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24.5.2019

aus: Wildcat 103, Winter 2019

»Ibizagate«: »Haben uns die Russen zum zweiten Mal befreit?«1

Strache und andere FPÖler sind korrupte Machos, erhalten Geld von reichen Kapitalisten, lassen sich gerne mit russischen Millionären ein – wer hätte das gedacht!?

Zack-zack-zack

Parteichef HC Strache und der FPÖ-Russland-Beauftragte Gudenus sitzen 2017 in einer Finca auf Ibiza und schwadronieren über die Machtergreifung im Staate, weil eine angebliche russische Oligarchin viel (illegal erwirtschaftetes) Geld verspricht, wenn Strache und Gudenus Männchen machen. Knapp zwei Jahre später wird das Video via Süddeutsche und Spiegel veröffentlicht. Der Vizekanzler und sein Russland-Joggl treten zurück, letzterer macht auf Anhieb die Fliege – immerhin war er mal Wiener Vizebürgermeister und zum Zeitpunkt des Rücktritts geschäftsführender Klubobmann der FPÖ!

Kanzler Sebastian Kurz kündigt die Koalition ein paar Stunden nach dem Rücktritt Straches, zwei Tage später kündigt er – nach Rücksprache mit Bundespräsident Van der Bellen, einem ehemaligen Grünen-Politiker – dem FPÖ-Innenminister und rechtsradikalen Redenschreiber Herbert Kickl den Rücktritt an; daraufhin treten alle FPÖ-Minister zurück: Sozial-, Innen-, Verkehrs- und Verteidigungsministerium werden von »Experten« übernommen.

Seit 1945 hat es einige dramatische politische Krisen in Österreich gegeben (»Krauland«, Franz Olah, »Lucona/Noricum«, »Bawag«, Haider und die Hypo Alpe Adria2), aber der Ablauf und die internationale Situation (»Orbanisierung«, EU-Wahlen) sind neu.

Hilflose Opposition

Am Samstag haben viele Menschen auf den Straßen dabei zugesehen, wie es die Regierung zerfetzt. Viele haben aufgeatmet, die Gesichter der von der FPÖ immer wieder schwer angegriffenen ORF-Journalisten und der tausenden Demonstranten waren der perfekte Kontrast zu den versteinerten Mienen der FPÖ-Minister, als Strache um seinen Rücktritt herum palaverte.

Die liberalen Medien und der Journalismus empfinden das Video als Sieg, Van der Bellen spricht in einer Rede von der »Vierten Macht«, die »ihre Verantwortung voll wahrgenommen« habe. Krone-Chefredakteur Klaus Herrmann empört sich am runden Tisch im ORF, dass Strache und Gudenus die Zeitung übernehmen wollten. Herrmann trat seinen Posten 2015 an, als die Krone in der »Flüchtlingskrise« die FPÖ mit ekelhaften Phrasen monatelang gepusht hat – bis diese 2017 an die Regierung kam.

Ähnlich verlogen hatte sich Bundeskanzler Sebastian Kurz am Samstag verlautbart: »Ich musste viel schlucken mit der FPÖ.« Palaver, viel Eigenlob, Opfergetue...

Nur peinlich war SPÖ-Chefin Joy Pamela Rendi-Wagner, der zur Kritik an Kurz nichts besseres einfiel, als ständig zu wiederholen, dass es unverantwortlich gegenüber der Bevölkerung wäre, diese so lange auf eine Stellungnahme warten zu lassen. Auf die Frage, wie es denn mit der SPÖ-FPÖ Regierung im Burgenland weitergehe, verwies sie auf die für ihre Maßstäbe rechtzeitige Stellungnahme Doskozils, dem dortigen SPÖ-Landeshauptmann. Dieser ließ sich zunächst alle Optionen offen, mittlerweile wird es auch im Burgenland und in Linz Neuwahlen geben – aber nicht so schnell, man wolle ja »kein Chaos«; viele FPÖ-Leute behalten ihre Posten. In der zweitgrößten Stadt Österreichs, in Graz, und im Bundesland Oberösterreich sollen sogar die ÖVP-FPÖ-Regierungen bleiben.

Weiter so?

