologien. Mehr Überwachungsequipment erhöht das konstante Kapital, ohne dass es dabei notwendigerweise die Produktivität oder das Wirtschaftswachstum erhöht (halbwegs seriöse bürgerliche Wissenschaftler sprechen vom »Produktivitätsparadox«) – die Organische Zusammensetzung steigt schneller als die Produktivität. Diese Krise können die Herrschenden nicht durch höhere Löhne und Nachfrage lösen – wäre es »nur« eine Überproduktionskrise, dann wäre dies möglich.
Mouvement Communiste sehen Amazon als Beispiel für die aktuelle Produktionsweise. Ein Konzern, der erfolgreich die Widersprüche auflöse, die Marx im Kapital analysiert hat. Dadurch, dass der Konzern alle drei Funktionen des Industriekapitals vereint – Finanz-, Handels- und produktives Kapital – beherrsche er den gesamten Kreislauf, Konkurrenz und Kämpfe um Profite entfielen, die Logistikkette wäre revolutioniert.19 Allerdings hat Amazon von Beginn an auf Pump expandiert. Akquisition und Spekulation sind nicht Mehrwertproduktion. Das Kerngeschäft Versandhandel bringt keinen Profit. Amazon ist verschuldet und eine Blase. Die Anlagen und der Cashflow bilden zwar die Grundlage für das kreditfinanzierte Geschäftsmodell – Gewinne werden aber eher an der Börse gemacht (z. B. den Kurs treiben durch Aktienrückkäufe). Auch das Schienennetz zu Beginn der Eisenbahn wurde mit Spekulation finanziert; schlussendlich platzte die Blase, aber die Schienen blieben bestehen – bloß: welche Gebrauchswerte hinterlässt Amazon? Datenbanken? Clouds?
Für die Arbeiterklasse führen diese Technologien nicht zu weniger Arbeit, sondern zu mehr mieseren Jobs und zu enorm verdichteter Arbeit. »Das Internet hat für alle in der Logistik bereits in Gang befindlichen Tendenzen einen enormen Schub nach vorn bedeutet: ... In der Logistik wurde es üblich, rund um die Uhr zu arbeiten. Die Logistik wurde der Bereich, in dem das Arbeitstempo und der Arbeitsaufwand eine extreme Intensität erreichten, und so ist es bis heute geblieben. In dieser Zeit bekam die Logistik ihren richtigen Namen: the physical Internet.«20
Im Handel und in der Logistik wird mit QR- und Barcodes, mit GPS- und anderen Standorterfassungstechnologien sowie mit Lagerstands- und Buchhaltungs-Software jeder Schritt in Echtzeit nachverfolgt, gemessen und optimiert – maximale Beschleunigung des Umschlags, minimale Transportzeiten und Kosten durch algorithmische Steuerung (vorgegebener Treibstoffverbrauch, Routen, usw.). Digitalisierung entfaltet sich praktisch als allgegenwärtiger Super-Kapo – im Lager weist er dir durchs Headset, in welches Regal du als nächstes gehst und wie lange du dafür brauchen darfst. An der Kasse im Supermarkt gibt es Selbstbedienung oder die Scannerkasse gibt den Takt vor, sie dokumentiert die ganze Arbeit. Die Laufwege der Kunden werden über Handy und WLAN aufgezeichnet.
Im Ergebnis scheinen die Arbeiter beliebig austauschbar und die Utopie der totalen Überwachung real. »Bezogen auf den Konsum bedeutet die Digitalisierung, dass die Menschen einkaufen können, wo sie gehen und stehen. Bezogen auf die Lohnarbeit bedeutet sie Verdichtung, Beschleunigung, Abwertung.«21 Das erklärt, warum die Klasse schwer Terrain gewinnt. Aber es ist keine neue Produktionsweise, wo Arbeiter überflüssig werden. Dass jedes Paket mehrmals gescannt werden muss, verlangsamt den Prozess. Noch mehr Überwachungsequipment verstärkt die Überakkumulationskrise.
