Einleitung
Welche soziale Bewegung war wirklich konstitutiv für die Klassenkämpfe der letzten 40 Jahre in Frankreich? Diese Frage wollen wir weder unkritisch noch mit überschäumender Begeisterung beantworten. Schon gar nicht wollen wir die Bewegung grundlos niedermachen. Wir wollen vielmehr die Ereignisse der Kritik unterziehen und so mit Mythen und schlechter Affirmation aufräumen. Es geht im folgenden um die Bewegung vom Mai/Juni 1968, den größten Generalstreik in der Geschichte des Landes. Wie hat sich dieser Generalstreik entwickelt, wer waren seine Akteure, wie wurde der Streik konkret organisiert, wie viele haben sich am Streik selbst und an den Aktionen beteiligt? Und was uns besonders wichtig ist: Welche Spuren von Arbeiterautonomie hat es gegeben, welche Ansätze von Selbstorganisation der Streikenden, wie war das Kräfteverhältnis mit den Gewerkschaften, insbesondere mit der CGT?
Eine genaue Analyse der Kräfteverhältnisse ist schwierig und wäre eine gigantische Fleißarbeit, die wir nicht leisten können. Wir beschränken uns darauf, die wesentlichen Linien herauszuschälen. Es gibt nur wenige Zeugnisse von direkt Beteiligten, aber jede Menge Lobeshymnen1, die unmittelbar nach dem Mai/Juni, aber auch noch zehn Jahre später veröffentlicht wurden. Angesichts dessen rechtfertigen bereits die beiden Erfahrungsberichte die Veröffentlichung der Broschüre.
Um das Thema diskutierbar zu machen, besteht der Text aus folgenden Teilen:
– Kurze Übersicht über die Situation vor dem Mai 68,
– Kommentierte Chronologie der Ereignisse im Mai und Juni aus dem Blickwinkel der Arbeiterkämpfe,
– Erfahrungsberichte von zwei Genossen,
– Versuch eines Fazits.
Wir haben uns dabei auf die folgenden Punkte konzentriert:
– die erste Streikwoche (14. bis 21. Mai),
– die Wiederaufnahme der Arbeit (ab dem 4. Juni) und die Widerstände dagegen,
– Elemente von Arbeiterautonomie.
Dieser Text ist keine Arbeit von Historikern; er kann nicht Zeitzeugenberichte oder Analysen zu allen Ereignissen einbeziehen. Unsere Auswahl bedeutet nicht, dass die im Text nicht erwähnten Kämpfe keine oder weniger Bedeutung hatten.
Als Quellen haben wir u.a. folgende Veröffentlichungen benutzt:
A. Delale et G. Ragache: La France de 68, Seuil, Paris, 1978.
J. Baynac, Robert Laffont: Mai retrouvé, Paris, 1978.
M. Seidman: The imaginary revolution. Parisian students and workers in 1968, Berghahn Books, New York 2004.
R. Gregoire & F. Perlman: Worker-Student Action Committees, France May 68, Black & Red book, Kalamazoo, 1969.
und den Text Les grèves en Mai 68 auf der Seite
www.mondialisme.org/article
Mouvement Communiste, Dezember 2006
Der Mai / Juni 1968 der ArbeiterInnen
1.-13. Mai: Die Vorläufer
Diese erste Phase des Mai ist durch die Studentenbewegung bestimmt. Auf der recht erfolgreichen 1. Mai-Demo – der ersten genehmigten seit 1954, mit 100 000 TeilnehmerInnen – kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen den Ordnern der CGT und den Linksradikalen2. Die am 22. März in Nanterre ausgebrochenen Unruhen erreichen Paris.
Am Donnerstag, 2. Mai beschließt Dekan Roche zum zweiten Mal in diesem Jahr die Schließung der Literaturfakultät in Nanterre. Am nächsten Tag besetzen 500 Mann CRS und mobile Einsatztruppen den Campus, filzen Autos und verhaften Leute wegen »Waffenbesitz« (Schleudern, Bolzen). Sechs Personen werden zu Haftstrafen mit Bewährung verurteilt.
Am Freitag, 3. Mai, räumt die von Dekan Roche angeforderte Polizei den Lichthof der Sorbonne, der von Studierenden insbesondere aus Nanterre besetzt ist, die an einem Treffen teilnehmen wollen. Sie werden von der Polizei eingekesselt. Das ruft den Protest anderer Studierender hervor. Es kommt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die mehr als sechs Stunden dauern. 600 Personen werden festgenommen.
In der Humanité hetzt Georges Marchais3 gegen »den deutschen Anarchisten Cohn-Bendit« und »die revolutionären […] Söhne der Großbourgeoisie, […] deren revolutionäre Glut rasch erlöschen wird, wenn sie erst einmal die väterlichen Betriebe übernommen haben, um selber die Arbeiter auszubeuten.«
Am Sonntag, 5. Mai ordnet die Regierung die Schließung der Sorbonne an. Zum Tagesanbruch des 6. Mai riegelt die Polizei das Quartier Latin ab. Im Verlauf des Morgens formieren sich DemonstrantInnen und Polizei auf dem Boulevard Saint Michel, es kommt zu Schlägereien. Zur selben Zeit stehen acht Studenten aus Nanterre, darunter Cohn-Bendit, vor einem Disziplinargericht. Vor der Halle-aux-vins formiert sich eine Demo mit 6000 TeilnehmerInnen. Die Studentenvereinigung UNEF ruft für 18.30 Uhr zu einer Versammlung auf dem Platz Denfert-Rochereau auf. Die (erste) Demo zieht los, kehrt über das rechte Seine-Ufer ins Quartier Latin zurück. In der Rue des écoles greift die Polizei überraschend und brutal an, die Studenten wehren sich, bauen Barrikaden.