Jetzt sollen wir ihnen ihren »Antifaschismus« glauben, während sie alle um Stabilität und Ruhe bemüht sind. Der Präsident der Industriellenvereinigung bangt um die bestellten neoliberalen Reformen (die geplante Steuerentlastung für Unternehmer sei jetzt »völlig unklar«) und trauert: »In so kurzer Zeit so viel auf den Weg zu bringen war eine Leistung.« Kanzler Kurz versucht seine Fachkollegen zu überzeugen, dass der Misstrauensantrag gegen ihn nicht durchgeht. Und er gab Kickl sogar noch Zeit, den Höchstlohn für Flüchtlinge von 3,50 bis 5 Euro auf 1,50 pro Stunde zu drücken (Kurz hatte dafür seine Zustimmung gegeben; der neue Innenminister hat das gerade zurückgenommen).

Van der Bellen seifenopert, dass »wir Österreicher einfach nicht so sind«, gleichzeitig merkt er an, dass »das typisch österreichisch« sei (was jetzt?), zum Schluss paraphrasiert er sogar Merkel: »Wir schaffen das!« Das einzig Typische ist, dass die nackten Könige in einem Moment der Krise vor einer Zukunft ohne Könige warnen und das nationale »wir« anrufen, um die Tatsachen zu verdrehen: die repräsentative Demokratie repräsentiert niemanden mehr. Der wichtigste Punkt, mit dem sich die rechtsradikale Regierung in der Bevölkerung legitimieren konnte, war ihre so hoch gepriesene Harmonie.

Der Kampf geht erst los!

Auf der Donnerstagsdemo in Graz wurde das Ende der Demos verkündet, weil das Ziel nun »erreicht« sei!

Nach dem Scheitern der ÖVP-FPÖ-Koalition zu Beginn der Nuller-Jahre war es die SPÖ, die den neoliberalen Kurs weiterverfolgt hat – und die FPÖ kann sehr gut von der Oppositionsbank aus mit-regieren; sie hatte die Große Koalition aus ÖVP und SPÖ oft vor sich hergetrieben. Außerdem hat die FPÖ viele wichtige Posten wie Österreichische Bundesbahnen, Österreichischen Rundfunk, Nationalbank oder Autobahngesellschaft mit ihren Leuten besetzt – diese sind nicht leicht aus dem Weg zu räumen.3

Wie Sebastian Kurz wirklich tickt, war an der Verwendung der ersten Person Singular und der Vermeidung der ersten Person Plural in seiner ersten Rede zu erkennen: er sprach von dem Reformprojekt und der Partei als »ich«. Im EU-Wahlkampf versuchte Kurz mit anti-europäischen Parolen zu punkten. Vom Auftreten her ist er telegener und »wundersam wandelbar«4, aber inhaltlich unterscheiden sich Sebastian Kurz und die FPÖ nicht.

Das einzig richtige und legitime am Samstag wäre gewesen, das Bundeskanzleramt und die FPÖ-Büros zu stürmen, alle Unterlagen zu beschlagnahmen (um sehen zu können, wer noch alles in der Korruption drinhängt, bräuchten wir allerdings auch die Unterlagen aus den Büros der ÖVP...), das Gesetz für den 12-Stunden-Tag für ungültig zu erklären, Mindestlöhne, Mindestpension und Mindestsicherung (oder Sozialhilfe, wie sie nun wieder genannt werden soll) kräftig anzuheben, die legalen und illegalen Spendengelder der Parteien einkassieren, usw.

Hätte eine Bewegung die Regierung gestürzt, wäre dies durchaus vorstellbar gewesen – so kann man leider nur witzeln, dass »wir befreit wurden«. Von wem, das ist leider noch immer unklar.

Wird diese tiefste Krise des Politzirkus Momente hervorbringen, der die Unternehmer in ihrem Durchmarsch stoppt? Ist das Vertrauen in die Institutionen dermaßen erschüttert, dass wir nicht nur zusehen, sondern selber außerhalb der gewohnten, vorgefertigten Wege neue Versuche riskieren?

Dass das angesichts der Schweinereien aller Parteien und der Gewerkschaft unbedingt notwendig ist, zeigt unser Artikel zur FPÖ und zum österreichischen Sozialstaat, geschrieben im Januar 2019. Die online-Version haben wir leicht gekürzt.