»Innovation ist das Mittel, mit dem man dem möglichen Widerstand der Arbeiter gegen ihre Reduzierung auf variables Kapital zuvorkommt oder auf diesen reagiert.«22
Heute ist FIAT ein Zombiekonzern, er schleppt sich von einer Fusion zur nächsten, GM Lordstown wurde 2019 geschlossen, bloß in der Halle 54 bei VW Wolfsburg arbeiten noch immer 3000 Leute. Im »vollautomatischen« Containterterminal Altenwerder in Hamburg mindestens 700 (andere Quellen sprechen von 1200). In der vielgelobten »Industrie 4.0« gibt es noch immer keine standardisierten Schnittstellen, keine gemeinsame Datensprache, usw.23 Vielerorts haben IT-Projekte zu millionenschweren Verlusten geführt,24 weil sie nur im Interesse des Automatisierungsunternehmers liegen. Das »Anwenderkapital« ist dem »Produktivitätsversprechen des Anbieterkapitals auf den Leim gegangen«. Oder Geschäftsführer wollen »was Herzeigbares … wegen der Akzeptanz und so, ob sich das rechnet, wird da gar nicht gefragt«, auch wenn es billigere Alternativen gegeben hätte.25
Zum Beispiel bewirbt der Schweizer Automatisierungskonzern ABB sein Konzept der Hafenautomatisierung mit falschen Versprechen auf Kostensenkung. In Wahrheit rechnet es sich weder für den Hafenbetreiber noch für den Staat.26
Computer lösen komplizierteste Mathematikaufgaben, aber die Einsatzgebiete von Robotern haben sich seit den 1960ern nur in geringem Maße erweitert. »Es fehlt ihnen noch immer an Geschicklichkeit und Mobilität.«27 Und »künstliche neuronale Netze ›lernen‹ nicht wie wir, ›kognitive Computer‹ denken nicht…«28 Algorithmen kennen keine kausalen Zusammenhänge und dadurch auch keine Ausnahmen.29 Hinter Googles als »Künstliche Intelligenz« propagierten »automatischen« Programmen (z. B. mit denen man reden könne) arbeiten Massen von schlecht bezahlten Leuten, das betrifft etwa 80 Prozent, was sie »überwachtes maschinelles Lernen« nennen. Microsoft-Research-Forscherin Mary Gray: »Das ist das größte Paradoxon der künstlichen Intelligenz. Sie hat den Ruf, uns Arbeit abzunehmen, dabei generiert sie unendlich viel neue Arbeit.«30
Die stärksten Arbeiterkämpfe gab es historisch in der Textil-/Bekleidungsindustrie, später in der Landwirtschaft und in der Autoindustrie. Der Automatisierungsgrad in den beiden letztgenannten ist weltweit am höchsten, wobei an die Autoindustrie mit einem Roboterisierungsniveau von etwa zehn Prozent keine andere Branche herankommt. 2015 waren in den USA 233 305 Industrieroboter im Einsatz, die Hälfte davon in Autofabriken (im Rohbau werden Automatisierungsgrade von 70 bis 90 Prozent erreicht). 2014 kamen auf 1000 Autobeschäftigte 117 Roboter. In den meisten Branchen liegt diese Quote bei unter einem Prozent.31 Die Top 5 für 2016 je 1000 Produktionsbeschäftigte branchenweit sind Südkorea mit 63,1; Singapur 48,8; Deutschland 30,9; Japan 30,3; USA 18,9; China hatte 0,68.32 In der Bekleidungsindustrie sind die Löhne in den globalen Exportfabriken noch immer recht niedrig, eine Massenautomatisierung rechnet sich nicht.
Bevor Roboter überhaupt eingesetzt werden können, müssen die Produkte und Produktionsschritte verändert werden. In den 70ern hatte Ford die kämpferischen Frauen in der Näherei und Polsterei mit Vollschaumsitzen und Kunststoffauflagen überflüssig gemacht, in den 80ern wurde bei Audi der Wagenhimmel so designed, dass ein Roboter ihn nur noch einkleben musste.33 Ein Roboter »entwickelt sein Potenzial nicht aus sich heraus, sondern nur in einem innovativen und oft völlig neu zu konfigurierenden Zusammenspiel mit bestehender Technik und bestehenden Abläufen – oft sogar verbunden mit konstruktiven Veränderungen auf Produktebene. Dafür Lösungen zu finden, erfordert ein eingespieltes Team spezifischer lebendiger Arbeit.«34 Tatsächlich schraubt Toyota die Roboterisierung teilweise zurück, weil laut Fertigungschef: »Handarbeit die Basis für alles[ist]. Betreibt man eine Produktionslinie von Anfang an vollautomatisch, braucht man hoch komplexe Systeme, die viel Geld kosten und oft stillstehen. Eine solche Produktion würde für immer auf derselben Entwicklungsstufe verharren. Roboter verbessern Prozesse nicht. Nur Menschen können Prozesse verbessern. Darum sollten sie immer im Mittelpunkt stehen.«35 Die gleichen Töne kommen von Tesla und Daimler. Wie bei der Gruppenarbeit in den 80ern besinnt man sich wieder darauf, das Arbeiterwissen abzugreifen. Derweil schaut die Literatur stur in die andere Richtung.
Immer neue Bindestrich-Kapitalismen ignorieren den Antagonismus im Kapitalverhältnis – sie vermitteln uns, dass wir nicht mehr kämpfen brauchen, weil alles gut wird – oder dass wir nicht mehr kämpfen können, weil wir verloren haben. Manche schaffen es, beides zu behaupten. Wie groß ist denn die »digitale Ökonomie«, und wo kommt sie her?
Die Blüte des Silicon Valley begann in den 60ern – 1965 kaufte das Pentagon 70 Prozent der dort produzierten Computerchips. Als 1969 das Arpanet online ging, verband es vier Forschungseinrichtungen, drei davon in Kalifornien, das vierte war das Stanford Research Institute (die bis heute wichtigste Kaderschmiede der Internet-Konzerne).
