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14.10.2017

aus: Wildcat 100, Sommer 2016

Rollt die Lawine?

Tarifabschlüsse oder Kämpfe in den Krankenhäusern?

Freiburg, Universitätsklinik, Ende Mai 2016. Das Ergebnis der Tarifverhandlungen für unser Krankenhaus, eine von vier Universitätskliniken in Baden-Württemberg1, erfahre ich aus der Badischen Zeitung. Rückwirkend zum 1. Mai 65 Euro brutto mehr, ab 1. April 2017 2,35 Prozent und eine Erhöhung des Nachtdienstzuschlags zwischen 0 und 4 Uhr um fünf Prozent. Laufzeit zwei Jahre. Die Azubis sollen in zwei Schritten 40 und 35 Euro mehr bekommen plus einen Tag mehr Urlaub. Ein weiterer Punkt betrifft die Einführung einer neuen Entgeltordnung (EGO) zum 1. Juli 2017, die gerade im Bereich des TVÖD verhandelt wurde.2

Es ist bereits die zweite Tarifrunde seit 2014, in der viele KollegInnen »mehr Personal« anstatt nur mehr Geld fordern. Noch immer klafft eine riesige Lücke zwischen den fast schon furchteinflößenden Beschreibungen der Realität in deutschen Krankenhäusern und unseren Versuchen, das Ruder mal wieder herumzureißen: immer wieder Zeitungsberichte zum Thema, Enthüllungen im Fernsehen, Tote durch Keime, Personalmangel führt u. a. zu mangelnder Hygiene…

»Fabrik Krankenhaus«, »Industrialisierung der Pflege« ist in aller Munde. Wolfgang Hien beschreibt aktuell in seinem Buch Kranke Arbeitswelt den »Ökonomisierungsdruck« seit Einführung der Fallpauschalen, der die Rahmenbedingungen umgekrempelt hat hin zu Auslagerungen und Privatisierungen. Zwischen 1991 und 2014 hat sich die Patientenfallzahl von 14 Millionen auf knapp 19 Millionen erhöht, die Zahl der im Krankenhaus Beschäftigten blieb dabei nahezu konstant bzw. es gibt eine Verschiebung hin zu mehr Ärzten und weniger Pflegepersonal – das Fallpauschalensystem provoziert geradezu mehr Operationen. Wie die Versorgung dieser auch immer älteren und daher insgesamt kränkeren Menschen vor sich geht, interessiert eigentlich nicht. Pflegedienstleitungen geben offen die Parole aus, dass es unter diesen Bedingungen nur um »Sicherheit« gehen kann. Die Belegschaften sollen dafür sorgen, dass »nichts passiert« – und wenn »was passiert«, schiebt man es der einzelnen PflegerIn in die Schuhe, ihrer »falschen Prioritätensetzung«. Wolfgang Hien hält das für »politisch, gesundheitsökonomisch und betriebswirtschaftlich« gewollt. Es braucht auch keine Verschwörungstheorien, um die Gründe dafür zu erkennen. Vor dem Hintergrund einer alternden Bevölkerung wird immer mehr Geld in ein System gepumpt, das immer verzweifelter nach hohen Renditen sucht. Auch da, wo ein »eins nach dem anderen« angebracht wäre, »muss« daher eben wie am Fließband gearbeitet werden, um hier Geld rauszuholen.

Neuere Studien beschreiben den »moralischen Stress« vor allem in den neu formierten Teams auf den Stationen, auf denen die Arbeitsteilung bis ins Extrem getrieben worden ist. Es gibt KrankenpflegerInnen, KrankenpflegehelferInnen, verschiedenste »HelferInnen« für Essensausgabe, für reine Pflegearbeiten, Transportarbeiten, Betten beziehen/waschen, alle Putzarbeiten, Bestellungen, teilweise sogar fürs Medikamenterichten.

