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05.12.2014

Der Artikel thematisiert den Aufstandsversuch einer »Volksschicht«, die nicht einfach als Proletariat oder Arbeiterklasse bezeichnet werden kann, weil sie sich zu einem großen Teil aus »selbstständigen« ArbeiterInnen und KleinunternehmerInnen zusammensetzt, die sich in ihren Forderungen gegenüber der Regierung oder eigenen Beschäftigten bisher als »Unternehmer« positioniert haben. Diese Schicht kann man in Italien einfach »popolare« nennen. Ein entsprechendes Adjektiv gibt es im Deutschen nicht (weder »völkisch« noch »volkstümlich« oder »populistisch« ist gemeint). Wir haben im Text versucht, dieses Problem durch Begriffe wie »Milieu«, »kleine Leute« usw. zu umschiffen, was nicht immer ganz gelungen ist.


Drei Tage Volksaufstand in Turin

Nach Jahren der Debatte über immaterielle Subjektivitäten
aus nichts als Luft wie das Cognitariat,
belebt sich die Politik wieder mit Fleisch, Blut – und Scheiße.

Was ist am 9. Dezember 2013 passiert? Landesweit sollten selbstständige LKW-Fahrer, Bauern und Nahrungsmittelproduzenten sowie Selbstständige aller Art auf die Straße gehen. Aber außerhalb von Turin ist die Mobilisierung im Grunde gescheitert; es gab nur ein paar Straßenblockaden von LKW-Fahrern und ein paar Demos, auf denen vor allem Rechte waren. In Turin hingegen gab es eine wirkliche Erhebung. Sie war mehrdeutig, konfus, vom politischen Charakter her stark rechts ausgerichtet – aber es war ein realer Ausbruch. Eine ganze Welt der »kleinen Leute« – SchülerInnen aus Schulen der Randbezirke, die Ultras, Arbeitslose, Gelegenheitsarbeiter... »die Leute aus der Bar«, hat sich im Fahrwasser des Kampfs der MarkthändlerInnen mobilisiert, um die Regierung zu stürzen und ihre eigene Wut rauszulassen. Beim Sturm von 30 000 Menschen auf das Gebäude der Regionalverwaltung waren Leute der Fankurven aus den Turiner Außenbezirken in der ersten Reihe, koordiniert von den Ultras beider Clubs ( Juve und FC Turin ). Sie haben den Platz effizient gehalten und die Kontroll- und Repressionskräfte in die Krise gebracht, die sich jedoch unwillig zeigten, repressiv gegen Leute vorzugehen, in denen sie sich selbst wiedererkennen, und zwar eher noch vom Äußeren her als politisch. Im Grunde kommen sie aus derselben sozialen Schicht.

Die Carabinieri haben die gesamten drei Tage den Ball sehr flach gehalten, blieben sehr ruhig, fast solidarisch. In einer bezeichnenden Episode nahmen die Polizisten den Helm ab, obwohl es gerade erst eine heftige Phase von Angriffen und Gegenangriffen zwischen ihnen und den Ultras gegeben hatte.

Ab Dienstag drängte die Führungsgruppe der kleinen Marktstandbesitzer die Ultras an den Rand, sie hatten keinerlei Absicht, die Stadt auf den Kopf zu stellen, und schickten die Jungen den Verkehr blockieren. Auch dabei wurden sie absolut toleriert. Ich habe zwei Straßenblockaden gesehen, die von nicht mehr als sieben oder acht Leuten gehalten wurden. Ein Einsatzwagen der Polizei hätte gereicht, um sie abzuräumen... Riesen-Supermärkte wurden von Trupps von ca. 20 Personen, die nicht einmal bewaffnet waren, geschlossen...

Die Krise der selbstständigen Arbeit in Italien

Die soziale Dimension des 9. Dezember machte das Milieu der selbstständigen Markthändler aus. Sie sind in Turin außergewöhnlich zahlreich und ein fester Bestandteil der Gesellschaft. In Turin und Umgebung finden täglich fast 100 Märkte statt. Das ist ohnegleichen im Land, und auch in Europa. Allein der Markt an der Porta Palazzo hat mehr als 3000 direkt dort Beschäftigte...

Die selbstständigen MarkthändlerInnen sind zumeist ehemalige Lohnabhängige, die Ende der 1970er Jahre aus dem Produktionsprozess ausgeschieden sind, mit der Abfindung haben sie die Marktlizenz erworben.

Die Ware holen sie jeden Tag mit dem Lieferwagen bei Großhändlern. Wer sich für diese Arbeit entschieden hat, hat es nicht leicht, er muss jeden Tag aufstehen, wenn es noch dunkel ist; es ist kein einfaches Leben, und noch dazu muss man auch noch eine Menge Geld investieren.