Subventionen aus dem Militärhaushalt wurden teilweise durch Werbeeinnahmen ersetzt – aber Wertschöpfung sieht anders aus! Die Profite von Google, Facebook & Co. kommen zu 90 Prozent aus Werbeeinnahmen, nicht aus der Ausbeutung von Mehrarbeit. Werttheoretisch betrachtet ist es Rente, die Aneignung gesellschaftlicher Wertschöpfung aus anderen Wirtschaftsbereichen durch die Patentbesitzer.36 Die Nutzung sozialer Medien ist nicht wertschöpfend. Die Plattformen schaffen nichts Neues, sondern bedienen sich an vorhandener Infrastruktur und heuern Leute zu Niedrigstlöhnen an.
IT-Wirtschaft, der Bereich der Informations- und Kommunikationsdienstleistungen, Medien, Werbung, usw. werden zumeist in ihrer Bedeutung überschätzt. Für die USA verzeichnet das Bureau of Economic Analysis einen Anteil der »digitalen Ökonomie« am BIP von 6,5 Prozent 2016 und 6,9 Prozent 2017, damit liegt sie an siebter Stelle, vor Bau und Transport, aber hinter »Manufacturing«.37 2016 waren in der »digitalen Ökonomie« 3,9 Prozent der US-Arbeitskraft beschäftigt, die 6,7 Prozent der Gesamtlohnsumme verdienten.38 Allerdings sank der Anteil der Beschäftigten der Computer- und Elektronikbranche am Gewinn von 77 Prozent 2001 auf 53 Prozent 2015. Die Masse wird ärmer.39
Die Share Economy steht noch ganz am Anfang – Carsharing weniger als 0,1 Prozent des gesamten deutschen PKW-Bestands; Fahrräder 0,043 Prozent; Anteil am BIP je nach Studie 0,1 bis ein Prozent.40 Hier ist es für seriöse Vorhersagen zu früh.
Den stärksten Einfluss auf die aktuelle Debatte haben: Aufstieg der Roboter von Martin Ford, The Second Machine Age von Erik Brynjolfsson/Andrew McAfee und die Studie The Future of Employment der Londoner Oxford Uni. Letztere kam zu dem Ergebnis, knapp die Hälfte der 702 untersuchten Jobs in den USA seien einem »hohen Automatisierungsrisiko« ausgesetzt. Maschinelles Lernen, »Big Data« und Robotergeschicklichkeit würden große und schnelle Fortschritte machen.
Anders argumentiert der Sammelband Marx und die Roboter. Die Herausgeber warnen vor einem »Technikfetisch« durch »Verabsolutierung neuer Tendenzen der Automatisierung, der digitalen Kontrolle oder der Arbeit auf Plattformen«. Wenn man neue Technologien daran messe, ob sie die Produktivität steigern, hätte die Digitalisierung einen »bescheideneren Platz«.41 Kim Moody diskutiert in seinem Beitrag weitere Prognosen, die im Gegensatz zur Oxford-Studie nüchtern ausfallen, z. B. hält die WTO nur neun Prozent der Jobs in den OECD-Ländern für »anfällig für Vollautomatisierung«. Allen sei gemein, dass sie die »wirtschaftliche Machbarkeit« gar nicht oder unterbelichten. Kaum jemand denke von der Produktionsweise her; stattdessen werde mit Begriffen gefuchtelt wie »Internet der Dinge, Cyber-physische Produktionssysteme, Smart Factory, Big Data«, aber »die Begriffsvielfalt kann die Begriffslosigkeit kaum verdecken.«42
Zwar sind nicht alle Beiträge von gleicher Güte, aber der Sammelband zeigt, dass »Industrie 4.0« vor allem Propaganda ist und in der Realität große Schwächen hat. Seine große Lücke ist der »subjektive Faktor« – welche Rolle spielt die Arbeiterklasse und ihre Kämpfe?
Automatisierungsmöglichkeiten und Freisetzungen durch Digitalisierung würden überschätzt. Studien dazu seien oft Kaffeesatzleserei, die lediglich theoretische Möglichkeiten beschreiben, Arbeit durch technische Anlagen durchführen zu lassen. Damit sei nichts über die betriebswirtschaftliche Rationalität und die Effizienz gesagt, über Lohnentwicklung und Nachfrage. Heute flachten die Zuwächse der Arbeitsproduktivität immer mehr ab. Die Digitalisierung sei die Antwort, die auf alle Fragen passen soll, während die Wirtschaft lahmt.