Im »Qualifikationsmix« mit den dazugehörigen tarifvertraglich aufgespaltenen Regelungen liegt der tiefere Grund für die oben beschriebene Kluft zwischen einer allseits bekannten Realität und dem viel zu seltenen Widerstand dagegen.3 Ein bitterer Witz der Geschichte ist, dass sich einige der Umstrukturierungen auf die letzte große Bewegung von KrankenpflegerInnen Ende der 1980er in Europa beziehen können: »Bessere Pflege – keine ›berufsfremden‹ Tätigkeiten« war damals unsere Forderung. Heute müssen KrankenpflegerInnen sieben Stunden hintereinander im »Hochverantwortungsbereich« arbeiten – ein enormer Stress, weil »entspannende«, vielleicht von einem Schwätzchen begleitete Arbeiten wie Betten putzen, Ausguss aufräumen, Material beschaffen usw. von speziellem Hilfspersonal z. T. stationsübergreifend erledigt werden.

Papier ist geduldig

In der Tarifrunde 2014 in Freiburg hatten einige KollegInnen versucht, die Anregungen aus der Berliner Charité aufzunehmen: Sie wollten die Tarifauseinandersetzung mit Forderungen nach mehr Personal koppeln und eine »ernsthafte« Streikvorbereitung betreiben. Die lokale ver.di-Führung antwortete mit den Arbeitgeberargumenten aus Berlin: Die Forderung nach mehr Personal würde ins »Direktionsrecht« des Arbeitgebers eingreifen bzw. hierüber könne nicht in einer Tarifauseinandersetzung gestritten werden, es bräuchte eine gesetzliche Regelung. Die Berliner KollegInnen hatten bereits 2013 vom wissenschaftlichen Dienst des Bundestags feststellen lassen, dass dem nicht so ist. Die Freiburger ver.di-Strategie ist seit Jahrzehnten, den Arbeitgeber im Betrieb in Ruhe zu lassen – und dafür alle zwei Jahre ohne viel Aufwand finanzielle Zugeständnisse zu bekommen. Der Haustarif der Uniklinken in Baden-Württemberg ist besser als der TVÖD, seit 2010 sind die Nettogehälter (unverheiratet, ohne Kinder) um ca. 220 Euro gestiegen. Vergleiche sind schwierig, aber in Freiburg kann eine Pflegekraft (auch wegen der höheren Zuschläge) netto 300 bis 400 Euro mehr verdienen als in anderen Städten. Dieses Arrangement wurde auch von unten in den letzten Jahren kaum in Frage gestellt, die überdurchschnittlich »alte« Belegschaft scheint sich mit guten Bezügen in die Rente retten zu wollen: eine Strategie, die für immer mehr KollegInnen nicht funktioniert – Krankheiten, Burnouts, eine hohe Fluktuation unter den Jüngeren.

Umso dringlicher wäre es gewesen, im April/Mail 2016 die Forderungen nach mehr Personal in die Tarifauseinandersetzung aufzunehmen. An der Berliner Charité gab es bereits den Tarifvertrag Mindestbesetzung4, insofern »musste« auch in Freiburg darauf Bezug genommen werden. Zur Auftaktveranstaltung kamen KollegInnen aus Berlin; auch in Freiburg sollte »die Streikkultur demokratisiert« werden durch sogenannte Tarifberater. Die KollegInnen auf den Stationen sollten direkt Infos aus der verhandelnden Tarifkommission bekommen, um den Stand untereinander diskutieren zu können. Eine hohle Geste, allein das Ergebnis der Tarifverhandlungen wurde verspätet über diese E-Mail-Listen mitgeteilt.

Als wir Ende der 1980er Jahre die Krankenhäuser als »Weiße Fabrik« beschrieben, ging es uns nur in zweiter Linie um die Skandalisierung der Fabrik; wir wollten die (fabrikmäßige) Zusammenarbeit der Stationsteams beschreiben – und verstehen, wie wir unter diesen neuen Bedingungen kämpfen können!