Sozialstaat und FPÖ

Die von der Regierung erzeugte Stimmung ist zu spüren, in der Straßenbahn, im Einkaufszentrum, in den Schulen. Eine zunehmende Untertanenmentalität, soziale Kälte, Rassismus wird offener formuliert. Hier und da wollen sich Bürgerwehren gründen, obwohl die Kriminalität seit zehn Jahren sinkt. Gewalttaten gegen Frauen nehmen stark zu – größtenteils innerhalb der Familie und in Beziehungen. Am 19. Januar 2019 marschierten in Wiener Neustadt 600 Menschen zum Gedenken an eine 16jährige, die ein Flüchtling ermordet hatte, begleitet von 80 Bullen – organisiert hatte die Demo ein aus der FPÖ ausgeschlossener Nazi. Am selben Tag kamen zu einer Anti-Burschenschafter Demo in Graz gerade mal 200 Leute, die von Hubschraubern, Bullen und Spezialkräften aus ganz Österreich umzingelt wurden.

Die Mehrheit der Unternehmer will keinen offenen Rassismus, sie brauchen unbedingt (mehr) ausländische Arbeitskräfte – aber nach so vielen Jahren christlich-sozialem und sozialdemokratischem »Reformstau« heiligt der Zweck die Mittel: Arme, Flüchtlinge und Muslime müssen als Sündenböcke herhalten, um den Sozialstaat so umzubauen, dass wir mehr arbeiten und weniger verdienen, so dass mit der Aussicht auf mehr Gewinne Investoren angelockt werden.

Der Abbau öffentlicher Verkehrsverbindungen ist bei weitem nicht so weit wie anderswo, die Österreichischen Bundesbahnen sind per Gesetz zur »Erbringung von gemeinwirtschaftlichen Leistungen« verpflichtet (§ 6 Bundesbahngesetz). Zudem wohnen ein Drittel der Österreicher in Städten mit mehr als 50 000 Einwohnern, ein weiteres Drittel dicht um die Städte herum. Die notwendigen Wege sind kürzer als in Deutschland und Frankreich, und der Anteil der Beschäftigten, die über 30 Minuten zur Arbeit fahren, erheblich geringer.

Der österreichische Sozialstaat ist noch ziemlich weit weg von dem, was Thatcher, Schröder und Co. in ihren Ländern verbrochen haben. Er wird nun verstärkt unter Beschuss genommen. Das geht ganz ähnlich wie vor 20 Jahren unter rot-grün in der BRD: Die Fraktion des kosmopolitischen Kapitals beschwert sich regelmäßig über die aufgeblasene Verwaltung. Bundeskanzler Sebastian Kurz hetzt gegen Arbeitslose: In Wien gäbe es immer mehr Langschläfer sagte er im Januar. Gleichzeitig werden institutionelle Fakten geschaffen: Barbara Kolm, Präsidentin der Hayek-Gesellschaft wird neue Vizepräsidentin der Nationalbank (Hayek war der Wirtschaftsberater Pinochets nach dem Militärputsch in Chile). FPÖ-Sozialministerin Hartinger-Klein war von 2003-09 Geschäftsführerin und zusätzlich ab 2005 stellvertretende Generaldirektorin des AUVA-Hauptverbandes, dann beim Unternehmensberater-Konzern Deloitte im Bereich Healthcare Consulting.

Aber entgegen der neoliberalen Propaganda ist der Verwaltungsapparat in Österreich viel kleiner als im EU-Durchschnitt. Z. B. gibt es 350 000 Staatsangestellte bei 8,8 Mio. Einwohnern – in Niedersachsen gibt es 414 000 bei 8 Mio. In Skandinavien arbeitet ein Drittel der Beschäftigten im Staatsdienst, in Österreich ein Zehntel.

Was die Vermögensverteilung betrifft, ist Österreich eine überdurchschnittlich ungleiche Gesellschaft. Das hat sich seit dem EU-Beitritt 1995 verstärkt, seither sind die Vermögen massiv gestiegen, Arbeiter-Einkommen gesunken. Auch die Lohnspaltung wird größer, das unterste Einkommensquartil hat seit dem EU-Beitritt relativ am meisten verloren, die Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen sind eine der höchsten innerhalb der EU.