Überkapazitäten und Freisetzung wären bereits da, sie werden aber auf die Digitalisierung projiziert. Das sei widersprüchlich: die öffentlichen Dienste funktionierten kaum noch, gleichzeitig versprechen die Automatisierungsfreaks eine Produktion auf Knopfdruck. In Wirklichkeit sei noch immer das Prinzip des »Schachtürken« von 1770 vorherrschend – ohne Menschen funktioniert keine Maschine – »künstliche Künstliche Intelligenz« von »kunstfertigen Hochstaplern«. »Wer glaubt, ein Wirtschaftssystem könne auf Internetplattformen aufgebaut werden, behauptet sinngemäß, dass Bäume überflüssig sind, weil es doch Misteln gibt.«43
FES-Preisträger Daum, der Marxist Christian Fuchs, die Harvard-Professorin Shoshana Zuboff und der Brigate Rosse-Gründer Renato Curcio sind überzeugt, dass der Kapitalismus sich gerade erneuert – durch die Produktion von Daten, Information, immateriellen Gütern. »Das Kapital [treibt] eine neue gesellschaftliche Betriebsweise voran, in der Extraktion, Auswertung und Verwertung von Daten ins Zentrum der ökonomischen Aktivität« geraten (Daum)44. »Anstatt von Arbeit nährt der Überwachungskapitalismus sich von jeder Art menschlicher Erfahrung.« (Zuboff)45 GAFAM (Google, Apple, Facebook, Amazon, Microsoft) ist für synonym mit »Überwachungs-Kapitalismus«. In diesem werde Gewinn produziert auf »Verhaltensterminkontraktmärkten«, unser Verhalten sei der Rohstoff für die »Vorhersageprodukte« der Konzerne. Sie holt Orwell und Hannah Arendt herbei. GAFAM seien Raubritter, und so wie diese würden sie bestimmt untergehen. In ihren Totalitäts-Fantasien und Siegesgewissheiten trifft sich Zuboff mit Curcio. Sein Buch enthält Vorlesungen 2015 in Mailand zu »narativer [sic!] Sprachanalyse«. Analysieren wollte er dabei »unterschwellige Prozesse der Kolonialisierung der Fantasie«. Fantastisch ist jedenfalls, dass Curcio einfach mal so hinschreibt, dass Internet-User Mehrwert produzieren. Bei Fiat in Pomigliano herrsche ein »post-tayloristisches Arbeitsmodell« namens World Class Manufacturing.46 Wie bitte? WCM ist ein völlig inhaltsleerer Propaganda-Begriff der Industrie – er soll nur sagen, dass an einem beliebigen Standort nach dem aktuellen Stand der Technik gearbeitet wird. Auch ein paar postmoderne Fetzen wie »bio-politisch« fehlen nicht. Das Internet wirke wie die Drogen in den 60ern als Flucht aus einer beschissenen Realität. Die »transparenten Identitäten« seien »Ursache für geistige Krankheiten und soziale Entfremdung«; »unsere Aliasse« wüchsen sich zu »gefangenen Identitäten unserer selbst« aus. Aber weil jedes Reich unterging, werde das auch mit dem »virtuellen« passieren; »die Neuentdeckung einer persönlichen und kollektiven Sprache der Befreiten steht kurz bevor.«47
Marxisten nach Marx haben immer wieder neue Kapitalismen gefunden – zunächst das »Finanzkapital« und den »Monopolkapitalismus«, danach den »Spätkapitalismus«; heute könnte man ein eigenes Wörterbuch der Kapitalismen herausgeben. Für Timo Daum etwa ist »der Siegeszug einer neuen Produktionsweise in vollem Gange«: »Der Digitale Kapitalismus« sei »ein Verwertungsmodell, dessen Hauptaugenmerk … die Organisation des Zugangs zu Wissen und Information« ist.48