Auf dem Platz Denfert-Rochereau sich formiert zur selben Zeit die UNEF-Demo. Auf der Höhe der Rue de Four stößt sie auf die Polizei, gewaltsame Auseinandersetzungen, entschlossen werden die Barrikaden verteidigt. Im weiteren Verlauf des Abends kommt es zu sehr gewalttätigen Zusammenstößen im Quartier Latin – 500 Verletzte, 400 Festnahmen.
Auch in der Provinz finden Demos statt, auch einige gewalttätige, wie z.B. in Grenoble.
Dienstag, 7. Mai: um 18.30 Uhr Versammlung auf dem Platz Denfert-Rochereau. Die Demo zieht im Polizeispalier für vier Stunden durch Paris, Invalidendom, Quai d’Orsay, Concorde, Triumphbogen (21.30 Uhr), dann zurück über das linke Seine-Ufer. An der Kreuzung Rue de Rennes – Rue d’Assas erneute Polizeisperre. 50 000 DemonstrantInnen. Überall mehr Prügeleien als am Vorabend. Die Polizei geht äußerst brutal vor.
Mittwoch, 8. Mai: wieder Versammlung an der Halle-aux-vins. Demo über den Boulevard Saint-Germain, den Senat und Place Edmond Rostant. Abgeordnete der PCF versuchen, sich an die Spitze der Demo zu setzen, werden aber zurückgetrieben. Die Sorbonne ist abgesperrt. Die UNEF hat die Kontrolle und löst die Demo auf, ohne dass es zu weiteren Auseinandersetzungen kommt.
Donnerstag, 9. Mai: keine weiteren Demonstrationen, stattdessen diverse politische Versammlungen.
Der Freitag, 10. Mai, der als »Barrikadennacht« berühmt wird, beginnt nach der Demo am Platz Denfert Rochereau. Ein Teil der DemonstrantInnen beginnt gegen den Widerstand der UNEF mit dem Barrikadenbau. Im Laufe der nächsten Stunden werden mehr als 60 weitere errichtet. Gegen 22 Uhr erklärt sich der Rektor der Sorbonne bereit, eine Delegation von Studierenden zu empfangen. Mittels zweier Radiostationen wird eine Art »doppelter Dialog« geführt: Geismar antwortet dem Vize-Rektor auf Radio Luxemburg, Sauvageot dem Rektor auf Radio Europe No. 1. Die Verhandlungen scheitern an der Frage der verurteilten StudentInnen: Der Rektor erklärt sich als dafür nicht zuständig. Um 0.15 Uhr wird es drei Professoren und drei Studenten gestattet, die Sorbonne zu betreten. Cohn-Bendit, trotz Verbot des Rektors Teil dieser Delegation, gibt die Parole aus: »Besetzung des Quartier Latin ohne Angriffe auf die Polizei.« Nach anderthalb Stunden enden die Geheimverhandlungen in einer Sackgasse. Nach einer letzten Aufforderung greift die Polizei gegen 2.15 Uhr an – es kommt zu einem äußerst gewalttätigen und bis 4.30 Uhr anhaltenden Kampf mit Hunderten von Verletzten auf beiden Seiten. Die Ereignisse, die live von Radio Luxemburg und Europe No.1 übertragen werden, bekommen eine sehr wichtige Dimension. Als die Bilder im Fernsehen übertragen werden, vermitteln sie den verblüfften und verstörten Provinzbewohnern den Eindruck, das Land stünde am Rande eines Bürgerkriegs.
Pompidou zieht die Konsequenzen aus der Barrikadennacht – am 11. Mai wird die Sorbonne wieder geöffnet. Die StudentInnenbewegung scheint an Schwung zu verlieren. Die Gewerkschaften haben aus Protest gegen die Polizeigewalt zu einem eintägigen Generalstreik am 13. Mai aufgerufen.
