Bsirske hatte die Große Tarifkommission vor der letzten Verhandlungsrunde in Potsdam mit einer Rede darauf eingeschworen, es dürfe nicht nochmal passieren, was der ÖTV im großen Streik 1992 passiert war! Sie hatte bestimmte Betriebe und Abteilungen zum Streik aufgerufen – und dann waren auch andere rausgegangen – und nicht mehr rein!
Diese Gefahr drohte diesmal sehr stark. Die Leute haben die Schnauze voll von dauernden Verschlechterungen, viele waren heiß auf Streiken; es ging ihnen nicht nur um Lohnerhöhungen, sondern auch darum, die eigene Wut öffentlich zu machen und auf die Straße zu tragen.
Auch Schäuble hatte Schiss, weil er die Situation politisch einschätzte – deshalb war er bereit zu einem finanziell hohen Angebot, gegen den Widerstand der Gemeinden. Da ist es dann keine »Geldfrage« mehr! Klassenkampf schafft Geld – macht aus Deflation Inflation (siehe die fast zehnprozentige Inflation in China und das update zur China-Beilage Seite 25).
»Auf welcher Basis lebt eigentlich die Gewerkschaftsführung?«
(Frage eines Busfahrers bei einer Diskussionsveranstaltung von KollegInnen unterschiedlicher Bereiche des Fahrpersonals in Berlin Ende März)
Vielleicht lässt sich die Frage so beantworten: Das Verhältnis der Gewerkschaft zu ihrer »Basis« kippelt auf schmalem Grat. Noch beim Streik im Öffentlichen Dienst vor zwei Jahren hielten die Funktionäre den kampfwilligen Betrieben in Stuttgart die »Nicht-Mobilisierbarkeit in der Fläche« vor Augen – und das war nicht gelogen, Ver.di hatte wirklich große Mobilisierungsprobleme. Diesmal war es umgekehrt. In Berlin musste Ver.di bei der BVG zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder Streiks »übernehmen«, weil sonst deutlich geworden wäre, dass es »wilde«, unabhängige Streiks sind. Das muss kein riesiges Problem, kann sogar Gewerkschaftsroutine sein – es markiert dennoch einen Wendepunkt, weil die größte Schwäche der bisherigen Streiks war, dass sie von der Gewerkschaft ausgelöst wurden und unter ihrer Kontrolle blieben. Durch das »Übernehmen« verhindert eine Gewerkschaft nicht nur, dass Streikende sanktioniert werden, weil sie »illegal« streiken – sie verhindert vor allem, dass die Tatsache öffentlich wird, dass ArbeiterInnen von sich aus gestreikt haben! Denn ein großes Problem entsteht für die Gewerkschaften dann, wenn Leute Streiks »ungefragt« aufnehmen! (»Machen wir es wie die bei der BVG!« –siehe Artikel über Öffentlichkeit Seite 10)
Deshalb hat ver.di den angesagten »heißen Tanz im Öffentlichen Dienst« kleingehackt – Mitte April sieht es nun so aus, als müssten die VerkäuferInnen zu Kreuze kriechen (monatelang hatte man ihnen versprochen »nach Ostern steht ihr mit dem ganzen Öffentlichen Dienst zusammen im Streik!«) – und die Postler ggf. alleine streiken…
Ähnlich bei der IG Metall. Der BSH-Streik war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Der zuständige IGM-Sekretär hatte den BSH-Arbeitern am Ende gedroht: »Wenn Ihr jetzt nicht reingeht, werden wir keinen Betrieb mehr zu einem Streik für einen Sozialtarifvertrag rausrufen!« Obwohl die BSH-ArbeiterInnen damals den Streik beendeten, lässt die IGM seither nicht mehr für Sozialtarifverträge streiken. Sondern führt unwürdige Schauspiele auf wie im Fernsehen weinende Nokia-ArbeiterInnen. Um einen Streik zu verhindern, wurden am Verhandlungstisch ähnlich hohe Abfindungen wie bei AEG und BSH erreicht (siehe den Artikel zu Abfindungen in der Wildcat 79!). Das hatte zudem den Vorteil, dass der Umsatz von Nokia nicht zweistellig einbrach, wie es bei AEG und BSH der Fall war.