In der RLS-Broschüre zum Auto im digitalen Kapitalismus behauptet Daum, dass »Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft« die »mittlerweile fünf größten Unternehmen der Welt«49 seien. Amazon hätte 2016 mehr für R&D ausgegeben als VW. Nehme man noch Uber und Tesla und vielleicht die Chiphersteller Nvidia und Intel dazu, hätten wir die wichtigsten Player zusammen, die »fieberhaft« an ihren Vorstellungen von globaler Mobilität arbeiteten. Die Produktion elektrischer Antriebe gefährde die Dominanz der großen Autokonzerne und stelle »kleineren Akteuren eine Marktchance in Aussicht«. Zum autonomen Fahren brauche es »klassische Big-Data-Anwendungen: Algorithmen, Datenverarbeitung in Echtzeit und ein mit jedem gefahrenen Kilometer optimiertes vernetztes Gesamtsystem«. Diese Anforderungen stimmten wie maßgeschneidert mit der Expertise der IT-Unternehmen überein. Daums Utopie: »Ein autonomes Fahrzeug wird nie mit Absicht eine Radfahrerin schneiden, einem Fußgänger die Vorfahrt nehmen, noch schnell bei Dunkelgelb Gas geben oder sonstige Rüpeleien begehen, die in unserem nicht-algorithmischen Verkehr alltäglich sind. An die Stelle des Rechts des Stärkeren könnte die Stärkung bislang benachteiligter schwächerer Verkehrsteilnehmer*innen treten.«50
Gegen solche Kopflanger des kapitalistischen Hypes hat Winfried Wolf sein E-Auto Buch geschrieben. Noch immer sei die Autoindustrie die wichtigste industrielle Branche – Öl, Auto und Flugzeugbau (die »fossilen« Branchen) machten 2018 rund ein Drittel des Umsatzes der Global 500. Unter den zehn größten Konzernen nach Umsatz befänden sich von 1990 bis 2017 mit zwei Ausnahmen immer sieben Öl- und Autokonzerne. Er zeichnet die historischen Debatten über eine Alternative zum Verbrenner in Abhängigkeit der kapitalistischen Krisenzyklen nach: die »autofreien Tage« in den 70ern, »Waldsterben« in den 80ern, usw. Das E-Auto löst kein ökologisches Problem – aktuell braucht man für eine Tonne Lithium, den wichtigsten Rohstoff für eine E-Auto-Batterie, 1,9 Mio. Liter Wasser. Außerdem passiere die E-Auto Produktion nur in »homöopathischer Dosis«, daran werde auch China, wo der Großteil der E- und konventiellen Autos gebaut und verkauft wird, nichts ändern. Denn China und die Autoindustrie »bilden den Kern einer neuen allgemeinen Krise des Weltkapitals«.51 In Wolfs Buch kommen keine Kämpfe vor. Eine »breite Bewegung von unten« solle die »Verkehrsrevolution« durchsetzen und den »Auto-Machtblock« ausschalten – aber seine zwölf Punkte zum Schluss sind von oben gedacht: »regulieren, reduzieren, stoppen«…
Zu den Bindestrich-Kapitalismen gehört der »Prosument«. Da die Konzerne »mit einer Handvoll Beschäftigter und automatisierter Infrastruktur Milliarden-Profite generieren«, käme »Unsinn heraus, wenn man diesen Gewinn durch die Anzahl der Arbeitsstunden der unmittelbar Beschäftigten teilt«. Stattdessen sei das Publikum in den Blick zu nehmen; dieses »verwende« Zeit, »um Werbung über sich ergehen zu lassen«, damit leiste es »Aufmerksamkeits- oder Publikumsarbeit«. Hier werde »die ganze Familie ausgebeutet, leistet fremde Arbeit und führt zur Mehrwertproduktion. Die couch potato wird zum produktiven Arbeiter!«52 Oha!
Christian Fuchs – der um die Bedeutung der Metalle für die Hardware des »Informationskapitalismus« weiß und auch auf die Endmontage bei Foxconn verweist53 – verspricht: »Das Konzept der Publikumsarbeit als ideologischer Transportarbeit hilft uns, die politische Ökonomie der Werbung in Marxschen Kategorien zu verstehen.« Während das Rund- und Fernsehfunkpublikum »Bedeutungen und Interpretationen von Inhalten« produziere, unterscheide sich »die Arbeit der ProsumentInnen auf sozialen Medien« davon, denn diese produzieren »auch Inhalte, Kommunikationen und soziale Beziehungen.« »Ihr Nutzungsverhalten generiert ständig Daten, die zur Personalisierung von Werbung verwendet werden.« Zudem »vermarkten (sie) konstant Waren an sich selbst.« Somit schließt der Marxist messerscharf: »Alle Nutzung von Facebook ist eine Form der produktiven Arbeit. Eine Ausnahme sind lediglich jene NutzerInnen, die Werbung mit der Hilfe von Adblock-Software blockieren.«54 Nie war es leichter, der produktiven Arbeit zu entfliehen!
