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15.11.2022

aus: Wildcat 102, Herbst 2018

LOGISTIK IST DIE LOGIK DES KAPITALS

von Anna Curcio und Gigi Roggero

Der Text erschien im März 2018 online in der Sondernummer der 1989 eingestellten Zeitschrift Primo Maggio. Das PDF der gesamten Ausgabe kann von der Website der Fondazione Micheletti heruntergeladen werden.

Beginnen wir mit der Überschrift. Diese These hat ein TNT-Beschäftigter aus Bologna bei einer Diskussion in Padua formuliert. Bologna und Padua, die Emilia und der italienische Nordosten, sind zwei wichtige Logistikknoten in Italien – und zwei wichtige Knotenpunkte des Kampfzyklus im und gegen dieses System, der seinen Höhepunkt zwischen 2011 und 2014 hatte. Bei der Diskussion waren auch AktivistInnen, Studierende und prekäre ArbeiterInnen dabei sowie S.I.COBAS und ADL COBAS, die beiden Basisgewerkschaften, die in diesem Kampfzyklus eine wichtige Rolle spielten. Kommen wir gleich zu dessen »Ende« oder besser zu dem, was auf diesen Kampfzyklus folgte. Die Logistik-Unternehmen waren von den Kämpfen zu nächst überrascht worden und erlitten sowohl große finanzielle Verluste als auch deutliche Image­ schäden. Aber es ist ihnen auch zumindest teilweise gelungen, die Kämpfe für einen Schritt nach vorn in Bezug auf organisatorische, produktive und in begrenztem Ausmaß auch technologische Erneuerung zu nutzen – denn die italienische Logistik ist international gesehen ziemlich rückständig. Diese Rückständigkeit (geringe Prozessautomatisierung und Überausbeutung einer rassistisch gespaltenen Arbeitskraft, der nur Hilfsarbeiterlöhne gezahlt werden) haben die ArbeiterInnen zu ihrem Kampf terrain gemacht. Als Antwort schickten die Unternehmer nicht nur die Polizei zu den Streikposten – das tun sie auch heute noch gelegentlich –, sondern sie haben den Konflikt auch für ihre Zwecke ausgenutzt und neue Ebenen der Beherrschung der Arbeitskraft geschaffen.

Im Folgenden konzentrieren wir uns auf das, was zwischen der Logik des Kapitals und dem Ergebnis des Kampfzyklus stand. Wir nehmen den Kern des Konflikts in den Fokus, analysieren seine Zusammensetzung und die Dynamiken von Subjektwerdung, um die Vorgeschichte des Kampfes zu verstehen und welche verschiedenen Möglichkeiten es darin gab, um dann über Stärken, Schwächen und offene Probleme nachzudenken. Zuvor sind jedoch ein paar Anmerkungen notwendig.

Erstens beruht der Artikel auf dem Material einer fortlaufenden militanten Untersuchung.1 Das meinen wir nicht nur in dem Sinn, dass AktivistInnen die Untersuchung gemacht haben. Sondern wir wollen betonen, dass die Untersuchung ein grundlegendes Instrument dafür war, Wissen zu erlangen, das organisierend gewirkt hat. Studierende und prekäre ArbeiterInnen haben sich an den Streikposten, an den Streiks und an den Mobilisierungen der facchini della logistica2 beteiligt – nicht allein aus Solidarität, sondern weil sie darin die Möglichkeit sahen, einen gemeinsamen Rahmen auch für ihre Kämpfe zu schaffen. Wir wollen die offenkundigen Unterschiede in der Lebensführung und in der Art der Arbeit der verschiedenen Subjekte nicht ideologisch vom Tisch wischen. Aber für eine gewisse Zeit konnten diese Unterschiede gut miteinander verbunden werden, weil gemeinsame Feinde und ein gemeinsamer Kampf ausgemacht wurden. Daraus hat sich eine oft kontroverse Zusammenarbeit ergeben, mit Unterschieden in Wissen, Praxis und Kompetenzen, die sich ergänzt, überschnitten und aufgeteilt haben. So war es möglich, in und außerhalb der Warenlager zu agieren, es mit den Polizeikordons aufzunehmen, die Gewerkschaftsebene zu benutzen, die großen Marken zu boykottieren, in der Öffentlichkeit gegen die LegaCoop zu demonstrieren (zum Beispiel in Bologna, als sich die Streiks bei Granarolo in die Stadt hinein ausgeweitet haben) und sowohl über unabhängige als auch über die Mainstream-Medien zu kommunizieren. Als das Verhältnis zwischen Externen und Kämpfen der facchini wieder von reiner Solidarität bestimmt war, hat sich das Potential dieser Kämpfe zunehmend erschöpft.

Zweitens: Die Abgrenzung unseres Untersuchungsfeldes entspricht der Abgrenzung der Kämpfe, über die wir hier reden. Wir beziehen uns auf die Verteilungslogistik und insbesondere auf die Kämpfe in den Warenverteilzentren; die Schwierigkeit oder Unfähigkeit, über diese Branche hinauszugehen und das ganze System und somit einen entscheidenden Knotenpunkt der kapitalistischen Logik herauszufordern, bildet eine der Grenzen der Kämpfe. Vor diesem Hintergrund haben wir unsere Untersuchung in der Emilia, genauer zwischen Piacenza und Bologna, durchgeführt. Nicht weil diese Gegend wichtiger wäre als andere Orte, im Gegenteil: Die Organisierungsprozesse der Arbeiter im Veneto sind beispielsweise tiefer verwurzelt und in gewisser Hinsicht dichter.3 Sondern weil das ganz einfach die Gegend ist, in der wir politisch ­arbeiten; von hier aus versuchen wir, Analysen zu machen, die gleichzeitig spezifisch, aber auch zumindest teilweise verallgemeinerbar sind.

Die Kämpfe gegen das System der Kooperativen

Die Kämpfe in der Logistikbranche haben sich geografisch alle in der Po-Ebene abgespielt, einem regelrechten hub für die Warenzirkulation in Italien. Hier gab es mindestens drei Phasen: Zwischen 2008 und 2010 nahmen im Hinterland der Metropole Mailand die Kämpfe an Umfang zu, fast gleichzeitig kam es in den Lagerhäusern im Nordosten, besonders in Verona und Padua, zu Tarifverhandlungen und Kämpfen; auf der anderen Seite des Po begannen die Kämpfe mit den Blockaden bei TNT und Ikea, konzentrierten sich im Logistikzentrum von Piacenza und breiteten sich dann in die Emilia aus, wo sie in Bologna ihren Höhepunkt erreichten. Zu einer Verbindung dieser drei unterschiedlichen Gebiete kam es mit der Blockade beim ersten italienweiten Streik am 22. März 2013. Die Streikbeteiligung war in diesen Gebieten sehr hoch, sie lag teilweise bei fast 100 Prozent.