13.-18. Mai: Es bebt
Der Generalstreik am 13. Mai
Hinsichtlich der Teilnehmerzahl waren die Demos am 13. Mai ein großer Erfolg – weniger jedoch hinsichtlich der sie unterstützenden Streiks. Das Drittel der Industriebeschäftigten, welches in Betrieben mit weniger als 50 Leuten arbeitet, hat nicht gestreikt. Anders sieht es aus in den Großbetrieben, vor allem den staatlichen: EDF und GDF (80 Prozent im Ausstand), Eisenbahn (50 Prozent)4, RATP (60 Prozent), LehrerInnen (75 Prozent) – und vor allem bei der Post. Dort brachen schon seit dem 8. Mai immer wieder sporadisch Streiks aus, vor allem in den Verteilzentren. Hier lag die Beteiligung bei 74 (Paris Nord) bzw. 33 Prozent (Paris Ost). In Paris Austerlitz und Paris Brune streikten unter Führung der CGT am 10. März die Fahrer – eine Folge der sich seit März schleichend verstärkenden Unruhe.5
In der Pariser Metallindustrie jedoch erreichte die Zahl der Streikenden lediglich zwischen 25 und 35 Prozent, insbesondere in der Auto- und Flugzeugindustrie war die Beteiligung schwach. Bei der Sozialversicherung lag die Beteiligung bei 35 Prozent, bei den anderen Versicherungen lag sie zwischen 10 und 16 Prozent. Für Renault-Billancourt ist die Streikbeteiligung schwer zu schätzen, die Angaben schwanken zwischen 40 und 80 Prozent, hier haben in erster Linie die gewerkschaftlich Organisierten, also die Höherqualifizierten, an den Demos teilgenommen. Bei Thomson (Bagneux und Gennevilliers [Hauts-de-Seine]) lag die Quote bei 60-65 Prozent, im Atomkraftwerk von Saclay (Essonne) bei 75 Prozent, bei Chausson (90 Prozent). In der Niederlassung von Rhone-Poulenc in Vitry (Val-de-Marne) beteiligten sich 50 Prozent. Diese Zahlen vermitteln ein wenig, welche Stimmung in den Betrieben herrschte. Zwar war seit langem kein »Gewerkschafts-Kampftag« so erfolgreich – aber die Aktionen entwickelten sich noch nicht zum Flächenbrand. Genau das bewog die Direktion von Citroën-Levallois, die ArbeiterInnen auszusperren – die nicht gestreikt hatten.
Viel wichtiger ist sicherlich, dass Tausende von ArbeiterInnen sich von den Protesten der StudentInnen angesprochen fühlten und das Zurückweichen der Macht, ihre Schwäche, zur Kenntnis nahmen. Wie geht es weiter?
Am 14. Mai begann6 der Streik in Woippy, einer Vorstadt von Metz. 500 ArbeiterInnen von Claas, einem Hersteller von Landwirtschaftsmaschinen, traten in den Streik. Nach einer kurzen Versammlung forderten sie die Anwendung eines paritätischen Abkommens für die Metallindustrie, neue Lohntabellen, bessere Arbeitsbedingungen und die Überarbeitung der Vorgaben zur Zeitaufnahme. Am nächsten Morgen stimmten sie für unbefristeten Streik.
Werfen wir einen Blick auf einige große Betriebe in dieser ersten Streik-Phase.
Sud-Aviation
Dann brach der Streik bei Sud-Aviation7 in Bougenais bei Nantes aus.8 Seit Monaten wurde hier mit Kündigungen und Lohnkürzungen gedroht. Die Direktion wollte im Zuge eines Produktionsrückgangs die Wochenarbeitszeit von 48 auf 47 Stunden reduzieren und eben nur diese 47 Stunden bezahlen. Die ArbeiterInnen wollten gerne nur 47 arbeiten, aber weiterhin für 48 Stunden bezahlt werden. Anfang Mai kam der schwelende Protest zum Ausbruch. Zwischen dem 9. April und dem 10. Mai rief die Gewerkschaft 13 mal zu Warnstreiks von einer bis acht Stunden Dauer auf, dann am 13. Mai zum Streik.9
Am 14. Mai gab es schließlich Arbeitsniederlegungen zwischen 14.30 und 15 Uhr sowie zwischen 15. 30 und 16 Uhr, jeweils mit Umzug durch die Werkshallen. Ein Treffen zwischen Gewerkschaftsdelegierten und Direktion brachte keine Übereinkunft. Zum ersten Mal legten auch die Monatslöhner die Arbeit nieder. Der Direktor Duvochel wurde – in Erwartung einer Antwort der Pariser Direktion – in seinem Büro eingesperrt. Die Delegierten ließen die Ausgänge blockieren, um die anderen ArbeiterInnen am Verlassen des Werks zu hindern. Faktisch war der Betrieb nun besetzt und unter vollständiger Kontrolle der CGT. Bis zu ihrer Befreiung am 29. Mai blieben der Direktor und seine Untergebenen, verpflegt durch die Gewerkschaft und mit Zugang zum Telefon, in ihren Büros gefangen.
Renault Cléon.
Am 15. Mai nutzten die Gewerkschaften in Cléon10 die Hitze in den Werkshallen, um an den Erfolg vom 13. Mai anzuknüpfen. Sie wollten Druck auf die Regierung ausüben, die am 21. August 1967 verordneten Änderungen bei der Sozialversicherung zurückzunehmen. Es wurde eine einstündige Arbeitsniederlegung pro Schicht beschlossen.
Während der Arbeitsniederlegung am Morgen zogen die ArbeiterInnen unter Führung von besonders wütenden Jungen durch die Fabrik, um die noch Arbeitenden dazu zu bringen, sich anzuschließen. Sie forderten die Bildung eines Streikkomitees – und erwähnten in ihren Parolen nicht einmal die Verordnungen zur Sozialversicherung. Ein Verantwortlicher der CFDT musste all seine Überredungskünste anwenden, um die KollegInnen an ihre Arbeitsplätze zurückzuschicken. Die aber unterbrachen weiter ständig die Arbeit, um miteinander zu diskutieren bzw. um neu eingetroffene KollegInnen auf dem Laufenden zu halten.