Auch Steve Wright, Emi Armano und Raf Sciortino sehen bei den Social Media »eine neue Form der Wertaneignung durch Nutzeraktivitäten im Bereich der eigenen sozialen Reproduktion«. Aber diese Wertaneignung durch die Online-Plattformen geschehe eben nicht durch die Ausbeutung der Nutzer, sondern weil das industrielle Kapital einen Teil des Mehrwerts in Werbung investiert, das seien klassische »Unkosten« (Ausgaben, die notwendig fürs Profitmachen sind).55
Einige AutorInnen sehen sogar eine Entwicklung hin zu einem »digitalen Sozialismus«. Wir müssten dazu nur die kapitalistischen »Produktivkräfte« (Planungskapazität und Datenbanken) »demokratisieren«, »Planung funktioniert, nur noch nicht für uns«, so das Büchlein People‘s Republic of Walmart. Die Sowjetunion und Walmart seien Beispiele für »anti-demokratische Planung«, aber seine »operative Effizienz, sein logistisches Genie, seine Architektur der agilen wirtschaftlichen Planung« müssten »erfasst und übernommen werden«, dann hätten wir »egalitärere und freiere Gesellschaft«!56
Gar nicht weit weg von solchen Positionen sind bürgerliche Scharfmacher und Retter des Kapitalismus wie zum Beispiel der österreichische IT-Star Viktor Mayer-Schönberger, der nun im Beraterstab Angela Merkels sitzt. In seinen Bestsellerbüchern (»Big Data«) sieht er neue Profitfelder durch die »Ernte« der massenhaften Daten in Kombination mit neuen Geschäftsmodellen. Dann würden statt Finanzkapital und Unternehmen »datenreiche Märkte« herrschen, die es erlauben, dass alle Menschen direkt miteinander arbeiten; das Preissystem würde aufgehoben – das Kapital schaffe sich selbst ab und »das Digital« herrsche, so wie auch der deutsche Buchtitel lautet.57
Ziemlich bekloppt auch Ludger Eversmann in Marx‘ Reise ins digitale Athen. Er sieht »unendliche Produktivität im zweiten Maschinenzeitalter«. »Das wichtigste Produktionsmittel der nächsten großen Epoche wird dann nicht mehr die ›Maschinerie‹ der privatkapitalistisch genutzten Industriefabrik sein, sondern öffentlich, von allen, von der Allgemeinheit genutzt, sehr intelligente, den general intellect, das Wissen nutzende maschinelle Infrastruktur.« »Wenn dieser Tag kommt [wo die Produktivkräfte so weit sind, dass Maschinen für uns alles produzieren], hat der Kapitalismus den Kapitalismus aus der Welt vertrieben.«58
Sozialdemokratische Verstaatlichungsvorstellungen, wie sie Volksrepublik Walmart und Eversmann vertreten, haben schon in den Klassenkämpfen der 60er und 70er Jahre keine Rolle mehr gespielt. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind sie endgültig blamiert.59 Amazon und Walmart sind nicht einmal Produktionsbetriebe – in deren Art von Sozialismus würde Eversmann schnell merken, dass man Daten nicht essen kann!60
Daum, Fuchs und Eversmann verweisen auf das berühmte »Maschinenfragment«, ein von Marx so nicht genannter Textabschnitt in den Grundrissen (»Fixes Kapital und Entwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft«, MEW 42, S. 590-609). Marx habe dort schon die Vollautomatisierung beschrieben und hellsichtig die Möglichkeit zur Überwindung des Kapitalismus vorhergesagt. In der Krise 1857/58 rechnete Marx mit der Revolution und versuchte, seine jahrelangen ökonomischen Studien zügig zusammenzufassen.61 In seiner Auseinandersetzung mit der Entwicklung der großen Industrie und den Auswirkungen von Maschinerie stellt er fest, dass die »unmittelbare Arbeit« immer mehr aufhöre, Quelle des Reichtums zu sein, sodass auch die Arbeitszeit aufhören müsse, das Maß des Reichtums zu sein, und damit auch der Tauschwert aufhöre, das Maß des Gebrauchswerts zu sein: »[D]amit bricht die auf dem Tauschwert ruhende Produktion zusammen...« (MEW, Bd. 42, S. 601).
Eversmann, Daum und viele andere sehen darin eine Marx‘sche Prophezeiung und projizieren diese auf das kapitalistische Projekt »Digitalisierung«: das »Reich der Freiheit« komme, die Abschaffung der Arbeit… Daum sagt in seiner Dankesrede: »Ich selbst bin nur der Überbringer, habe nur die Thesen von vielen anderen zusammengeschrieben.«62 Aber dort gibt es keine soziale Revolution von unten. Fuchs will Marx für das »Informationszeitalter« fruchtbar machen – indem er dessen sprengende Kategorien entsorgt.
Matthias Martin Becker hält nüchtern fest: »Der ›digitale Kapitalismus‹ ist keine neue Produktionsweise, nicht einmal eine neue Phase der kapitalistischen Entwicklung.«63 Tatsächlich gibt es immer mehr schlechte Jobs, die nichts mit Wertproduktion zu tun haben, aber wir sind weit weg davon, dass keine Arbeit mehr zu verrichten wäre.
Es gibt Projekte und Utopien, die uns erschaudern lassen (sollen) – wichtige Entscheidungen sollen von Maschinen getroffen werden, die Gesichter, Gerüche, Sprache, Emotionen, usw. erkennen. Hier funktioniert momentan sehr vieles nicht, aber die Stoßrichtung ist klar: mehr Überwachung gegen das Proletariat und auf Arbeit auch noch die letzten Sekunden für den Unternehmer in produktive Zeit umwandeln.
Das sind die Bedingungen, unter denen die Industriearbeiterklasse (Fabrik-, Logistik-, Krankenhaus-ArbeiterInnen…) heute sich gegen ihre weitere Aufspaltung und intensivere Ausbeutung zu wehren lernt. Ihre Kämpfe werden auch praktisch zeigen, dass sowohl kapitalistische wie sozialistische Digitalisierungs-Fans in die falsche Richtung gelaufen waren.