Der Hass der Leute auf die SPÖ ist das Schmieröl der rechten Regierung.

Die SPÖ hat die Entwicklung seit dem EU-Eintritt moderiert, die für viele eine zum schlechteren war. Sie hat dabei »sozialdemokratische Traditionsbestände« über Bord geworfen. Die Arbeiter wollen die SPÖ nicht mehr – und die Kapitalisten brauchen sie nicht mehr. Industrie, Tourismus, Agrar und Finanz, politisch organisiert in der ÖVP, haben mit der FPÖ die aktuell glaubwürdigere »Arbeiterpartei« gefunden. Sie kanalisiert die Wut geschickt weg von den Ausbeutern und radikalisiert die jahrzehntelange Praxis der SPÖ: sie spaltet den bunten Haufen der Ausgebeuteten noch heftiger in Einheimische und Fremde. Die ÖVP hat dies kopiert, und damit die Wahlen gewonnen (im Unterschied zu Bayern, wo die CSU mit einer ähnlichen Strategie abgerutscht ist).

Im momentanen Boom treffen soziale Kürzungen zunächst nur wenige. Die FPÖ pudelt sich mit allerhand Firlefanz zur »Macher-Partei« auf: schneller Autofahren, wieder rauchen dürfen im Lokal, Einkommen und Deutschkurse für Flüchtlinge kürzen, usw. In den vier Landtagswahlen in den ersten Monaten 2018 konnte die FPÖ zwei bis sieben Prozent dazugewinnen. Auffällig positive Ergebnisse hatte sie an Industriestandorten.

Die Rekordzuwanderung 2014/15 hat die seit 2011 steigende Arbeitslosigkeit zunächst noch weiter erhöht, aber ab Juli 2016 zu einem konjunkturellen Aufschwung beigetragen. Seitdem sinkt die Arbeitslosigkeit, das Wachstum lag 2018 bei 3,1 Prozent. Die Industrie steht im Zentrum des aktuellen Booms. Große Konzerne wie der Autobauer Magna und der Stahlhersteller Voestalpine haben neue Leute eingestellt, Standorte erweitert. In der Steiermark wird das erste Stahlwerk in Europa seit 40 Jahren gebaut. Ebenso expandiert die Logistik. Die Tarifabschlüsse liegen das zweite Jahr hintereinander bei über drei Prozent, Nachtschichtzulagen wurden um sechs bis sieben Prozent erhöht, usw. Damit wird die Inflation und ein Teil der Produktivitätszuwächse abgegolten.

»Boom« bedeutet aber nicht, dass »good jobs« geschaffen werden. Eher geht der Trend weiter, dass Jobs mittlerer Qualifikation weniger, und verstärkt »gering Qualifizierte« eingestellt werden. Die Lohnspaltung wird auch deshalb größer, weil dauerhafte Jobs weniger werden. Hinter dem Lieblingsargument der Sozialpartnerschaft-Fans, wonach hohe tarifvertragliche Abdeckung für gute Bedingungen sorgt, verschwindet die Realität, dass Frauen viel schlechter gestellt sind, dass es immer mehr befristete Verträge gibt, junge und neue Arbeiter in immer niedrigeren Lohngruppen beginnen sowie alte in für Unternehmer günstigere Tarifverträge verschoben werden. Und die Mieten steigen seit mehr als zehn Jahren doppelt so schnell wie die Löhne. Die neue Regierung fördert das Wohnungseigentum, damit treibt sie die Leute in die Verschuldung – und steigert die Renditen der Finanzkapitalisten. Die Wohnungsfrage kündigt sich an.

Um mehr Rendite geht es auch bei der Abschaffung der Notstandshilfe und der Zentralisierung der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt (AUVA, ein wichtiger Teil der gesetzlichen Sozialversicherung). Es geht dabei nicht um Einsparungen, sondern die Leute sollen in schlechtere Arbeitsbedingungen gezwungen und die von ihnen erarbeiteten gesetzlichen Sozialbeiträge in Gewinne für die Herrschenden umgewandelt werden. Gleichzeitig werden übrigens die Strafen für Unternehmer, die Schwarzarbeiter beschäftigen, gesenkt.