Hier liegt der Grund für die Popularität und Bedeutung des Streiks an der Berliner Charité, sie haben diese Realitäten öffentlich gemacht, und sie haben gekämpft. Betrachtet man aber allein das Ergebnis, kommt man zu einer ernüchternden Einschätzung: Nur für die Intensivbereiche wurden tatsächlich feste Standards vereinbart, für den restlichen Stationsbereich gibt es Orientierungswerte auf Grundlage der PPR5 und eine sogenannte »Interventionskaskade«, um auf Personalengpässe zu reagieren, z. B. mittels Pflegekräften aus sogenannten Pools oder mit selbständigen »Leasingarbeitskräften«. Das ist in vielen Kliniken bereits gängige Praxis: Die Personaldecke bleibt dünn, und wenn es »brennt«, stopfen Springer kurzfristig die Löcher, natürlich nur mit Zustimmung der Leitung. Und natürlich gibt es verschiedene Gremien, die bei Unstimmigkeiten angerufen werden können. Eine »Interventionskaskade«, um akuten Protest bei Personalnot ganz schnell versickern zu lassen. Das kennen wir in Freiburg von den »Überlastungsanzeigen«. Insofern haben die ver.di-AktivistInnen in Berlin recht: »Papier ist geduldig, (…) der eigentliche Kampf um die Umsetzung beginnt im Betrieb«.

Der eigentliche Kampf um die Umsetzung beginnt im Betrieb

Die im ak 616 ausgerufene »Lawine an Kämpfen in den Krankenhäusern« (Julia Dück: Die Lawine rollt, ak 616, 24.5.2016) gibt es noch nicht. Die Tarifrunde im öffentlichen Dienst (TVÖD) bzw. die Haustarifverhandlungen wie in Freiburg wurden beendet, ohne die Forderung nach Personal aufzunehmen. Es gab auch nicht genügend Druck von unten. Ver.di kann deshalb ihre Gewerkschaftsrolle spielen: eine Tarifrunde beenden – und Streiks im nächsten Jahr in Aussicht stellen. Da Mindestbesetzungen noch kein tarifierter Gegenstand sind, gibt es keine Friedenspflicht – ver.di hat für den Herbst erste Verhandlungen zum Thema angekündigt (»Entlastungsrunde«), im Frühjahr 2017 könne es zu Streiks kommen. Ver.di selber ist in der Frage gespalten: Viele setzen auf eine gesetzliche Regelung, andere sehen Streiks als notwendiges Druckmittel; aus verschiedenen ver.di-Bezirken dringt das übliche Raunen, das könne womöglich zu früh sein, man müsse sich »besser vorbereiten«. So hat ver.di über zehn Jahre gebraucht, um 2016 ein Positionspapier zur »Abschaffung der DRGs«6 zu formulieren, dabei waren die Auswirkungen bei der Einführung nach 2003 klar, aber da sollte »mitgestaltet« und »politisch eingegriffen« werden.

Wenn es zu einer »Lawine von Kämpfen in den Krankenhäusern« kommen soll, dann müssen die KollegInnen endlich in den Spiegel schauen und sehen, dass die heutigen Zustände weder uns noch den PatientInnen zuzumuten sind. Beim Streik an der Berliner Charité kamen eine extrem runtergefahrene Personalsituation und eine aktive linke Betriebsgruppe zusammen. Es braucht aktive Kerne in den Kliniken, die Kontakt zu anderen Abteilungen und Häusern aufbauen und von Beginn an auch die Spaltungen auf den Stationen aufzuknacken versuchen. Auf der Suche nach der »wiederentdeckten sozialen Frage« werden in den nächsten Monaten viele linke AktivistInnen kommende Streiks unterstützen wollen. Hinzugehen, Kontake zu suchen, kann für diese AktivistInnen eine politische Erfahrung werden und für KollegInnen eine wichtige Unterstützung sein. Vorausgesetzt, es kommt zu einer Diskussion, die nicht nur durch die gewerkschaftliche Brille auf die Widersprüche und Möglichkeiten in den Kliniken schaut und gewerkschaftliche Kampagnen nicht mit Kämpfen in den Betrieben verwechselt.