Mailand, Piacenza, Bologna, Verona und Padua (Epizentrum und Ursprungsort der Kämpfe), sind gleichzeitig Knotenpunkte der Warenzirkulation in Italien und in Europa, die Po-Ebene mit ihrem dichten Straßennetz verbindet die Häfen von Genua und Venedig, über die der Warenverkehr mit dem Nahen Osten und Nordafrika läuft. Nicht zufällig hat ein Gigant des globalen Vertriebs wie Ikea sein größtes europäisches Lager in Europa in Piacenza gebaut und Amazon sich in derselben Gegend angesiedelt. Die deutsche Gruppe Hangartner4 hat Läger im Interporto [Güterverteilzentrum] von Verona aufgekauft und betreibt die Eisenbahn- Terminals, über die der gesamte Import/Export von Obst und ­Gemüse zwischen dem Nahen Osten, Spanien, Lateinamerika und Nordeuropa läuft.

In diesem ausgedehnten Gebiet haben die Logistik-Kooperativen und die großen Marken des globalen Vertriebs (Amazon, Ikea ...) somit eine leis­tungsfähige Quelle der Verwertung gefunden, weil hier die Zirkulationsprozesse zügig und linear abgewickelt werden können. Es ist somit nicht erstaunlich, dass die Logistikbranche in Italien nur teilweise von der globalen Krise betroffen war, die nun zehn Jahre andauert. Die Import/Export-Branche war die einzige, die im Plus blieb, der Containerverkehr hat das stagnierende BIP gestützt.

Im Unterschied zu anderen Ländern, wo in Automatisierung und Digitalisierung investiert wurde, beruhen in Italien die Gewinne der Branche seit langem auf der Ausbeutung gering qualifizierter – oder zumindest gering bezahlter – Arbeitskraft. Es sind meist MigrantInnen, die zwar oft einen Schulabschuss oder sogar Uni-Abschluss in der Tasche haben, aber aufgrund ihres Aufenthaltsstatus und des Grenzregimes erpressbar sind. Diese LogistikarbeiterInnen sind in den wie Matrioschkas verschachtelten Kooperativen gelandet. Durch dieses ureigene italienische Modell konnte der landesweite Tarifvertrag ausgehebelt werden. Es besteht aus mehreren Akteuren: Viele der Kooperativen sind rein »fiktiv«, das heißt, sie bestehen nur auf dem Papier und wurden ausschließlich zu dem Zweck gegründet, die Gesetze zu umgehen; zuweilen sind es Flight-by-night-Gesellschaften, die entstehen, verschwinden oder schnell den Namen ändern – was auch finanziell Vorteile bringt.5 Einer der Streikführer bei TNT in Piacenza 2011 und im nach- folgenden Kampfzyklus beschrieb es folgendermaßen: »[Diese Kooperativen] wechseln alle zwei Jahre den Namen, so müssen sie keine Sozialabgaben zahlen und verarschen ihre Beschäftigten [oder sie] benutzen mehrere Strohmänner; unter den Inhabern sind 80-Jährige, die juristisch nicht mehr zu belangen sind.«

Das Adjektiv »fiktiv« birgt allerdings die Gefahr, die Sache falsch zu beschreiben, so als könne das Problem durch mehr gesetzliche Überwachung und Handeln der Justiz gelöst werden. Denn die wahren Hauptakteure sind die großen Kooperativen der LegaCoop, sie ziehen die meisten Profite aus diesem System. Sowohl in der »roten« Emilia als auch landesweit haben sie größte wirtschaftliche Bedeutung (als Beleg reicht ein Beispiel: Während 2014 die Logistikarbeiter gegen dieses System ankämpften, wurde der ehemalige Präsident der LegaCoop ­ Poletti Arbeitsminister).

Wenig überraschend sind über 98 Prozent der bei den Kooperativen der Logistikbranche Beschäftigten MigrantInnen, die im engmaschigen Netz von Deregulierung der Arbeit und Migrations­ gesetzen, dem berüchtigten »Bossi-Fini«-Gesetz, gefangen sind. Dieses entfaltet seine Wirkung vor allem auf dem Arbeitsmarkt, was noch einmal zeigt, dass das Grenzregime vor allem ein Mittel zur Abwertung der Arbeitskraft ist, sprich zur Erhöhung der Erpressbarkeit und Ausbeutung der Migrant­ Innen. Auch an diesem Fall kann man sehen, wie die Konkurrenz zwischen einheimischen und zugewanderten ArbeiterInnen um zumeist dequalifizierte Arbeitsplätze und um sozialpolitische Brosamen sowohl real als auch künstlich konstruiert ist, das Ergebnis politischer Entscheidungen und politischer Absichten. Es liegt auf der Hand, dass die Rechte diesen Effekt benutzt und in rassistische Konkurrenz umdeutet, aber die Ursache für diese perverse Situation ist zum großen Teil die politische Praxis der Linken (wenn wir mal das Sys­tem der Kooperativen dazuzählen).

In den Lagerhäusern

Um die spezifischen Ausbeutungsformen in diesem Abschnitt der Logistikkette zu verstehen, müssen wir kurz die Arbeitsorganisation in den Lägern erklären, wo die wichtigsten der hier behandelten Kämpfe stattfanden. Im Zentrum steht ein Vorgesetzter, ein richtiggehender caporale, wie ihn viele Arbeiter nennen. Er legt die Schichten fest nach einem hierarchischen System, das auf Unterwürfigkeit und Gehorsam beruht, sowie auf rassistischen Abstufungen, mit denen die Arbeiter systematisch gespalten und somit regierbar gemacht werden. Jede Woche legt der caporale für jeden Arbeiter die Anzahl der Stunden fest; davon hängt ab, was in der Lohntüte landet. Häufig bekamen die in den Kämpfen aktivsten Arbeiter sehr viel weniger Stunden oder man teilte ihnen mit, sie seien vorübergehend freigestellt, um sie für gewerkschaftliche Aktivitäten oder aufmüpfiges Verhalten zu bestrafen. Solche Methoden beschreiben die Arbeiter als Erpressung im Mafia-Stil: »IKEA + CGS- coop = MAFIA« stand auf einem Spruchband des bestreikten Lagers in Piacenza (CGS = Consorzio Gestione Servizi ist einer der vielen Akteure in diesem Sumpf ). Hinzu kommen physische Gewalt und Sachbeschädigungen, was an das Handeln der Unternehmer und ihrer Schergen in den USA zu Beginn des 19. Jahrhunderts erinnert. So wurden während der Kämpfe einige Arbeiter bedroht und körperlich angegriffen oder man schlitzte an ihren Autos die Reifen. In den Lägern, in denen die wenigen Frauen in der Branche arbeiten, kam es nicht selten zu Belästigungen und mehr oder weniger explizitem sexuellen Missbrauch. Bei der Kooperative Mr. Job, die für die E-commerce-Marke Yoox die Klamotten verpackt, hat das zur Rebellion der Beschäftigten geführt und zu einem langen, radikalen Kampf im Interporto von Bologna. Hier waren die Frauen an vorderster Front und haben aufgezeigt, wie die Geschlechterfrage im Ausbeutungssystem funktioniert. Im juristischen Nachgang wurden die verantwortlichen Führungskräfte zwar verurteilt, aber das ist nicht das Wichtigste, weil es hier nicht um Einzelfälle, sondern ganz allgemein um die Machtverhältnisse in den Lägern geht – das haben die Streiks und die Streikposten der Arbeiterinnen mit aller Macht offengelegt.