Die Nachmittagsschicht begann wieder mit einer Arbeitsniederlegung, aber wieder wurde auf Druck der Jungen ein Umzug organisiert. Die Jungen setzten sich an die Spitze, unter den Fenstern der Direktion skandierten sie Parolen, schoben die verdutzten Gewerkschaftsfunktionäre nach vorne und verlangten lautstark, dass diese vom Direktor empfangen werden sollten – was der verweigerte. Die Abteilungsleiter in den Büros waren geschockt und verbarrikadierten die Türen mit Eisenstangen. Die ArbeiterInnen sahen dies und beschlossen, sie so lange nicht heraus zu lassen, bis ihre Delegation empfangen würde. Um 18 Uhr arbeitete niemand mehr, unter allgemeiner Begeisterung wurde beschlossen, die Fabrik jetzt zu besetzen. Ab dem Abend des 15. Mai waren die Vorgesetzten eingesperrt – wie bei Sud-Aviation. Am 17. Mai versuchte die CGT, die Chefs zu befreien, nahm aber nach wütenden Protesten der Belegschaft rasch von ihrem Vorhaben Abstand. Sie erreichten erst am 19. Mai ihr Ziel.
Die Gewerkschaften bildeten einen Ordnungsdienst, organisierten die Besetzung – was in erster Linie hieß, die Maschinen zu schützen – und erstellten einen Forderungskatalog, der um 23 Uhr als Flugblatt verteilt wurde. »Reduzierung der Arbeitszeit auf 40 Stunden ohne Lohnverlust, Mindestlohn von 1000 Francs, Absenkung des Rentenalters, Umwandlung der Zeitarbeitsverträge in Festeinstellungen, Ausweitung der gewerkschaftlichen Befugnisse.«
Noch am selben Abend legte der Vollstreik bei Renault zwei weitere Betriebe der Region lahm: Kléber-Colombes in Elbeuf und La Roclaine in Saint-Etienne-du-Rouvray. Dennoch gelang es der CGT (und den älteren ArbeiterInnen) rasch, den Streik wieder unter ihre Kontrolle zu bringen.
Renault Flins
In Flins11 wollten die Gewerkschafter der CFDT am 16. Mai vormittags zusammenkommen, um die Anweisungen der Führung bezüglich der Verordnungen zur Sozialversicherung zu diskutieren. Kurz davor erfuhr einer der Teilnehmer am Telefon, dass sich das Werk in Cléon im unbefristeten Besetzungsstreik befand und dass die Vorgesetzten festgesetzt waren. Sofort beschlossen die CFDT ler, sich mit der CGT kurzzuschließen und den Vorschlag zu unterbreiten, die Arbeit um 10.15 Uhr für eine Stunde niederzulegen. Paarweise (je einer von CGT und FDT) gingen die Gewerkschafter in die Werkshallen, um diese Anweisungen zu erteilen. Zum angesagten Zeitpunkt legten ca. 500 ArbeiterInnen die Arbeit nieder und versammelten sich vor den Gebäuden. Als Zug formiert gingen sie zurück in die Werkshallen, um die anderen zu ermutigen, die Arbeit niederzulegen. Um 11.30 Uhr trafen sie sich wieder vor der Kantine. Die beiden Verantwortlichen von CFDT und CGT informierten über die Geschehnisse in Cléon und schlugen vor, sofort in einen unbefristeten Streik zu treten. Der Vorschlag wurde angenommen und unverzüglich die Besetzung der Fabrik organisiert. Das hieß als erstes, Streikposten zu organisieren und Freiwillige in diesbezügliche Listen einzutragen. Bevor sich alle in die Mittagspause zerstreuten, setzte man noch eine weitere Versammlung zusammen mit der Nachmittagsschicht um 14 Uhr an. Diese Versammlung klopfte noch einmal den unbefristeten Besetzungsstreik fest. Um 15.30 stoppte die Werksleitung die Produktion – für diejenigen, die noch arbeiteten. (Diese Version der Fakten stammt von einem CFDT-Gewerkschafter.)
Auf der morgendlichen Versammlung war es vor allem um die Solidarität mit Cléon gegangen. Auf der am Nachmittag präsentierten die Gewerkschaften einen Forderungskatalog: »40 Stunden ohne Lohnverlust; 1000 Francs Mindestlohn; Rente mit 60 (für die Frauen mit 55); eine fünfte Urlaubswoche für die Jungen; Rücknahme der Verordnungen zur Sozialversicherung; Ausweitung der gewerkschaftlichen Befugnisse.«
Renault Billancourt
Es gäbe eine Menge zu sagen zu den Versionen von CGT/PCF zum Beginn des Streiks, den Eindrücken, den falschen bis tendenziösen Behauptungen. Beschränken wir uns hier auf den Hinweis auf das Märchen das Aimé Halberer erzählt, Generalsekretär der CGT in Billancourt, ein leuchtendes Beispiel von Rechtschaffenheit: »Am Morgen des 17. öffneten sich um sechs Uhr die Tore für die Frühschicht, die die Arbeit aufnahm. Um 10 Uhr gab es eine Versammlung auf der Île Seguin.« und weiter: »Am Freitag wurde beschlossen, die Fabrik am Wochenende zu besetzen.«12
Richtig, nur stand die Fabrik schon seit dem Vorabend still. Denn schon am Donnerstag, dem 16. Mai waren einzelne Abteilungen spontan in den Streik getreten. Es war keinerlei Verbindung hergestellt worden zwischen den Streikenden aus den Abteilungen 55 und 70 (in Billancourt) und denen aus Abteilung 37 (auf der Südspitze der Île Seguin). Was anderswo geschrieben wurde (vgl. www.mondialisme.org), stimmt nicht. Die Abteilung 37 trat erst gegen 17 Uhr in den Streik. Wie also hätte es ein gemeinsames Treffen der beiden streikenden Abteilungen an der Kreuzung Zola Kermen gegenüber von Abteilung 37 geben können (das sind mehr als zwei Kilometer Fußweg)?