[1] Dietmar Poll: Logistik – der Schlüssel der Plattformökonomie, Produktion Nr. 21, 2.10.2019; ein interessanter Artikel, um zu verstehen, wie die Kapitalberater die »Welt ohne Arbeiter« bewerben: »Ein Teil der Paletten soll intelligent werden, indem sie ein Tagebuch ihrer ganzen Bewegungen führen, was über die Plattform abrufbar ist. So wird aus einem Unternehmen, das Holz zu Paletten zusammennagelt, ein Digitalunternehmen… So vernetzen sich unsere kleinen IoT [Internet of Things] Devices wie die intelligente Palette über 5G und können dann eben über die Plattformen auf beliebige Rechnerleistung zugreifen und diese für Steuerungsfunktionalität einsetzen – da die Antwort in Millisekunden kommt. Die Welt wird demnach grenzenlos – und es gibt kein unten und oben mehr.« Diese Typen scheinen ziemlich beeindruckt von Matrix, dem Film.
[2] Sabine Pfeiffer: Produktivkraft konkret – vom schweren Start der Leichtbauroboter, in: Butollo/Nuss (Hg.), Marx und die Roboter, Dietz 2019, S. 170.
[3] Timo Daum: Das Kapital sind wir – zur Kritik der digitalen Ökonomie, Nautilus 2018, S. 236.
[4] Andreas Malm: Fossil Capital – The Rise of Steam Power and the Roots of Global Warming, Verso 2016. Simon Pirani: Burning Up – a Global History of Fossil Fuel Consumption, Pluto Press 2018.
[5] Timo Daum, a.a.O. S. 59.
[6] Dorothea Schmidt: Industrielle Revolution und Mechanisierung bei Marx, in: Butollo/Nuss (Hg.): Marx und die Roboter, Dietz 2019.
[7] Romano Alquati: Organische Zusammensetzung des Kapitals und Arbeitskraft bei OLIVETTI, 1962 und 63, abgedruckt in Thekla 5, hier S. 38.
[8] Romano Alquati: Kapital und Arbeiterklasse bei FIAT – ein Mittelpunkt im internationalen Zyklus, 1967, online: www.wildcat-www.de/dossiers/operaismus/.
[9] Thekla 12: Produktive Sabotage, 1989. online: www.wildcat-www.de.
[10] Autonomie NF Nr. 9, 1982, v. a. S. 26, 29-31.
[11] Bruno Cattero: Lavorare alla Fiat, Arbeiten bei VW – Technologie, Arbeit und soziale Regulierung in der Automobilindustrie, Westfälisches Dampfboot 1998, S. 70f., S. 98, S. 171.
[12] Wildcat-Zirkular Nr. 1, Klassenkampf und Krise, 1994, S. 25 (interessant auch Martina Heßler: Die Halle 54 bei Volkswagen und die Grenzen der Automatisierung, in: Zeithistorische Forschungen 11, 2014.)
[13] Paolo Giussani: Spekulatives Wachstum, in: Wildcat Zirkular Nr. 56/57, Mai 2000. »Im Computersektor berechnete die neue Methode nicht mehr die Menge physischer Produkte pro Arbeitsstunde (1, 2 ... n Computer), sondern von Einheiten an computing power [Rechenleistung], die mit der Einführung neuer Prozessortypen maßlos ansteigt, auch wenn sich in Wirklichkeit wenig oder nichts ändert.«
[14] Kim Moody: Schnelle Technologie, langsames Wachstum – Roboter und die Zukunft der Arbeit, in: Butollo/Nuss: Marx und die Roboter, S. 134.
[15] Taiichi Ohno: Das Toyota-Produktionssystem, Campus 2009, S. 44 ff.
[16] Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Campus 2018, S. 141.
[17] In Wildcat 95 und 96 haben wir schon ausführlich das Ausmaß der Überwachung und damit verbundene Widersprüche behandelt: Wildcat 95, Winter 2013/14: NSA – a small leak will sink a great ship. Wildcat 96, Frühling 2014: Viel Daten, wenig Klarheit.
[18]Aaron Benanav: Automation and the Future of Work I, New Left Review 119, Sep/Okt 2019, S. 36.
[19] http://mouvement-communiste.com/documents/MC/Letters/LTMC1945%20ENvF.pdf.
[20] Sergio Bologna: Logistik und Transportwesen Teil I, in: Express 4/2019.
[21] Matthias Martin Becker: Industrie 4.0 – die Automatisierung der Ausbeutung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1.10.2017.
[22] Riccardo Bellofiore: Plan, Kapital, Demokratie – die Begriffe einer Debatte, in: Wildcat-Zirkular Nr. 1, 1994, S. 68.
[23] Birgit Mahnkopf: Produktiver, grüner, friedlicher? Die falschen Versprechen des digitalen Kapitalismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 10/2019.
[24] Dorothea Schmidt, a.a.O., S. 73.
[25] Sabine Pfeiffer, a.a.O., S. 169 f.
[26] Henrique S. Oliveira, Raquel Varela: Automation in Ports and Labour Relations in XXI Century, Lissabon 2017.