Mit diesen brutalen Methoden konnte der Arbeitsprozess (zumindest von 2011 bis 2013) beschleunigt werden, als die Branche auf der Welle der in der Krise zunehmenden Exporte expandierte. Die Ausbeutung wurde intensiviert. 2011 wurden bei TNT in Piacenza 200 Arbeiter gezwungen, die Arbeit von 500 facchini zu machen. Hier nahmen die Streiks ihren Anfang, sprangen auf Ikea über und breiteten sich dann in der ganzen Emilia aus. Die Arbeiter erzählen, dass ein Vorgesetzter mit seiner Stimme das Arbeitstempo vorgab. »Tag und Nacht brüllte er ›eins zwei! eins zwei! eins, zwei!‹, wie eine kaputte CD«, erzählt ein Arbeiter. Damit konnte TNT die Arbeitskosten um mehr als die Hälfte senken und die Produktivität deutlich steigern.

Im Ikea-Lager von Piacenza mussten im Juni 2012 nicht mehr 12 bis 13 »Reihen« ausgeladen werden, sondern 35. Auch hier war die gesteigerte Produktivität mit keinerlei Lohnerhöhung verbunden, nur die physischen Beschwerden der Arbeiter nahmen zu: Bandscheibenvorfälle, Gelenkprobleme, Haltungsschäden; diese wurden oft nicht als von der Arbeit verursacht anerkannt. Als die facchini dann gegen die Erhöhung des Arbeitstempos streikten, strich man vielen von ihnen den Arbeitstag auf vier Stunden zusammen und stellte sie zwei Tage in der Woche frei. Am Ende des Monats kamen sie dann auf 400 Euro. In den Lägern von CTL (Cooperativa Trasporto Latte), die in Bologna die Molkereiprodukte für Granarolo verteilt, beklagten sich die Arbeiter über lange Arbeitszeiten in den Kühlhäusern; bei Temperaturen um die vier Grad mussten sie ohne passende Ausrüstung arbeiten – ein weiterer Grund für das wachsende Unbehagen unter den facchini. Täglich werden von diesem Lager aus Waren nach Italien, Deutschland und Russland verschickt. Von 80 Beschäftigten pro Schicht arbeiten etwa 20 als Staplerfahrer und 50 als Picker. In zahllosen Interviews, die wir vor den Toren oder während der langen Stunden vor Sonnenaufgang beim Streikpostenstehen gemacht haben, erzählten die Arbeiter immer wieder Sachen wie diese: »Jeder hat seine ›Pistole‹ [Kombinierter Handscanner] mit den Arbeitsvorgaben: welche Packstücke auf welche Palette und das Tor, wo diese abzustellen ist. Deine Arbeit ist zu Ende, wenn du alles abgearbeitet hast. Normalerweise arbeiten wir von 14 Uhr bis 20 oder 21 Uhr. Aber am Ende des Monats kommen die meisten nicht auf ihre 168 Stunden, sie kriegen nie den vollen Lohn, auch die nicht, die Überstunden machen.« (Aadil) »Der Leiter der Kooperative hat im Lager ein Klima der Angst etabliert. Wenn du nicht mehr als 200 Packstücke in der Stunde schaffst, schickt er dich in unbezahlten Urlaub, obwohl im Vertrag 180 Packstücke stehen.« (Bharat)

Arbeitsorganisation mittels rassistischer Spaltung

In der Branche arbeiten überwiegend MigrantInnen, in der Emilia Romagna kommen sie meist aus dem Maghreb (Ägypten, Marokko, Tunesien); weniger zahlreich, aber dennoch stark vertreten sind Leute aus Osteuropa, aus Afrika südlich der Sahara und aus Südasien (vor allem aus Bangladesch). Insbesondere viele Maghrebiner wurden im Herkunftsland von Arbeitsvermittlern rekrutiert; diese bewegen sich in einer gesetzlichen Grauzone und machen gute Schnitte damit. Es kommen zumeist Männer, zum großen Teil junge und sehr junge, durchschnittlich gebildet, oft mit Schulabschluss, manche sogar mit Hochschulabschluss oder an der Uni eingeschrieben. Einige sind auch in Italien geboren oder hier aufgewachsen, die sogenannte »zweite Generation«.

In den Lägern ist die Hierarchisierung der Arbeiter entlang rassistischer Kriterien ein Mittel zur Organisierung der Arbeit. Ein Beispiel unter vielen ist die Firma Cogefrin, die den Import/Export von Plastik aus arabischen Ländern nach Europa betreibt. Hassan erzählt: »Es gibt etwa 30 Operatoren. Die Ausländer arbeiten im Freien. Regen, Schnee, Sonne ... wir sind immer da und wir arbeiten länger: von 7.30 Uhr bis 22 Uhr. Wir laden und entladen Material, das entweder offen im Container oder in Säcken ankommt. Ich hab zum Glück gelernt, mit Maschinen zu arbeiten, und entlade die Container – was allerdings eine gefährliche Arbeit ist. Die anderen müssen 25-kg-Säcke mit der Hand aus dem Behälter nehmen und auf ein Förderband werfen. In jedem Behälter sind 20 Paletten à 55 Säcke. Wir entladen sieben Behälter am Tag, vier Personen bewegen ungefähr 200 Tonnen Ware.«

Die besondere Zusammensetzung der Arbeitskraft, die erwähnten Formen von Erpressung, die Organisation der Läger sowie die Kontrolle und Verwaltung der migrantischen Arbeit in Euro­pa: All dies hat zu einer deutlichen Senkung der Arbeitskosten und einem Wegfall von Regulierung und Schutzgesetzen im Bereich der Distributionslogistik geführt. In den Jahren, als sich die Kämpfe entwickelten, war der Durchschnittslohn (relativ und teilweise sogar absolut) deutlich niedriger als in den 90er Jahren. Die Logistikfirmen konnten Produktivität und Profite deutlich erhöhen. Ein Spruch­band bei Ikea in Piacenza brachte die Sache auf den Punkt: »Coop. Facchinaggio = Sklavenhalterei«.