Hier folgt der Bericht eines Genossen, der in der Abteilung 37 arbeitete, dem Werkzeugbau für die Karosseriepressen, auf der unteren Spitze der Île Seguin. Dort waren nur Facharbeiter beschäftigt. Er hatte damals engen Kontakt zur Gruppe Voix Ouvrière (Arbeiterstimme).
An dem berühmten 16. Mai mittags hatte eine trotzkistische Gruppe versucht, auf dem Place Nationale eine Versammlung zustande zu bringen. Die PCI (Gruppe »Lambert«) und die Arbeiter aus den umliegenden Gebäuden, die aus der Kantine zurückkamen, blieben einige Minuten stehen und diskutierten. Dann kehrten sie in die Werkshallen zurück. Andere gingen frühstücken oder gingen weg usw. Gleich im Anschluss daran ging es bei den Arbeitern der Abteilungen 55 (spanabhebende Fertigung) und 70 (Kleinserienfertigung) los. Sie stellten für ein, zwei Stunden praktisch die Arbeit ein, ohne dass offiziell der Streik erklärt wurde.
Auf der Insel verbreitete sich das Gerücht, der Streik hätte begonnen, aber man wusste nicht, was los war, und in der 37 stieg die Stimmung. Die Jungs sagten: »Gut, wir gehen raus!«, die Stimmung sank aber wieder. Dann kam wieder Stimmung auf und alle diskutierten. Der örtliche Gewerkschaftsdelegierte der CGT war auf demselben Stand wie die anderen und wusste nichts. Um 17 Uhr schließlich ging es massiv los, ohne dass sich jemand besonders an die Spitze gestellt hätte. 200 bis 300 aus der Abteilung gingen in einem Zug die Insel hinauf und durchquerten dabei die Montagebänder (Blechverarbeitung, Karosserie, Montage), wo mehrheitlich Immigranten arbeiteten (und wo die Präsenz von PCF/CGT schwächer war). Die Bänder wurden angehalten und der größte Teil der Arbeiter verließ auf der Stelle die Fabrik. Es ist schwer zu sagen, ob an den Bändern gestreikt wurde. Sie arbeiteten nicht mehr, das ist gewiss, aber ein guter Teil der Arbeiter entzog sich dann auch dem Demonstrationszug, sie liefen weg und verließen die Fabrik. Kaum ein Bandarbeiter nahm am Zug der Streikenden aus der 37 teil. Völlig improvisiert diskutierten die Streikenden über eine Besetzung. Es stand nicht zur Debatte, die ganze Insel zu besetzen, dazu waren sie zahlenmäßig zu schwach. Sie sind dann losgezogen, um die Abteilung Bas-Meudon zu besetzen und im selben Streich mit der Blockade der Brücke von Meudon den südlichen Zugang zur Île Seguin zu schließen.
Am nächsten Tag, Freitag, dem 17. Mai stand die Fabrik still. Auf der von der CGT für 10 Uhr einberufenen Versammlung waren viele Leute. Die CGT hatte in den Bereichen, in denen ihr Einfluss größer war, d.h. bei den Facharbeitern, breit mobilisiert, und so kamen viele Leute zusammen. Es waren aber auch viele Bandarbeiter da. Nach der Versammlung gingen die CGT-Mitglieder Richtung Bas-Meudon, um, wie gesagt worden war, »die Streikposten zu verstärken«. Tatsächlich wurden von da an die Arbeiter, die bisher Posten standen, überrannt, und der CGT-Apparat nahm so mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen (Kantinen, Betriebsrat usw.), die Dinge in die Hand, und das bis zum Schluss des Streiks.
Aus unseren Recherchen ergibt sich, dass der Streik an diesem Donnerstag, 16. Mai, an zwei unterschiedlichen Orten der Fabrik und um zwei Stunden zeitversetzt los ging, ohne dass eine Verbindung zwischen beiden bestand:
– in den Abteilungen 55 und 70 gegen 14, 15 Uhr,
– in der 37 gegen 17 Uhr.
Beide Streikherde entstanden »außerhalb der Gewerkschaften«, wie Halberer in einem Nebensatz zugibt.12
Erste Eindrücke
Die geografischen Schwerpunkte dieser ersten Streikwelle waren die Region von Paris, das Seine-Tal bis Le Havre, die Region Nantes Saint-Nazaire und die Region Lyon. In anderen Regionen blieb der Streik punktuell.
Am 17. Mai streikende mehr als 200 000. Die Bewegung breitete sich um ihre Ursprungsregionen herum aus wie ein Ölfleck, dann erreichte sie den Südosten, von Besançon bis zur Provence. In der Banlieue von Paris befanden sich mehrere Fabriken im Streik, aber bis zum Abend des 17. Mai trugen vor allem die Arbeiter in der Provinz die Aktion.