Überhaupt schafft es die IGM bisher hervorragend, den Exportweltmeister-Standort zu pflegen. Keine Streiks in den zentralen Exportbranchen! Ein kurzer Warnstreik beim Stahl, ein schneller Metall-Abschluss trotz hoher Tarifforderungen der »Basis« – ähh, wie war das nochmal mit der Basis? Geduld, erklären wir gleich nochmal anhand des Lokführerstreiks und der GDL. (Seite 5)
Im Leitartikel der Wildcat 79 hatten wir geschrieben, »in Osteuropa beeinträchtigt der Arbeitskräftemangel bereits das Wachstum des Bruttosozialprodukts.« Das führt inzwischen zu steigenden Löhnen und neuem Selbstwusstsein, das sich in Streikwellen ausdrückt. Der Streik bei Dacia in Rumänien (Seite 7) hat zu starken Lohnerhöhungen geführt – und die Streiks im Land gehen weiter! Das gilt auch für die Streikwelle im Öffentlichen Dienst in Polen, die ersten offensiven Streiks seit 20 Jahren. (Seite 16)
Hat jemand von uns in seinem politischen Leben schon eine solche Phase von sich weltweit ausbreitenden Kämpfen erlebt? Revolten gegen die »Nahrungsmittelkrise« in Haiti, Bangla Desh, Mexiko, Peru, Mauretanien, Senegal, Kamerun, Mosambik, Jemen, Indien usw. usw. Gleichzeitig breite Arbeiterunruhen in Vietnam, in Ägypten. Wir haben noch ganz schnell drei Seiten subjektive Eindrücke über Ägypten geschrieben (Seite 22) und werden im nächsten Heft ausführlich auf die Entwicklung der Kämpfe in diesem Land eingehen. Da ist der Bericht von Loren Goldner aus Südkorea (Seite 28) beinahe schon ein Rückblick!
Apropos »noch ganz schnell«. Nicht nur Ägypten, auch die Berichte zu Dacia und Polen sind sozusagen Stunden vor Druckbeginn geschrieben bzw. nochmal aktualisiert worden. So ist ein Heft mit einem starken Schwerpunkt auf »Streikberichte« entstanden – was gar nicht vorgesehen war, uns aber natürlich freut. Obwohl das Heft schon vier Seiten mehr hat als geplant, war so fast kein Platz mehr für Bilder. Außerdem macht sich besonders bemerkbar, dass eine grundsätzliche Auseinandersetzung über Gewerkschaft fehlt (die wir zunächst für das Heft geplant hatten!). Auch in Bezug auf die Streiks in Osteuropa: Der Streik bei Dacia sah aus der Ferne sehr massiv und wild aus, mit starken Lohnforderungen. Zwei GenossInnen sind hingefahren, was sie dann aus nächster Nähe berichten, klingt anders.
Und nicht nur in Osteuropa sitzen die Gewerkschaften institutionell wieder fester im Sattel. In den letzten Wochen und Monaten brauchte man nicht mehr in linken Medien recherchieren: Alle Presseorgane berichteten seitenweise über miese Machenschaften bei Aldi, Lidl, Pin, Siemens… Überall wurde Propaganda gemacht für »richtige« Gewerkschaften und Betriebsräte, wurden sogenannte »christliche« und »unabhängige« Gewerkschaften enttarnt. Und (fast) alle schlossen sich der Forderung nach Mindestlöhnen an.