Die unterschiedlichen Nationalitäten wurden gezielt gegeneinander ausgespielt, um Solidarisierungs- und Vereinheitlichungsprozesse unter den Arbeitern zu unterbinden. Man teilte die Arbeiter nach Stereotypen ein: Ägypter sind »Spitzel«, die Maghrebiner werden in Konkurrenz zu Russen und Rumänen gesetzt, wer am besten arbeitet, Asiaten gelten als fügsam und verschlossen usw. Hier ist der Rassismus keine moralische oder humanitäre Frage und hängt nicht davon ab, ob jemand mehr oder weniger tolerant oder kosmopolitisch ist, im Gegenteil: Der Rassismus ist etwas verdammt Materielles, das Neuzusammensetzungsprozesse in der Klasse behindern oder auch ermöglichen kann. Nur der Kampf und die ihn begleitenden Emanzipationssprozesse können ihn infrage stellen, bekämpfen oder zerstören, nicht vorbildliches Bewusstsein. Das hat uns ein Arbeiter von TNT klargemacht, als wir zusammen Streikposten vor Ikea in Piacenza standen: »Die Unternehmer haben bei mir die Krankheit Rassismus ausgelöst. Ich war rassistisch geworden gegenüber meinen Arbeitskollegen aus anderen Ländern. Die Vorarbeiter sagen zu den Marokkanern, die Tunesier würden besser arbeiten, zu den Tunesiern sagen sie, die Rumänen oder die Ägypter seien besser. Im Kampf gegen die Ausbeutung haben wir uns zusammengeschlossen und haben auch den Rassismus besiegt. Jetzt wissen wir, dass wir alle gleich sind, weil wir Arbeiter sind.«

Außerdem bringen die migrantischen Arbeiter, wie auch früher schon, direkte oder indirekte Erfahrungen mit anderen Kampfformen aus ihren Herkunftsgebieten mit. Als in der Po-Ebene die Kämpfe losgingen, in denen nordafrikanische facchini eine wichtige Rolle spielten, breiteten sich in Tunesien und Ägypten gerade die Aufstände aus, denen man im Westen den Namen »Arabischer Frühling« verpasst hat. Nicht zufällig sprachen viele Arbeiter von einer »Revolution in der Logistik« ‒ als rotem Faden zu den Vorgängen in ihren Herkunftsländern und um ihren subjektiven Hintergrund klarzumachen.

Subjektivierung und »Arbeitergebrauch der Gewerkschaft«

Als Erstes gingen die Kämpfe die Spaltungslinien in der Arbeiterzusammensetzung an, die entlang von Hautfarbe und Nationalität konstruiert worden waren; genau da, wo der Unternehmer Spaltung und Hierarchie gesät hatte, kam es zu Vereinigungsprozessen. Die gemeinsamen Bedingungen der dem Kommando und der Ausbeutung unterworfenen Arbeiter wurden zum Kampfterrain und zur Waffe in den Händen der Arbeiter. In den Debatten rund um Streiks und Streikposten wurde häufig Bezug genommen auf die Erfahrungen der IWW: aufgrund der starken Präsenz mobiler Arbeitskraft, weil andere Formen und Modelle von Konfliktaustragung ausprobiert wurden als die gewerkschaftsüblichen und weil man »die Unorganisierbaren organisieren« wollte. Spürbar war dieser Bezug auch in der Wiederbelebung der bekannten Parole »Ein Unrecht gegen einen ist ein Unrecht gegen alle«, die uns einer der kämpfenden Arbeiter bei Ikea erklärte: »Wir haben gelernt, dass der Unternehmer herrscht, wenn die Arbeiter gespalten sind. Wenn sie einen angreifen, greifen sie alle an.«

In den Kämpfen haben sich durch Angst und Erpressung Unterworfene in Subjekte verwandelt, die die Kommandostrukturen stürzen können. Die Vereinigung der Arbeiter in den Lägern und der Kampf gegen die Überausbeutung mit unbefristeten Streiks, Streikposten und Blockaden der Warenflüsse hat den Unternehmen beträchtliche Schäden zugefügt. Die Kämpfe wirkten ansteckend: Die Läger verschiedener Marken in Güterverteilzentren von Piacenza bis Bologna sind eins nach dem anderen in den Kampf gegangen. Dabei konnten die Arbeiter sehr oft – nicht immer – einen Teil ihrer Forderungen durchsetzen (von der Zulassung selbstorganisierter gewerkschaftlicher Aktivitäten bis zu konkreten Verbesserungen bei Arbeitsintensität und Lohn, von der Wiedereinstellung entlassener KollegInnen bis zur Auszahlung von Lohnrückständen).

Die besondere subjektive Zusammensetzung, die wir hier kurz beschrieben haben, hat sich im Verlauf der Kämpfe verwandelt. Sie konnte zumindest auf den unteren bis mittleren Ebenen des Systems ihr Wissen über die spezifischen Mechanismen und das empfindliche Räderwerk des Zirkulations- und Warenverteilprozesses nutzen. Noch bevor sich in den Hubs der Emilia die Bereitschaft zum Kampf und dessen konkrete Formen herausbildeten, war schon eine Ablehnung der üblichen, rein symbolischen Kampfformen der traditionellen6 Gewerkschaften zu spüren. Ein TNT-Arbeiter hat dies treffend erklärt: »Wenn du mit der Fahne losgehst und einen traditionellen Streik machst, oder wenn du aufs Dach steigst, dann kannst du dort den Rest deines Lebens verbringen, du wirst nichts ändern. Schluss mit Hungerstreiks und solchen Sachen! Hungern soll der Unternehmer! Uns reicht schon das Leid, das wir jeden Tag am Arbeitsplatz erfahren.« Hinter dem aus Gewerkschaftssicht fügsamen, passiven Verhalten dieses Teils der Klassenzusammensetzung verbarg sich in Wirklichkeit die Bereitschaft zu einem Kampf, der »dem Unternehmer weh tut«, um tatsächliche Verbesserungen der eigenen Lebens- und Arbeitsbedingungen durchzusetzen.

Die Arbeiter hatten verstanden, dass sie ihr gesammeltes Wissen in Bezug auf Mengen und zeitliche Abläufe der Warenflüsse nutzen mussten, wenn sie dem Unternehmer hohe Verluste zufügen wollten. So konnten sie Kampfformen anwenden, die den Warenfluss in den Momenten blockierten, wenn der Schaden am größten war. Dazu durften ihre Aktionen nicht vorhersehbar sein, deshalb waren die meisten Streiks in diesem Kampfzyklus »wild«. Die Mobilität der Waren wurde zur Mobilität der Kämpfe. Während die Unternehmer versuchten, Produktion und Distribution zu verlagern, um die Blockaden zu umgehen, wurden auf der anderen Seite richtige Ketten zwischen verschiedenen Warenlagern an unterschiedlichen Orten aufgebaut, eine Koordinierung, die ein großes Gebiet zwischen Piacenza, Modena und Bologna abdeckte. Diese räumliche Ausdehnung der Konflikte wurde dann in den »Generalstreiks« der Branche wiederholt.