In den ersten Tagen überwogen spontane Arbeiteraktionen. »Besetzte Fabrik: Wir haben die Schnauze voll!« verkündete das an der Fabrik Vinco (Büromaterial aus Metall) in Dieppe angebrachte Spruchband. Das war kein isolierter Fall. Das Anagramm, das die Arbeiter aus den Buchstaben auf dem Giebel der Firma BERLIET gestalteten, die sie umsetzten und LIBERTÉ daraus machten, erlangte Symbolkraft. Keine dieser Aktionen entsprach irgendeiner Vorgabe.
Diese erste Welle wurde oft als spontan bezeichnet. Das ist nur dann richtig, wenn man »spontan« als »Abwesenheit von gewerkschaftlichen Streikparolen auf Staats- oder Verbands-Ebene« fasst. Da es keine Verbindungen zwischen den Fabriken gab, steht fest, dass viele Streiks von aktiven CGTlern ausgelöst oder mitgetragen wurden14, dass sie von Minderheiten (wie den 200 jungen Arbeitern von Cléon) begonnen und getragen wurden, die den Rest der Arbeiter mit gezogen oder deren Passivität überwunden haben. Selbst für die Region Paris – hier kommt uns zugute, dass das CATE Censier (Aktionskomitee Arbeiter und Studenten) in jener Woche über Kontakte in viele Betriebe (FNAC, BHV, RadioTechnique, NMPP usw.) verfügte – lässt sich feststellen, dass eine Minderheit der Beschäftigten einschließlich der CGT-Delegierten »etwas machen wollte« und gegenüber Außerbetrieblichen, die kamen, um zu diskutieren, überhaupt nicht feindlich eingestellt war. Was waren die Gründe dafür?
Erstens jahrelanger Frust, den die jüngeren Arbeitergenerationen genauso erfahren hatten wie die älteren. Dann die Schlappheit der Aktionstage, die auch von den aktiven Gewerkschaftern als eintönig und ineffektiv empfunden wurden. Schließlich das Gefühl, dass die Staatsmacht geschwächt war und dass jetzt die Gelegenheit bestünde, das auszunutzen. Letztlich am Rande auch die Furcht mancher Gewerkschaftsaktivisten der PCF, überrannt zu werden. Die CGT-Führung bekämpfte diese verschiedenen Schubkräfte nicht, aber sie machte nicht unbedingt Werbung dafür. Außerdem ging die Bewegung weiter und dehnte sich aus. Ein erstes Bild der zwischen dem 14. und 17. Mai in Streik getretenen Branchen ergibt, dass es die Belegschaften aus 45 Schwerindustrie- und Maschinenbau-Betrieben, 19 Betrieben der Automobilindustrie und 13 der Luftfahrtindustrie waren. In dieser Vorhut waren aber auch massiv ArbeiterInnen aus Chemie- und Kunstfaserfabriken (23), aus der Elektrotechnik (17), der Nahrungsmittelbranche (15), aus Möbelfabriken (2) und weiteren Branchen vertreten. Dies deutet auf eine tiefe und umfassende Unzufriedenheit hin, die weit über die einfachen Probleme wie Lohn und Einstufung hinausging.
18.-20. Mai: Die Wende
Das Zaudern der Gewerkschaften auf Verbandsebene wurde in dieser Woche sichtbar. Die CFDT versuchte, sich gegenüber den Absichten der Studenten aufgeschlossen zu geben; FO blieb vorsichtig und wollte sich nicht allein gegen die CGT stellen; diese wiederum zögerte.
Der lange geplante Aktionstag gegen die Verordnungen15 am 15. Mai hatte nicht den erwarteten Erfolg: Einige Arbeitsniederlegungen, Delegationen und wenige Demonstrationszüge riefen keinen Enthusiasmus hervor. Am selben Tag bekräftigte die CFDT erneut ihren Willen zur Annäherung an die »progressiven« Studenten. Verbandsverantwortliche und Aktivisten traten mit den Besetzern der Sorbonne in Dialog. Die Metallgewerkschaft (Fédération de la métallurgie) empfahl sogar ihren Mitgliedern: »Es wäre angebracht, das Gespräch mit den Studenten zu suchen. Nicht nur, um ihnen unsere Zustimmung zu ihren Forderungen auszudrücken, sondern auch und vor allem, damit unsere Besorgnisse um die Demokratie im Unternehmen, um das Recht auf Arbeit, um die wirkliche Demokratisierung in der Bildung von ihnen verstanden und geteilt werden.«
Im Namen der FO traf sich André Bergeron mit der Leitung der CFDT am Square Montholon. Er erklärte, die FO sei bereit, die Besetzungen zu unterstützen, wolle dabei aber unabhängig von der CGT bleiben.
Die CGT blieb reserviert. Die Forderungen nach Selbstverwaltung und die von der CFDT verlangten Strukturreformen wurden von Georges Séguy schroff als »Leerformeln« abgetan. In Billancourt missbilligte die CGT-Sektion die Initiative der UNEF, einen Solidaritätsmarsch zur Fabrik zu organisieren, während die CFDT- und FO-Sektionen sich erfreut über diesen Sympathiebeweis zeigten. Die CGT veröffentlichte am 16. Mai ein Kommuniqué mit dem schon zum Ritual gewordenen Appell zur »Bildung einer reibungsfreien gewerkschaftlichen Front« und einem Nebensatz, der die »Ersetzung der jetzigen Machthaber durch eine Volksregierung« ins Auge fasste. Schließlich rief die CGT zur »Mobilisierung der Erwerbstätigen« auf, um die »offenen Rechnungen« zu begleichen.