Gut verdienen konnte man nur mit »Steuervermeidung«. Sie haben immer höchstens 30 Prozent der Steuern bezahlt... Der typische italienische soziale Kompromiss der 80er und 90er Jahre – er hat bis jetzt funktioniert.

Drei Entwicklungen bringen nun diese Welt in die Krise:

Die Kommunen sind pleite, weil Berlusconi die Zahlungen des Zentralstaats kürzte, und versuchen nun, Geld bei den Bürgern einzutreiben. Der erste Schritt waren Steuerrazzien bei den MarkthändlerInnen. Insbesondere in Turin begann eine Auseinandersetzung um die Müllsteuer. (...) Zweitens hat die Bolkestein-Richtlinie auch den Kleinhandel liberalisiert. Ein Markthändler kann nun in die Situation kommen, dass die Lizenz, für die er einige tausend Euro bezahlt hat, nichts mehr wert ist. Zudem gibt Bolkestein den großen Lebensmittelketten die Möglichkeit, sich Standplätze auf Märkten zu kaufen. Die große Angst vor Bolkestein ist absolut rational und begründet.

Drittens die Entwicklung der großen Lebensmittelketten. Seit 20 Jahren sprießen in Italien Riesen-Supermärkte und überdimensionierte Einkaufszentren jenseits jeglichen Bedarfs aus dem Boden. Sie zahlen kaum Steuern, bekommen alle Infrastrukturmaßnahmen umsonst, stellen nur befristet ein, schließen und eröffnen immer wieder neu. Und sie entziehen den Märkten Kundschaft.

Die Drei-Tage-Revolte

Seit 2011 gab es also ständig Mobilisierungen gegen die Bolkestein-Richtlinie. Seit drei, vier Jahren gibt es eine effektive Koordination von Kleineigentümern, die sich eine Position erarbeitet zu allem, was ihre Branche betrifft. Diese Koordination ging am 9. Dezember 2013 auf die Straße, sowie Leute, die sie kennen, Freunde, Verwandte… Die offiziellen Forconi von Turin haben nicht teilgenommen, tatsächlich hatten wir in Turin einen 9. Dezember der Mistgabeln ohne Mistgabeln. (...) Eine andere Koordination lancierte das Programm »sofortiger Sturz der Regierung, ihre Ersetzung durch eine Regierung der nationalen Einheit, geführt von Militärs, besser noch von Carabinieri«. Aber die »Straße« war einfach »gegen die Regierung, die die Leute besteuert«.

Politisch war diese Mobilisierung vorwiegend rechts orientiert und zwar in Richtung einer volkstümlichen Rechten. Das wurde am Dienstag deutlich, (als eine Demo) vor dem Sitz der Regionalverwaltung auf eine Kundgebung von Metall-ArbeiterInnen in Kurzarbeit traf. Aus der Demo der Turiner Forconi heraus hagelte es heftige Vorwürfe, ... weil sie rote Fahnen hatten statt italienischer Fahnen. Vor allem die Allerjüngsten schrien: »Weg mit diesen Fahnen! Hier darf es nur italienische Fahnen geben! Wir sind alle Italiener«. Diese typische Ausdrucksweise der Rechten, die das Volk hinter einem nationalen Symbol vereinigen will, machte sich die ganze Demo zu eigen.

Der Kleine-Leute-Charakter der Mobilisierung zeigte sich hingegen am selben Tag, als eine spontane Demo von jungen Forconi (durch eine Geschäftsstraße zog). Viele der Geschäfte waren geöffnet geblieben. Die Demo forderte deshalb die Verkäuferinnen auf, die Läden zu schließen. (»Ihr habt Eure Luxusbuden geöffnet, während wir um unseren Arsch kämpfen!«)

Diese beiden Episoden zeigen die widersprüchliche politische Kultur dieser Bewegung: von ihren Symbolen her ist sie sicherlich rechts: die Fahne, das Volk; auf der anderen Seite steht ihre eigene soziale Realität (der Markt, die Peripherie der Stadt...) klar im Widerspruch zur bürgerlichen Welt.

Interventionsversuche der Autonomen

Die Haltung der gebildeten Linken ist nur lächerlich. Nachdem sie das Land in den letzten Jahren – besonders 20111 - mit der Trikolore übersät hat, denunziert sie heute deren Gebrauch seitens der Mistgabeln. Dabei ist es offensichtlich der gleiche Gebrauch: die Linke hielt sie hoch als Symbol der nationalen Einheit gegen lokale Partikularismen, die Forconi und Co. haben sie beansprucht als einheitliche – und totalitäre – Form des unterschiedslosen Volkes in Aufruhr gegen die räuberischen politischen Eliten.