Vor dem Hintergrund der Gleichgültigkeit und Ablehnung der traditionellen Gewerkschaften gegenüber diesen Kämpfen in der Logistik müssen wir nun auf das Verhältnis der Arbeiter, die vorher meist keine politischen Kampferfahrungen hatten, zu den Basisgewerkschaften zu sprechen kommen. Insbesondere auf S.I.COBAS , die Gewerkschaft, die in der Emilia am stärksten präsent war. Anhand zweier Fälle wollen wir dies verdeutlichen. Im ersten geht es um den Beginn der Organisierung des Kampfes bei TNT in Piacenza im Jahr 2011. Einer seiner Anführer, der ägyptische Arbeiter Mohamed Arafat, beschreibt das sehr klar:7

»Die ursprüngliche Gruppe bestand aus etwa 20 Arbeitern, von insgesamt 380. Ich bin von Haus zu Haus gegangen und habe unseren Arbeitsvertrag erklärt, wie sie uns ausgebeutet und was sie uns über Jahre hinweg vorenthalten haben. Ich habe gesagt, wir dürfen das nicht mehr hinnehmen, wie sie auf unserer Würde herumtrampeln. Ich habe die Arbeiter geschult, habe jedem Aufgaben zugeteilt, um die Gruppe zu vergrößern. Die Leiter haben mich gerufen, um mich zu warnen: Sie wüssten von den Versammlungen bei mir zuhause. Also warum dann nicht in der Stadt offen herumgehen, um alle zu überzeugen? Ich bin in 50 bis 60 Wohnungen gegangen, in den Tagen darauf haben wir bei TNT einen einen großen Sprung gemacht. Viele kamen und sagten mir, dass sie auch ausgebeutet werden und leiden und dass sie beim Kampf mitmachen wollen. Manchmal muss man ›lügen‹, um den anderen Mut zu machen. Als wir 20 waren, habe ich gesagt, die anderen ständen hinter uns, auch wenn sie nicht zu den Treffen kommen, und dass wir 100 seien – und dann waren wir zwei, drei Tage später tatsächlich an diesem Punkt! [...] Wir wussten noch nicht einmal, was ›Gewerkschaft‹ bedeutet. Die kannten wir als Dienstleis­tungsagentur, zur Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, für Familienzusammenführungen oder wenn wir ei- nen Antrag ausfüllen mussten. Wir haben uns nie an sie gewandt, um Rechte einzufordern, denn wenn sich jemand beschwert hat, sagten sie nur: ›Arbeite und gib Ruhe‹. Sie haben vergessen, wie man kämpft. Deshalb habe ich mich auf die Suche nach einer Gewerkschaft gemacht, die uns bei unseren Kämpfen unterstützt, so wie wir einen Kampf verstehen: streiken und blockieren, Herbst 2018 um den Unternehmer zu treffen. Es darf nicht so sein, dass die Gewerkschaft die Arbeiter benutzt, sondern die Arbeiter müssen die Gewerkschaft benutzen. Im Juli 2011 haben wir die S.I.COBAS getroffen, ich habe ihnen erklärt, dass wir uns innerhalb einer Woche organisieren würden, um TNT zu blockieren. Sie waren dazu bereit, wir haben angefangen, und wir haben gewonnen.«

Zusammengefasst kann man also sagen, dass folgender Prozess ablief, in dem Kampf und Organisation ineinandergegriffen: Unerträglichkeit der Arbeitsbedingungen, Teilnahmslosigkeit und radikale Unzufriedenheit mit den offiziellen Gewerkschaften; einer begehrt auf und nimmt die anderen mit; die Bedeutung der community (Arafat wendet sich zunächst an die anderen Ägypter und dann an die Nordafrikaner) für einen Prozess, der über sie hinausgeht oder das Problem deutlich macht, dass eine community mit ihren Bindungen immer Gefahr läuft, sich abzuschotten; schließlich die Suche nach einer Gewerkschaft, die brauchbar ist, um zu streiken. Die Entwicklung verlief nicht ganz so linear, auch der Zufall hat dabei eine Rolle gespielt (Arafat fuhr nach Mailand und fand so die Gewerkschaft); aber im Verhältnis zwischen materieller Möglichkeit und subjektivem Wollen spielt immer der Zufall eine Rolle. Das Glück des Tüchtigen, um es mit Macchiavelli zu sagen. Oder mit Mario Dalmaviva8: »Wenn du Lenin liest, rufst du ›Bravo!‹ und kurz danach ›Schwein gehabt!‹« Es geht darum, die Bedingungen zu schaffen, dass es möglich ist, Schwein zu haben.

Das zweite Beispiel sind die Kämpfe der Arbeiter bei der Coop Adriatica di Anzola dell‘Emilia Anfang 2013. Die Arbeiter erzählten uns, dass sie in großer Zahl in die Gewerkschaft CISL eingetreten waren und dann alle zusammen ihren Gewerkschaftsausweis zerrissen haben, als diese einen beschissenen Abschluss unterschrieb; danach ging es genauso weiter mit der UGL. Schließlich haben sie bei S.I.COBAS eine Struktur gefunden, die bereit war, ihre Kämpfe zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen zu unterstützen. Es war keine ideologische Entscheidung. Den Arbeitern ging es lediglich um diese gewerkschaftliche Dienstlei­­s­tung. Zumindest am Anfang haben die facchini ­niemanden gesucht, der in ihrem Namen spricht, sondern einfach eine technische Struktur, die ihre Ansprüche unterstützt, ihre Praxis, ihre Kämpfe. Dieser »Arbeitergebrauch der Gewerkschaften« hat eine Zeit lang das traditionelle Verhältnis zwischen Repräsentanten und Repräsentierten umgedreht. Die Wiederherstellung dieses Verhältnisses markiert das Versiegen der potentiell explosivsten Elemente dieses Kampfzyklus.