[27] Kim Moody, a.a.O., S. 143f.
[28] Judy Wajcman: Automatisierung – ist es diesmal wirklich anders? In: Butollo/Nuss: Marx und die Roboter, S. 26.
[29] Matthias Martin Becker: Automatisierung und Ausbeutung – was wird aus der Arbeit im digitalen Kapitalismus, Promedia 2017, S. 87.
[30] Robert Thielicke: Die Menschen hinter der Künstlichen Intelligenz, Technology Review, 10.10.2019.
[31] Kim Moody, a.a.O., S. 139.
[32] Aaron Benanav, a.a.O., S. 20, FN 40.
[33] Thekla 8: Industrieroboter – Automatisierung von Montagearbeit, 1985, S. 108. online: www.wildcat-www.de
[34] Sabine Pfeiffer, a.a.O., S. 174f.
[35] Henrik Bork: Toyota feuert die Roboter, Badische Zeitung 27.2.19, www.badische-zeitung.de
[36] So argumentiert z. B. Ralf Krämer: Wertschöpfung und Mehrwertaneignung in der digitalen Ökonomie, Z Nr. 110, Juni 2017.
[37] https://www.bea.gov/news/blog/2019-04-04/digital-economy-accounted-69-percent-gdp-2017, 4.4.19.
[38] Working Paper des BEA: Defining and Measuring the Digital Economy, 15.3.18 (PDF):
[39] Florian Rötzer: Silicon Valley boomt, aber die meisten haben nichts davon, Telepolis, 25.10.18, www.heise.de
[40] BM für Wirtschaft und Energie: Sharing Economy im Wirtschaftsraum Deutschland, Juli 2018 (PDF)
[41] Butollo/Nuss (Hg.): Marx und die Roboter, Dietz 2019, S. 12-13.
[42] Christian Meyer im selben Band auf S. 127.
[43] Matthias Martin Becker: Automatisierung und Ausbeutung, a.a.O., S. 67, 91, 164.
[44] Rede auf der Preisverleihung Das politische Buch 2018, http://dasfilter.com.
[45] Shoshana Zuboff, a.a.O., S. 24.
[46] Renato Curcio: Das virtuelle Reich – die Kolonialisierung der Fantasie und die soziale Kontrolle Bahoe 2017, S. 49, 76.
[47] Ebenda, S. 140.
[48] Timo Daum: Das Kapital sind wir, a.a.O. S. 12, 30f.
[49] Timo Daum: Das Auto im digitalen Kapitalismus, RLS 2018, S. 14.
[50] Ebenda, S. 49.
[51] Winfried Wolf: Mit dem Elektroauto in die Sackgasse – warum E-Mobilität den Klimawandel beschleunigt, Promedia 2019. Winfried Wolf: Auto-Crash, in: Lunapark 21 Heft 45, 2019.
[52]Timo Daum: Das Kapital sind wir, S. 125ff.
[53] »Um Produkte der Informationsindustrie entstehen zu lassen, bedarf es einer Menge körperlicher Arbeit.« Christian Fuchs: Zur Theoriebildung und Analyse der digitalen Arbeit, in: Z 103, 2015, S. 87.
[54]Christian Fuchs: Mehrwertproduktion im Facebook-Zeitalter, in: Jungle World Nr. 144, 24./25.06.2017, S. 7.
[55] Raf Sciortino, Steve Wright: The Spectacle of New Media: Addressing the Conceptual Nexus Between User Content and Valoriziation, in: Briziarelli/Armano (Hg): The Spectacle 2.0: Reading Debord in the Context of Digital Capitalism, University of Westminster Press, 2018, S. 83.
[56] Leigh Philips, Michal Rozworski: Peoples Republic of Walmart – how the Worlds biggest Corporations are laying the Foundation for Socialism, Verso & Jacobin, 2019, S. 114 & 11 (eigene Übersetzung).
[57] Evgeny Morozov: Digital Socialism? The Calculation Debate in the Age of Big Data, New Left Review 116/117, März/Juni 2019.
[58] Ludger Eversmann: Marx‘ Reise ins digitale Athen, Rotpunktverlag 2019, S. 13, 18, 37.
[59] Wer sich nochmal ausführlich mit der Frage beschäftigen will: siehe Riccardo Bellofiore: Plan, Kapital, Demokratie, a.a.O. S. 67.
[60] http://machineryquestion.com/notes/peoples-republic, 28.8.19 (Diese Kritik an »Volksrepublik Walmart« haben wir auf Deutsch übersetzt – wer also lieber Deutsch liest: meldet euch!)
[61] Sabine Nuss, Florian Butollo: Gegen den Fetisch der Digitalisierung, 17.10.19, www.heise.de.
[62] Das Politische Buch 2018 – Rede von Preisträger Timo Daum: www.youtube.com
[63] Matthias Martin Becker: Industrie 4.0, a.a.O., S. 107.