(Die Autonomen haben stattdessen einzugreifen versucht. Aber) auf dem Platz selbst ist ihnen absolut nichts gelungen. Hier konnte ein Klassendiskurs unmöglich einschlagen. Schon allein, weil dieser Platz eher volkstümlich und rechts besetzt war, Autonome aber als bürgerlich und links gesehen werden. (...) Aber sie erreichten in gewissem Maße die Jugendlichen, unter anderem weil vom dritten Tag an der Platz immer mehr in der Hand der SchülerInnen war. Auch noch am Donnerstag und Freitag waren sie recht zahlreich. Und den GenossInnen gelang es, Einfluss auf ihre Demos zu nehmen und sie so von den kleinen rechtsradikalen Gruppen wegzuhalten. In diesem Sinn spielten sie eine äußerst positive Rolle.

Die »Kaste« als Feind

In Turin hat sich die erste Generation der selbstständigen Arbeit in Bewegung gesetzt, ihre älteste Form, keine neue Zusammensetzung.2 Ein Produkt von drei Jahrzehnten Deindustrialisierung in Turin, die Tausende aus der Produktion ausgestoßene ProletarierInnen zu Kleinhändlern gemacht hat. Diese Leute (verteidigen heute den) relativen Wohlstand, den sie in den letzten Jahren erworben haben. Sie sind noch weit entfernt von der realen Verelendung, fangen aber mit Schrecken an, in den Abgrund des Elends zu schauen. Turin war auch deshalb die Hauptstadt der »Mistgabeln«, weil es die Hauptstadt der landesweiten Verarmung ist. Die Städte im Süden sind ärmer, aber Turin verarmt schneller. Von weiter oben zu fallen ist immer schmerzhafter.

Nicht zufällig wird die politische Schicht, die »Kaste« als Feind gesehen. (Denn diese hat) eine Welt verraten, die sie bis gestern gehätschelt hat, sie hat den Pakt mit ihrer eigenen Klientel gebrochen. Die »Verratenen« präsentieren die Rechnung und mobilisieren damit um sich herum eine facettenreiche Welt, die vereint ist im Frust und im Gefühl, verraten worden zu sein, aber auch weil sie zum selben metropolitanen Raum gehören, zum selben Randbezirk und in denselben Bars verkehren.

Das Programm, mit dem sie wedeln, die Hoffnungen, die sie antreiben, sind die nach einer Rückkehr ins goldene Zeitalter, das für sie bis vor ein paar Jahren andauerte. Das Fest soll weitergehen, die laxe Politik bezüglich Steuern, Sozialversicherungsbeiträgen und rechtlichen Vorschriften nicht enden, das leicht verdiente Geld wieder fließen. (...) Sie sind in der Lage, den Feind zu erkennen, aber sie schaffen es nicht, etwas anderes als eine reaktionäre Utopie aufzurühren: zurück in die unmittelbare Vergangenheit.

(Das ist völlig unrealistisch.) Diese drei Tage machten somit auf eine wichtige Krise aufmerksam. Regierung und Kapital können diese »Welt« nicht mehr als Puffer bei Entlassungen und nicht mehr als Reservoir politischer Zustimmung benutzen. (...) Die Proletarisierung dieser Welt ist in Gang.

(Das) kann interessante Perspektiven eröffnen. Die Klassenlinke sollte sich in diesen Prozess einklinken... ein Zusammenkommen ist nicht undenkbar. Wir könnten z. B. MarkthändlerInnen und Lohnabhängigen eine gemeinsame Mobilisierung vorschlagen gegen die Sonntagsöffnung der großen Supermärkte oder gegen die superniedrigen Stromtarife der großen Ketten. Ein erster Versuch könnte der Widerstand gegen die Eröffnung neuer Einkaufszentren sein, die trotz der Krise weiterhin in allen Städten Italiens beantragt werden.

Nur ein konkreter Versuch kann diese Vorstellung real machen. Wir müssen es versuchen, und zwar ernsthaft. Auf geht’s!

[Italienisches Orginal]

Fußnoten:

[1] 2011 wurde der 150. Jahrestag der Gründung des Nationalstaats Italien gefeiert.

[2] Sergio Bologna sprach seit Jahrzehnten über selbstständige Arbeit und hoffte auf eine Neuzusammensetzung des Sektors. Auch er scheint sich eines Besseren besonnen zu haben. Im März 2014 schrieb er »wir müssen die Methoden verschärfen / höher zielen«

 
 
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