Aber als die Flut der Streikenden täglich stieg, beschloss die CGT (und die PCF, wobei man in der Gewerkschaftszentrale kaum zwischen beiden unterscheiden kann) zu reagieren. Die Entscheidung war einfach, aber schmerzlich: Bei der Jugend generell und besonders bei den Studenten schien die PCF diskreditiert; ihre Jugendorganisationen hatten jedenfalls keinerlei Gewicht. Riskierte man nun das gleiche in der Arbeiterklasse? Die Bewegung war zwar noch reichlich minoritär (200 000 Streikende am Abend des 17. Mai) und schwach organisiert (Fabrikbesetzung, teilweise begleitet von der Einsperrung von Vorgesetzten oder Direktoren, stand an Stelle der Organisierung). Außerdem war sie geografisch lokalisierbar und im Gegensatz zu den Illusionen der Linksradikalen weit entfernt davon, revolutionär zu sein, aber Gefahr bestand.
Für die CGT ging es also nicht darum, »den Tiger zu reiten«, sondern eher darum, diese stotternde Bewegung zu überrennen, indem sie den Streik dort auslöste, wo sie die Mittel dazu hatte, vor allem bei der SNCF, bei der RATP, bei der Post oder in der Banlieue (wie in Seine Saint-Denis), wo das vereinte Gewicht der Mitglieder in den Betrieben, der Gewerkschaftsfunktionäre und der kommunalen Beschäftigten den Streik forcieren konnte, aber auch dadurch, dass man dafür sorgte, dass die in der CGT organisierten EDF-Arbeiter den Unternehmen den Strom abstellten, »um die Oberhand zu gewinnen«, wie in Seine-Saint-Denis seit dem 20. Mai. Oder wie in der Fabrik Carbone Lorraine (1200 Arbeiter) in Gennevilliers, wo die CGT am 18. Mai alleine den Streik ausrief.
Nach Aussagen des Innenministers wurde in 58 von insgesamt 77 Metall-Betrieben in der Region Paris der Streik von der CGT ausgelöst, in sechs von der CFDT und in drei von der FO. Nach derselben Statistik wurden 58 Prozent der Streiks von Beschäftigten im Alter zwischen 30 und 40 Jahren ausgelöst, 27 Prozent von Beschäftigten zwischen 20 und 30, 8 Prozent von Beschäftigten unter 20 Jahren und 7 Prozent von Beschäftigten, die älter als 40 waren. Nach den Statistiken der UIM (Unternehmerverband der Metallindustrie) wurden 75 Prozent der Streiks nach einer Diskussion beschlossen. In 26 Prozent der Fälle hätten die Streikenden Gewalt angewendet, um den Streik im Betrieb durchzusetzen. Wo es Keime einer Arbeiterorganisierung gab, wurde eine die Taktik angewandt, wie es das Beispiel von Alsthom in Saint-Ouen weiter unten sehr gut illustriert.
Auf dem Weg zur Entscheidung
Mit einer Blockade der öffentlichen Verkehrsmittel SNCF und der RATP in Paris erreicht man, dass alle in Kleinbetrieben Beschäftigten und die isolierten Angestellten gleichermaßen nicht zur Arbeit gehen und dafür eine gute Entschuldigung haben. Aber wenn die Gefahr besteht, überrollt zu werden, stellt das Auslösen eines Streiks eine viel größere Gefahr dar. Denn wenn die Schleusen einmal zu weit geöffnet sind, lässt sich kaum sagen, ob man die ArbeiterInnen auch leicht wieder ins Bett der Normalität zurückbringt.
Auch wenn wir gar nichts über die Diskussionen innerhalb der Leitung der CGT wissen: Tatsache ist, dass sich die CGT am 17. Mai abends nach einer langen außerordentlichen Sitzung auf nationale Ebene dafür entschied, die Bewegung auszunutzen, ohne deswegen zu einer Aktionseinheit zu kommen, da Séguy herrisch erklärte, dass »es sowohl bei der CFDT als auch bei der FEN noch keine sehr klare Sicht der Dinge gäbe«. Aber hinter diesem Formulierungschwindel war die Entscheidung getroffen, und sie war gezielt getroffen.
Am nächsten Tag, dem 18. Mai, wurde der »General«-Streik ausgelöst, was innerhalb von fünf Tagen zur vollständigen Lähmung des Landes führte. Die Zahl der Streikenden wuchs schnell an: am 18. gegen Mittag waren es eine Million, am Abend mehr als zwei Millionen.16 Nach der Sonntagspause erreichte die Arbeitsniederlegung alle Regionen und alle Berufsgruppen: mehr als vier Millionen am Montagabend, sechs bis sieben Millionen am Dienstag, acht Millionen am Mittwoch, dem 22. Mai, und am Tag nach Himmelfahrt waren es fast neun Millionen Streikende. Am 18. blieben in Paris die Bahnen und Busse im Depot. Schon am 17. Mai waren die Eisenbahner in Achères und Saint Lazare in den Streik getreten. Nach den Statistiken des Innenministeriums waren vom 18. Mai abends 85 000 der 92 000 Eisenbahner der Region Paris im Streik, sowie 29 000 der 30 300 Beschäftigten der RATP. Im ganzen Land schloss ein Postamt nach dem anderen. In den folgenden Tagen schlossen sich EDF/GFD (in der Region Paris waren 33 200 von 38 700 Beschäftigten im Streik) und die LehrerInnen der Bewegung an. Bei der Post beteiligten sich ab 21. Mai 50 000 von 80 000 in der Region Paris und 66 000 von 175 000 in der Provinz. Die meisten Verteilzentren in der Region Paris war besetzt und die Postämter von den Streikenden geschlossen worden. Seit dem 18. Mai verlangte die Postdirektion von der Polizei, die von etwa 100 Streikenden besetzte Telefonzentrale im 2. Arrondissement in der Nähe der Börse zu räumen. Nach Verhandlungen mit der CGT wurde die Zentrale friedlich verlassen.