Reorganisierung innerhalb der Logik des Kapitals

Vor kurzem hat Kim Moody, ein Kenner der Branche, einen Artikel geschrieben, in dem er den manifesten Niedergang der Gewerkschaften beschreibt und herausarbeitet, wie dieser Niedergang durch die »logistische Revolution« verschärft wurde. Durch die umfassende Reorganisierung von Produktion und Zirkulation wurden größtenteils die Orte aufgelöst, in denen die Gewerkschaften verankert waren. Moody fährt fort: Diese Revolution sei beständig bedroht durch die ihr eigene strukturelle Fragilität, die sich vor allem an zwei Punkten zeige; einerseits an der Anfälligkeit der Warenzirkulation: Wenn ein Glied der Kette blockiert wird, zerbricht der ganze Just-in-time-Mechanismus; andererseits sieht der Autor »eine der großen Ironien des modernen Kapitalismus darin, dass er erneut die massenhaften Konzentrationen von Handarbeitern erzeugt, vor denen die Unternehmer zu fliehen versuchten«.9

Genau an diesen beiden Punkten haben die Kämpfe in der Po-Ebene angesetzt, sie haben die Konzentrationen als Organisierungsbasis genutzt und die Unternehmen sowohl finanziell als auch in ihrem Image geschädigt. Für Granarolo bedeutete zum Beispiel die Blockade der Läger mit verderblichen Waren einen Verlust von etwa 250.000 Euro in vier Stunden. Was Ikea eine eintägige Blockade seines Lagers in Piacenza gekostet hat oder Cogefrin die Blockade des Interporto in Bologna, lässt sich nicht mit gleicher Genauigkeit berechnen. Doch wir wissen, dass Waren, die nicht auf die Lastwagen geladen werden, nicht rechtzeitig die Häfen erreichen, um nach Osteuropa, in den Nahen Osten oder nach Nordafrika verschifft zu werden. Die Blockade eines einzigen Lagers kann den ganzen Kreislauf unterbrechen; danach braucht es etwa zehn Tage, bis wieder alles normal läuft.

Die Unternehmer zögern bei Konflikten jedenfalls nicht lange, und sie verlassen sich auch nicht ausschließlich auf Repression, um die Blockaden zu beseitigen. Sie durchforsten die Kämpfe vor allem nach Schwachpunkten, um sie einzudämmen, sie zu bändigen und besonders um sie in mögliche Quellen zur Erneuerung und Entwicklung des eigenen Systems umzudrehen. Die betroffenen Unternehmen haben unmittelbar reagiert, indem sie zum Beispiel die Be- und Entladezeiten geändert und einen Teil an andere Standorte, teilweise 50 km entfernt, verlagert haben. Auf den Höhepunkten der Mobilisierung konnten die Arbeiter dagegenhalten und auch dort blockieren; auf lange Sicht hatten die Unternehmer aber bessere Möglichkeiten, sich neu zu organisieren, als die Arbeiter.

Vorausschauend haben einige Unternehmen zum Beispiel versucht, die Investitionen in technische Erneuerungen zu erhöhen. Damit haben sie nicht nur den relativen Mehrwert erhöht, sondern auch die Verhandlungsmacht der Arbeiter geschwächt und die Konzentrationsprozesse zurückgenommen, die Moody als wichtigen Faktor für das Zustandekommen kollektiver Konflikte bezeichnet. Es bleibt abzuwarten, ob diese Investitionen eine reale Strategie sind oder vor allem rhetorische Sülze. Gianni Boetto von der Basisgewerkschaft ADL sieht die Möglichkeit eines technologischen Sprungs in den Lägern, der das Verhältnis von Maschine und Arbeiter grundsätzlich ändern könnte, für Italien eher noch in weiter Ferne und unbestimmt. Bisher werden in breitem Ausmaß lediglich einige Vorrichtungen eingesetzt wie Sprach­ steuerung, Handheld-Computer, mit denen die individuelle Produktivität gemessen wird, die »Pistolen« für das Picking, und in einigen Fällen sorter, wo die Pakete auf den Kreisförderern erfasst und automatisch sortiert werden; dafür wird mehr Personal gebraucht, aber nur noch in Teilzeit, sodass die Gesamtarbeitszeit sinkt.

Angesichts des Anstiegs des Warenumschlags in Italien fehlt es auf Seiten der Unternehmer noch an der Fähigkeit, massiv mit Automatisierung und entsprechender Reduzierung der Arbeitskräfte zu reagieren; aber ein Umstrukturierungsprozess ist im Gange, der auch die rückständigen Teile der Branche verändert. Boetto nennt ihn »das Amazon- Modell«: die Ausbreitung der speziellen Arbeitsorganisation der Läger (hoher Anteil von Erpressung bei wenig Garantien, was Prozesse von Selbst- organisierung behindert), die Durchsetzung von neuen Standards, die über die Standorte des amerikanischen Multis hinausgehen – man denke nur an die beachtliche Veränderung der Paketdienste. Diese Formen von produktiver und technischer Reorganisierung, bereits in Umsetzung oder als Tendenz, sind zweifellos eine Reaktion auf die Kämpfe. Die Frage ist, wie die Kämpfe auf diese neue Ebene kommen können, um in der Lage zu sein, im Voraus zu handeln und sich nicht auf ­kurzatmige Widerstandshandlungen zu beschränken.

Tarifvertrag und gewerkschaftliche Herausforderungen

Den 2015 ausgelaufenen und mit zwei Jahren Verspätung erneuerten landesweiten Tarifvertrag nennt Boetto reine Liturgie: Was darin geschrieben steht, »hat rein formalen Wert. Wenn wir nicht dazu in der Lage sind, ihn anzuwenden und im Kampf gegen die Unternehmer durchzusetzen, bleibt das heiße Luft«. Das zeigen gerade die Kämpfe der facchini: An verschiedenen Standorten konnten sie Forderungen durchsetzen, die weit über das hinausgehen, was in den formellen Verträgen steht. Ein wichtiges Beispiel ist die Einführung der automatischen höheren Einstufung nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit, womit das Prinzip aufgehoben wird, Beförderungen und berufliche Kompetenz an die Leistung zu koppeln. Solche Forderungen wurden durchgesetzt in landesweiten Tarifverträgen mit dem Transportunternehmerverband FEDIT und dann in Kämpfen an den jeweiligen Stand- orten umgesetzt und weiterentwickelt. An anderen Standorten »reicht ein Augenblick der Unachtsamkeit, um das bereits Erreichte wieder zu verlieren, denn wir befinden uns wirklich im Dschungel«.

Der landesweite Tarifvertrag mag nur formal gelten und unter Beteiligung der traditionellen Gewerkschaften geschlossen worden sein, doch er hat eine gewisse Bedeutung für die grundsätzlichen Weichenstellungen in der Branche. Er ist eine Art Tauschgeschäft von Regulierung der Werkverträge gegen Flexibilisierung der Arbeit. Jetzt ist der Subunternehmer, der in einen Werkvertrag eintritt, formal dazu angehalten, die Arbeiter zu gleichen Bedingungen zu übernehmen einschließlich Betriebszugehörigkeit, Lohn, Kündigungsfristen ..., alles ­Fragen, die in den Kämpfen eine große Rolle gespielt haben. Es fehlt aber auch nicht an Uneindeutig­ keiten und Schlupflöchern. In einer Randklausel wird den Unternehmern zum Beispiel ermöglicht, sich bei technologischen Innovationen über die Bestimmungen hinwegzusetzen. Obwohl viele ehemalige soci lavoratori nun fest angestellt wurden, weil die Kämpfe die Abschaffung dieses Status des arbeitenden Genossenschaftsmitglieds gefordert haben, der offiziell Mitglied der Kooperative ist und Beiträge zahlt und sich somit zum Urheber seiner eigenen Ausbeutung macht, ist der socio lavoratore noch keineswegs verschwunden.