Da passt es gut…
dass sich unser Artikel zu Öffentlichkeit und öffentlichem Subjekt mit der Frage von bürgerlicher Öffentlichkeit und proletarischer Erfahrung auseinandersetzt! 1972 schrieben Negt/Kluge: »An den vorherrschenden Interpretationen des Begriffs Öffentlichkeit fällt auf, dass Öffentlichkeit eine Vielzahl von Erscheinungen zusammenzufassen sucht, die zwei wichtigsten Lebensbereiche aber ausgrenzt: den gesamten industriellen Apparat des Betriebes und die Sozialisation in der Familie.« Da passt es gut, dass unser Artikel zur Kritik der Familie genau diesen beiden Bereiche zusammen zu diskutieren versucht! (Seite 33) Was als »Rütlischule« und »zu wenige Akademikerkinder« diskutiert wird, ist was letzteres betrifft sowieso eine Lüge und verdeckt insgesamt ein reales Problem des Kapitalismus in seinen Metropolen: die proletarische Familie reproduziert die Arbeiterklasse nicht mehr. Deshalb sind die Anmerkungen im Heft zwar »subjektiv«, aber sehr viel zentraler zum Thema als die bisherige »öffentliche Debatte«
Und dann haben wir sogar einen dritten Artikel zur »Ideologiekritik«: Kein mensch ist legal. Er ist in Diskussion mit einem Genossen in Großbritannien entstanden. (Seite 38)
Die Linke hat wieder begonnen, sich auf »soziale Frage«, »Arbeitskämpfe« usw. zu beziehen – das muss nicht automatisch gut werden: Die »proletarische Wende« der deutschen Studentenbewegung 1969 hatte nicht nur groteske Züge, etwa wenn die K-Gruppen ihren Mitgliedern Bier statt Wein, Kurzhaarschnitt und die »proletarische Ehe« empfahlen – während die ProletarierInnen gerade aus der Ehe flohen, französischen Käse und Wein entdeckten, lange Haare und Rockmusik zelebrierten! Sondern sie erstickte auch eine anti-autoritäre, breite soziale Revolte im Muff des leninistischen Partei-Aufbaus und schnitt ihr damit gerade die vielversprechenden Verzweigungen mit den sozialen Ausbrüchen in der Arbeiterklasse ab. Viele der K-Gruppen-Kader sind heute IGM-Vorsitzende, Gesundheitsministerin, Telekom-Personalchef und ähnliches geworden. Aber auch Leute aus der damaligen Sponti-Szene haben es zum Außenminister, Europa-Abgeordneten und dergleichen gebracht; nur der Renegat Götz Aly hat es bisher einzig zu einem Bundesverdienstkreuz gebracht – er radikalisiert folglich die aktuelle Debatte über die »68er«, indem er ihnen vorwirft, eigentlich Nazis gewesen zu sein.
Aber auch die ernsthaftere Erinnerungsarbeit zur 68er Bewegung (in der BRD und weltweit) und zum Mai 68 (speziell in Frankreich) kommt – von wenigen Ausnahmen abgesehen – ohne die ArbeiterInnen in Frankreich aus. Während aus der linksgewerkschaftlichen Ecke weiterhin die Leier dröhnt »wir« müssten es mal so machen wie in Frankreich, aktuell des öfteren in der Tonart, »bei uns« müsste auch mal ein Generalstreik her. Da passt es gut, dass die Gruppe Mouvement Communiste in ihrer Broschüre zum »Mai / Juni 1968« beides leistet: die ArbeiterInnen mit ihren Erfahrungen sind das zentrale Thema; der Mythos vom Generalstreik wird komplett auseinandergenommen. (Beilage)
Unsere »Mucke-Redaktion« hat sich immer gegen die kulturelle Abschottung in kleine Scenes aufgelehnt und nach Anzeichen gesucht, dass Szenegrenzen einbrechen. Sergio Bologna sieht in Béla Bártok etwas ähnliches. (Seite 42) Was er nicht erwähnt: Bartóks Allegro barbaro war das erste Stück auf dem Debutalbum von Emerson, Lake and Palmer. Sein Einfluss geht weit über den Jazz hinaus!
Neue Preise – neue Vorstufe
Seit dem letzten Heft haben wir ein neues Druckverfahren; das ist etwas teurer – wir hoffen, dass es auch sichtbar wird! Seit der Wildcat 80 haben wir auch den Preis erhöht: Ein Einzelheft kostet jetzt vier Euro. Wir halten aber den Preis für Abos niedrig (drei Euro pro Heft inkl. Porto) und wir bieten allen WeiterverkäuferInnen nach wie vor an: ab 8 Heften 2 Euro! Diese Hefte und die Abos geben wir also zum Materialpreis ab.!