Wenn man sich die Einsparungen ausrechnet, dann kommen oft unwesentliche 0,x Prozent der Staatsausgaben raus. Den 5200 Über-18jährigen in überbetrieblicher Lehrausbildung (davon 267 Flüchtlinge) wurde die monatliche Beihilfe von 753 auf 325,80 € zusammengestrichen – spart 0,0012 Prozent der Staatsausgaben. Bundesländer mit FPÖ-Regierungsbeteiligung haben die Mindestsicherung für Asylberechtigte um die Hälfte gekürzt. Die gesamte Mindestsicherung, also inklusive ÖsterreicherInnen, macht nur 0,94 Prozent aller staatlichen Sozialausgaben aus. Es ist ein gezielter Angriff auf die Reproduktionsbedingungen des städtischen »internationalen« Proletariats: es gibt 300 000 Mindestsicherungsbezieher im Land (ein Drittel Kinder!), 200 000 davon in Wien (die Häfte davon Ausländer, 22 % Flüchtlinge, aber auch Behinderte und Rentner!).

All diese Maßnahmen werden mehr Menschen in Armut treiben (was Armutsgefährdung angeht, ist Österreich bisher EU-Durchschnitt). Wenn du nach dem Arbeitslosengeld nicht mehr in die Notstandshilfe, sondern wie geplant in die Mindestsicherung fällst, dann geht dir der Staat an dein Erspartes oder Aufgebautes. (Mindestsicherung: Wenn man sein Erspartes bis auf 4200 € aufgebraucht hat, dann gibt es zwölfmal im Jahr 838 € für Alleinstehende, Krankenversicherung inklusive. Personen in Lebensgemeinschaften bekommen anderthalb mal so viel. Bei Besitz von Immobilien, konnte der Staat bisher nach sechs Monaten Bezug seine Zahlungen im Grundbuch absichern. Neu beschlossen: 863 € bzw. 1208 €, Erspartes aufbrauchen bis 5200 €, Einschreiben ins Grundbuch erst nach drei Jahren.) Das wird der FPÖ-Basis weh tun, etwa dem 55jährigen Ex-Facharbeiter mit Eigenheim, den niemand mehr einstellt; der gelernte Schlosser wird im Supermarkt-Lager schinden müssen. Schon jetzt werden die Wartezeiten im Krankenhaus länger, die Behandlungen schlechter. Wer es sich leisten kann, schließt Zusatzversicherungen ab, oder besticht den Arzt – beides de facto eine Lohnsenkung.

Das neue Arbeitszeitgesetz

In Ungarn hat sich sehr rasch Widerstand an der Ausweitung von Überstunden entzündet – genauso wie im ersten Halbjahr 2018 in Österreich, wo die Regierung per September 2018 die täglich legale Höchstarbeitszeit von zehn auf zwölf Stunden erhöht hat. Zunächst hat sie damit die illegale Mehrarbeit von bestimmten Angestelltenschichten (»Kreative«, Techniker…) und die schlimmsten Bedingungen in Tourismus/Gastronomie legalisiert. Österreich ist damit gleichgezogen mit Großbritannien, Schweden, Irland, Dänemark, Niederlande, Ungarn, Griechenland, Frankreich, der Slowakei und Belgien. Interessanterweise wurde in einigen dieser Länder trotz einer Zwölf-Stunden-Obergrenze real weniger gearbeitet als in einem Österreich mit Zehn-Stunden-Obergrenze.

Um drei Dinge geht es beim Gesetz wirklich: Exportquote erhöhen durch Senkung der Arbeitskosten, den Tourismusmanagern ihren Hunger nach Mehrarbeit stillen, und den mehrheitlich sozialdemokratischen Betriebsräten und Gewerkschaften die Schneid abkaufen. Mit denen oder mit Arbeitsinspektoren/Ärzten mussten bisher Unternehmer abklären, ob zwölf Stunden gearbeitet werden dürfen; dafür brauchte es eine Betriebsvereinbarung.