Einerseits mussten sie also zumindest teilweise die Forderungen der Kämpfe aufnehmen und die Werkverträge regeln, andererseits konnten die Arbeitgebervereinigungen ihre Forderung nach mehr Flexibilität in Bezug auf Arbeit, Produktion und Distribution durchsetzen. Der neue landesweite Tarifvertrag weitet die tägliche Arbeitszeit auf neun Stunden aus, der Samstag gilt nun außer für die Fahrer als normaler Arbeitstag (zuvor waren es 39 Stunden, verteilt auf fünf Tage). Nach Umstrukturierungen darf die Arbeitszeit nach sechs Monaten ohne Zustimmung der Gewerkschaft geändert oder die Stundenanzahl verringert werden, wenn eine kleine Ausgleichszahlung geleistet wird. Hinzu kommen weitere Einschränkungen beim Streikrecht, mit denen die Unternehmer ihr anfälliges System gegen drohende Blockaden schützen wollen. Nach den Kämpfen an Knotenpunkten des Lebensmittelumschlags wie gegen Granarolo in Bologna haben die Unternehmen es nun erreicht, dass das Spektrum der lebensnotwendigen Güter auch auf lebende Tiere, Treibstoff, Arzneimittel usw. ausgeweitet wurde; nun müssen sich die facchini an »Abkühlungsfristen« halten, was ihre Möglichkeit behindert, wirksam zu streiken. Zuvor war nur der Transport selber, nun ist die ganze Logistikkette dieser Güter geschützt.

Dieser Punkt ist vielleicht die größte Errungenschaft der Unternehmer im neuen Tarifvertrag. Die Kette ist im System der Logistik natürlich zentral, sie macht den Zyklus von Produktion und Distribution aus. Ihre Definition und Abgrenzung ist aber keinesfalls objektiv. Wie man am Tarifvertrag sieht, stoßen hier unterschiedliche Positionen und Interessen aufeinander. Um ihr anfälliges System vor Streiks zu schützen, haben die Unternehmen die Definition einer Logistikkette maßlos ausgeweitet und sich gleichzeitig mehr subjektive Definitionsmacht gesichert. Die Interpretation hängt von den Kräfteverhältnissen ab und ob man sie durchsetzen kann. Man könnte sagen, die materielle Definition der Logistikkette steht im Zentrum der Auseinandersetzung zwischen dem Zyklus des Kapitals und dem Zyklus der Kämpfe. Die Unternehmer haben diese Auseinandersetzung einstweilen gewonnen, indem sie den eigenen Zyklus neu zusammengesetzt und den der Gegenseite aufgespalten haben, weil es den Arbeitern bisher nicht gelungen ist – wie wir im abschließenden Abschnitt sehen werden – ihre Isolation in den Warenlagern zu überwinden.

Vor diesem Hintergrund konzentriert sich die gewerkschaftliche Selbstorganisierung kurz- und mittelfristig darauf, »die Flexibilisierung und die vom Tarifvertrag, den die konföderierten Gewerkschaften unterschrieben haben, aufgezwungenen Überstunden nicht zu akzeptieren, Lohnerhöhungen und tariflich abgesicherten Urlaub zu erkämpfen und den Weg weiterzuverfolgen, dass die Dauer der Betriebszugehörigkeit automatisch zu einer höheren Einstufung führt, die somit immer mehr von der Leistung abgekoppelt wird; die Absicherung gegen Krankheit und Arbeitsunfälle auszudehnen, die es an vielen Arbeitsplätzen noch immer nicht gibt, z. B. bei den soci lavoratori.« Damit wären wir beim Heute angekommen.

Einige Lehren aus dem Kampfzyklus

Was waren nun die Stärken und was die Schwächen im Kampfzyklus der Logistikarbeiter? Die Stärken haben wir oben herausgestellt: die Streiks, die Blockaden durch die Streikposten, die Fähigkeit, dem Unternehmer weh zu tun und die Bruchpunkte im Logistiksystem zu treffen, den »Arbeitergebrauch der Gewerkschaft« (...). Wir haben die Phase zwischen 2011 und 2014 als Höhepunkt der Kämpfe ausgemacht, was aber nicht heißt, dass die Warenlager seither befriedet sind, im Gegenteil: Streiks und Blockaden haben nicht aufgehört, und die Basisgewerkschaften konnten ihren Platz in den Betrieben behaupten. In der Emilia reichte an einigen Standorten bereits die Präsenz von S.I.COBAS aus, damit die Arbeiter bessere Bedingungen erhielten. Dieser Kampfzyklus hat also eine bedrohliche Kraft entfaltet.

Wir haben aber auch gesehen, dass die Verbesserungen der Arbeitsbedingungen relativ sind. Vor allem deshalb, weil die Unternehmer die Erneuerung und Umgestaltung der Produktion dazu benutzt haben, die Arbeiter auseinanderzudividieren und zu spalten. Zweitens, weil die Kräfteverhältnisse nicht unumkehrbar sind und die Tendenz zu besseren Arbeitsbedingungen davon abhängt. Drittens, weil es ein Unterschied ist, ob Forderungen durchgesetzt oder zugestanden werden; das Erste stärkt die Macht der Arbeiter, das Zweite kann zu einem Herrschaftsinstrument über die Arbeitskraft werden.

In der Emilia, wo wir die militante Untersuchung gemacht haben, scheint das Verhältnis von Tarifverhandlungen und Kämpfen zunehmend gekippt zu sein. In der aufsteigenden Phase des Kampfzyklus waren die Tarifverhandlungen ein Instrument zur Entfaltung der Kämpfe; in der darauf folgenden Phase waren die Kämpfe den Verhandlungen fast ausschließlich untergeordnet. Die Gewerkschaft war weniger der Raum, den die Arbeiter zur Herausbildung einer »Gegensubjektivität« nutzen konnten, sondern wurde zum Zweck (und für viele zum Ende)10 dieses Prozesses.