Fußnoten:

[1] Seit Auslaufen des BAT als Flächentarifvertrag bzw. seit den in den 1990er Jahren begonnenen Umstrukturierungen gibt es immer mehr Kliniken ohne Tarifbindung, Kliniken, die unter den TVÖD fallen, und Klinken mit Haustarifvertrag, wie die vier Universitätskliniken in Baden-Württemberg. Siehe den Artikel in Wildcat 67 zu den wesentlichen Linien der Umstrukturierung und den Artikel in Wildcat 75 zum Streik um den Haustarif an der Uniklink Freiburg

[2] Diese neue Entgeltordnung (EGO) ist seit zehn Jahren in Arbeit. Auf ca. 500 Seiten werden Tätigkeiten »leistungsgerecht« gruppiert. Die Gewerkschaften wollen eine »leistungsgerechte« Reaktion auf die Veränderungen der Arbeitswelt, für die Arbeitgeber bietet die EGO die Möglichkeit, an ihnen wichtigen Stellen mehr Geld zu investieren. Durchgesickert ist, dass es deutliche Lohnsteigerungen (200 Euro und mehr) nur für mittlere und höhere Leitungsposten geben soll, z.B. bei der durchschnittlichen KrankenpflegerIn sollen 40 Euro brutto mehr ankommen. Zudem erhalten die Arbeitgeber im Bereich TVÖD eine Kompensation für die im Schnitt höheren Ausgaben unter der neuen EGO: Die Jahressonderzahlung wird von 2016-2018 eingefroren bzw. 2017 sogar um vier Prozentpunkte abgesenkt. Klassenpolitisch führt all das zu einer Verstärkung der eh schon vorangetriebenen Spaltungen bzw. der Illusion, man könnte individuell statt kollektiv Stärke entwickeln.

[3] Dem widerspricht nicht, dass »fast immer« in irgendeinem Krankenhaus Aktivitäten, auch Streiks laufen. Manchmal geht es um einen Tarifvertrag, schlechte Löhne und die Arbeitsbedingungen, dann wieder um weitere Auslagerungen - ein »Häuserkampf«, aus dem bislang noch keine breite Bewegung wird. So streiken z.B. aktuell seit mehreren Wochen die ArbeiterInnen beim privaten Klinikbetreiber AMEOS für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne.

[4] Eine Zusammenfassung des Tarifvertrags »Gesundheitsschutz« unter mehr-krankenhauspersonal.de

[5] Die Pflegepersonal-Regelung (PPR) war nach der europaweiten Krankenschwesterbewegung 1992 eingeführt worden: Pflege- und Behandlungstätigkeiten wurden Minutenwerte zugeordnet, der Zeitaufwand pro Patient und damit der Personalbedarf errechnet. Nach dem Druck der Bewegung waren die Minutenwerte relativ großzügig bzw. es wurde ein hoher Personalbedarf errechnet – und die Regelung 1997 ausgesetzt. Inzwischen hinken die Werte der Realität hinterher, und politisch war die PPR der Einstieg in die »Messbarkeit«, die Ökonomisierung. Die PPR wird von vielen Pflegedienstleitungen intern weiter als Instrument benutzt, in nicht wenigen Häusern unterschreitet die Personalausstattung die PPR-Werte um 20 und mehr Prozent – das erklärt, warum im Charité-Vertrag 90 Prozent der PPR als Orientierungswert festgelegt worden sind.

[6] Diagnosebezogene Fallgruppen bzw. Fallpauschalen.

 
 
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