Der Österreichische Gewerkschaftsbund und die Sozialdemokratie haben gegen das neue Gesetz breit, aber völlig harmlos mobilisiert. Der Höhepunkt war eine 100 000 Leute Demo durch Wien – an einem Samstag. Wenn man bedenkt, dass es nicht einen Fall gab, wo sich ein Betriebsrat wirklich gegen eine Zwölf-Stunden-Schicht gestellt hat und dass es schon lange vor dem Gesetz unzählige Transportbetriebe, Gießereien, Fabriken, usw. mit zwölf-Stunden-Schichten gab, dann versteht man, dass die SPÖ Oppositionspolitik heuchelt (2017 hatte SPÖ-Kanzler Kern einen ähnlichen »Plan A« zur Arbeitszeitflexibilisierung). Nach der Massendemo im Juni wurde es wieder still, weil wie immer ein »heißer Herbst« folgen sollte. Das einzig heiße war dann der Leberkäse in den Metaller-Mittagspausen, was im Gewerkschaftssprech »Warnstreik« heißt. Resultat: für die elfte und zwölfte Überstunde gibt es ab Juli 2019 100 Prozent Zuschlag. Die Kapitalisten brechen dir die Knochen, die Gewerkschafter kleben dir ein Pflaster drauf.

Die Mehrheit der Industrie-, Handels-, Tourismusarbeiter ist gegen das neue Gesetz. Manche, die FPÖ gewählt haben, sind enttäuscht und wütend. Aufgrund des Arbeitszeitgesetzes kriegt die Regierung aus den eigenen Parteien Gegenwind: z. B. vom Österreichischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerbund, der Arbeiter-Organisation der ÖVP. Im Juli kündigten christlich-soziale Gewerkschafter ihren Austritt an. In der FPÖ gab es ähnliche Fälle. – Am Hass gegen die SPÖ hat die gewerkschaftliche Mobilisierung nichts geändert.

In den Städten

Anfang Oktober 2018 haben Linke in Wien die »Donnerstagsdemos« wiederbelebt, die gegen die ÖVP-FPÖ-Regierung im Jahr 2000 organisiert worden waren. Viele tausend Leute machen mit, seit Ende November auch in anderen Städten. Mitte Dezember waren 2000 Leute in Graz und 20 000 in Wien auf der Straße, gleichzeitig mit den 3000 in Budapest, wo sich manche gelbe Westen angezogen hatten. Zur selben Zeit fanden große Anti-Regierungs-Proteste auch in Belgrad statt (»Frankreich, Serbien – Revolution!«). Organisatorische Verbindungen zwischen den Städten gibt es allerdings keine, jedes Land demonstriert gegen seine »autoritäre Regierung«.

Außerhalb der Städte

ist der Widerstand gegen Abschiebungen oder menschenunwürdige Ayslunterkünfte breit. Vom Nachbarn bis zur Bürgermeisterin stehen die Leute den Abschiebebullen im Weg, in Niederösterreich gab es Demos (dort streitet die ÖVP-Landeshauptfrau gegen den FPÖ-Landesrat für Asyl und Integration). In Vorarlberg wurde Bundeskanzler Sebastian Kurz bei einem Auftritt scharf angegangen…

Diese Bewegungen sind wichtig und sie relativieren die eingangs erwähnte kalte soziale Stimmung. Aber es geht drum, diese Solidarität und diesen Zusammenhalt nachhaltig in die Betriebe zu bringen. Dazu eine kleine Anekdote: Als ich die Kollegen im Betrieb fragte, ob sie Schutzausrüstung für eine Techniker-Schulklasse mit Flüchtlingen spenden könnten, hatte ich an einem Tag vier volle Rucksäcke zusammen. Links, rechts, FPÖ war dabei kein Thema.

Fußnoten:

[1] Transpi eines Demonstranten am 18.5.2019 am Wiener Ballhausplatz

[2] Siehe Wildcat 96: Österreich: Krise, Korruption, Kämpfe

[3] Renate Graber, Andreas Schnauder: Das große Zittern der blauen Manager vor dem Rausschmiss; Der Standard 20. Mai 2019

[4] Herbert Lackner: Sebastian Kurz: Wundersam wandelbar; Die Zeit 21. Mai 2019

 
 
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