Dieses zunehmende Umkippen wurde unterstützt von einer grundsätzlichen Grenze, an die bei weitem nicht nur die Kämpfe in der Logistik, sondern alle Bewegungen oder aufblitzenden Konflikte des letzten Jahrzehnts gestoßen sind: Wir meinen die Schwierigkeit, dass sich die Kämpfe zwar innerhalb der Branche horizontal ausbreiten, dass ihnen aber die Stärke fehlt, um eine Neuzusammensetzung auf den Weg zu bringen, weder »außerhalb« noch »innerhalb« der Logistik. »Außerhalb« der Logistik reichte die Fähigkeit zur Neuzusammensetzung nicht aus in Bezug auf andere Teile der Arbeiterklasse, die zwar anderswo und auf andere Art arbeiten, aber eine gemeinsame Grundlage haben in der Ausbeutung und ihrem potentiellen Kampf dagegen. Zum Beispiel gab es in Bologna 2014, mehr oder weniger parallel zu den wilden Streiks in den Granarolo-Lägern, eine sehr wichtige und lange Auseinandersetzung an der Universität um die an Coopservice ausgelagerten Pförtnerdienste. Bei den ersten Versammlungen waren sowohl facchini als auch Studierende dabei, das war wichtig, um den Kampf zu beginnen – der im Übrigen einige Kampfformen der Granarolo-Arbeiter übernahm, wie wild zu streiken, Streikposten zu stehen usw. In den Kooperativen erkannte man einen gemeinsamen Feind und schuf sich einen gemeinsamen Raum, den man »no coop« nannte. Von dort wurde am 1. Mai 2014 eine lebendige Demo organisiert, die der CGIL die Straße streitig machte. Aber dieser Prozess, der tendenziell auf eine Neuzusammensetzung abzielte, wurde blockiert, auch aufgrund problematischer Einschätzungen und subjektiver Entscheidungen der Gewerkschaft und einiger Unterstützergruppen.

»Innerhalb« der Logistik war das Problem die Suche nach Bündnispartnern außerhalb der Läger. Ein wichtiges Beispiel sind die LKW-Fahrer, die sich ganz anders organisiert haben als die facchini. In den hier behandelten Kämpfen gab es wenig Gelegenheiten, sich mit ihnen zu verbünden, im Gegenteil kam es oft zu Reibereien oder sogar zu Konfrontationen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Die einen müssen die Waren ausliefern, um Lohn zu bekommen, und die anderen müssen sie blockieren, um ihren Lohn zu verbessern. Boetto hält jedenfalls die Intervention in diesen schwierigen Bereich für notwendig; zum Beispiel, indem man Zulagen für Nachtarbeit fordert, die den facchini zustehen, den Fahrern aber nicht.

Der Prozess der Herausbildung einer Gegensubjektivität lief Gefahr, sich in der Branche und in den Warenlagern einzuschließen; die Kampfpotenziale wurden in Tarifverhandlungen kanalisiert, was wiederum zunehmend die Kräfteverhältnisse schwächt. Zusätzlich verkompliziert wurde die Sache dadurch, dass einige Organisationen einen politisch-ideologischen Diskurs führten, der in den Logistikkämpfen tendenziell die Rückkehr zur Hegemonie der Handarbeit sah. Wir stimmen zwar mit der Kritik an der angeblichen Hegemonie der sogenannten »immateriellen« Arbeit teilweise über- ein, doch diese Polemik war nur die Kehrseite der Medaille, mit den gleichen Sackgassen. Dabei zeigt uns doch gerade das System der Logistik, dass es die Platon’sche Trennung zwischen Körper und Geist nicht gibt, dass die kapitalistische Logik die Ausbeutung von Wissen und Muskeln ständig hochverdichtet miteinander verzahnt und kombiniert. Und aus den Beschreibungen der facchini lässt sich leicht ablesen, dass ihre Arbeit nicht nur aus physischer Kraftanstrengung besteht, sondern auch (und in manchen Fällen vor allem) aus der Anwendung von Software und Wissen, wenn auch auf niedrigem Niveau. Gerade diese Kombination konnten die Kämpfe eine gewisse Zeit lang umdrehen, um die Interessen der Unternehmer zu schädigen.

Last but not least war diese Kombination das Terrain, auf dem sich anfänglich ein Plan zum Zusammenkommen von LogistikarbeiterInnen, Studierenden und Prekären entwickeln ließ. Studenten und Prekäre sind am Anfang zu den Blockaden gegangen, weil sie verstanden hatten, dass diese Ausbeutungslogik und die Kämpfe dagegen auch sie selbst betreffen. Diese möglichen Linien einer Neuzusammensetzung wurden aufgegeben, man kehrte in den Schoß der reinen Solidarität zurück, die einen kurzen Atem hat und nicht mit der Verallgemeinerung der Konflikte einhergeht. Wie wir gesehen haben, nutzen die Unternehmen die Waffe der Innovation; dort erwarten sie die Kämpfe, lassen sie ins Leere laufen und machen einen weiteren Entwicklungssprung. Um dem zuvorzukommen, müssen wir uns das Ergebnis der Kämpfe zu eigen machen und von da aus die weitere Richtung bestimmen. Nur so kommen wir aus den Mikro- Räumen der Betriebe heraus, in denen auf lange Sicht der Unternehmer am längeren Hebel sitzt, nur so können wir versuchen, den politischen Charakter zu vertiefen, der sich in den Widersprüchen der Logistik aufgetan hat, insofern sie – eben! – ­kapitalistische Logik ist.

Fußnoten

Zu Gigi Roggero siehe auch die Besprechung seines Buchs Lob der Militanz, in Wildcat 100. Zu den Kämpfen in der ­Logistik siehe auch: Wildcat 101: Kämpfe in der italienischen Logistik; Wildcat 99: Italien: »Die Angst wegschmeißen« – Wie ArbeitsmigrantInnen für Verbesserungen in einer ganzen Branchen kämpfen; und in Wildcat 94 das Special: »Umschlagpunkte«.

[1] Die im Text zitierten Interviews und andere Materialien der Untersuchung können auf den Seiten uninomade und commonware abgerufenwerden.

[2] facchino: Träger, Lastenträger, auch allg. Malocher.

[3] Im Schlussteil des Artikels, insbesondere da, wo es um den Tarifvertrag und die aktuellen Auseinandersetzungen in den Gewerkschaften geht, beziehen wir uns auf ein Interview mit Gianni Boetto, einem früheren Militanten der ADL COBAS aus Padua vom Februar 2018.

[4] Ist so nicht ganz korrekt; Hangartner wurde 2005 von der DB-Tochter Schenker übernommen. Siehe wikipedia

[5] Siehe das Referat von Sergio Bologna »Arbeit und Kapital in der italienischen Logistik: einige Bemerkungen zum Veneto«, veröffentlicht am 15. März 2013 auf UniNomade, abrufbar unter: archivio uninomade.

[6] Mit »traditionelle Gewerkschaften« sind hier die in den drei großen Dachverbänden CGIL, CISL, UIL zusammengeschlossenen (»konföderierten«) Gewerkschaften gemeint. Im Gegensatz dazu stehen die kleinen Basisgewerkschaften wie S.I. COBAS und ADL COBAS.

[7] Siehe auch Wildcat aktuell

[8] Ein Genosse von Potere Operaio, geboren 1940; mehr als fünf Jahre Knast »für nix«; gestorben 2016. Näheres und bei euronomade.

[9] Kim Moody »Modern capitalism has opened a major new front for strike action – logistics« in: The Conversation Nr. 3 Januar 2018 Siehe auch die Buchbesprechung in diesem Heft.

[10] Wortspiel im Italienischen: il fine = das Ziel, der Zweck; la fine = das Ende.

 
 
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