Alle Industriebranchen waren betroffen, ebenso aber auch Banken, Versicherungen, Verwaltungen usw.. In der Sekundarstufe waren die Gymnasien schon am 18. Mai im Streik, also vor dem Generalstreikbeschluss der FEN am 22. Mai. Die Kaufhäuser schlossen ihre Türen, die Fischerei- und Handels-Seeleute blieben an Land, die Beschäftigten der Mautstellen und Grenzübergänge öffneten ihre Schranken. Auch die LandarbeiterInnen und die Beschäftigten im Straßenbau auf dem flachen Land traten in den Streik. Frankreich war lahmgelegt.
20.–29. Mai Die Flut steigt
Aber kann man von einem »aktiven Streik«17 sprechen? Abgesehen von einigen Beispielen, auf die wir noch zurückkommen, und ohne auf das Beispiel von Renault-Billancourt zu fokussieren, ist folgender Schluss zu ziehen: Die Arbeiter arbeiteten zwar nicht, aber sie blieben zu Hause. Die Fabriken waren besetzt, aber von einer Handvoll Arbeiter, die meisten waren Gewerkschaftsmitglieder, vor allem der CGT; man stimmte täglich über die Fortsetzung des Streiks ab; man kam, um Neuigkeiten zu hören oder zum Essen, aber man diskutierte nicht über die Bewegung oder über durchzuführende Aktionen. Der größte Generalstreik der Geschichte (auf dem Höhepunkt streikten neun Millionen zehn Tage lang) war der, an dem sich die Arbeiter am wenigsten beteiligten. Das ist das Paradoxe am Mai-Juni 1968.
Politische Krise und Aufstände
Am 14. Mai fuhr Staatspräsident de Gaulle nach Rumänien. Nach seiner Rückkehr am 19. Mai sagte er seinen berühmt gewordenen Satz: »Die Pause ist vorbei« und dann: »Reformen ja, Bettscheißer nein!« und kündigte für den 24. Mai eine Ansprache im Fernsehen an.
In der Zwischenzeit musste Premierminister Pompidou die Stellung halten. Da er von der Entwicklung des Generalstreiks überrascht wurde, stand zunächst die Aufrechterhaltung der Ordnung im Mittelpunkt seiner Überlegungen. In dieser historisch noch nie dagewesenen Situation musste sichergestellt werden, dass der Staat noch über ausreichend Polizeikräfte verfügte und, falls erforderlich, die Armee schnell eingreifen lassen konnte. Auch bei den Ordnungskräften war inzwischen ein Murren zu vernehmen.
Die Regierung war nicht in der Lage, unmittelbar auf die Entwicklung der Streiks zu reagieren, sogar wenn sie für den Staat strategisch wichtige Sektoren trafen, wie Post, Eisenbahn oder Flugverkehr. Die Polizei besetzte zwar das Gebäude der Vermittlungsstelle, die die Telefonverbindungen mit dem Ausland sicherstellte, und übergab es der Armee, aber die Regierung hatte nicht genügend Kräfte, um alle Fernmeldezentren in den Provinzen einzunehmen. Der Staat musste auf das staatsbürgerliche Verantwortungsgefühl der streikenden Postler setzen und ansonsten auf den Beginn der Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden warten.
Am Abend des 24. Mai sprach de Gaulle. Die Krise war für ihn eine Strukturkrise, die Lösung sah er in einer »größeren Beteiligung jedes Einzelnen am weiteren Prozess und an den Ergebnissen der Aktivitäten, die ihn direkt betreffen.« Diese Auffassung hatte er in der Vergangenheit bereits mehrmals verkündet. Also nichts wirklich Neues von politischer Seite.
Und das Vorgehen entsprach ebenfalls der gaullistischen Tradition: Sofortige Volksabstimmung, also fast ein Blankoscheck für den Präsidenten der Republik. Es ging darum, die gesamte »politische Klasse« kurzzuschließen und das Land in die Enge zu treiben: Im Fall eines negativen Votums gäbe es ein Machtvakuum und das Risiko, »durch einen Bürgerkrieg in hassenswerte Abenteuer und kostspieligste Inbesitznahmen zu geraten.«
Bei der Demonstration am Gare de Lyon wurden Tausende von Taschentüchern herausgeholt; die Demonstranten signalisierten damit, dass de Gaulle abtreten sollte. Abends fand in Paris eine der gewalttätigsten Demonstrationen des gesamten Mai statt, ähnliches geschah auch in der Provinz. Lyon, Strasbourg, Nantes und Paris hatten ihre größte »Barrikadennacht«, und am nächsten Tag brannte auch Bordeaux. Es gab insgesamt einen Toten und 500 Verletzte im Krankenhaus, 144 davon waren schwer verletzt. Die Hauptparole bezog sich überall auf das Aufenthaltsverbot für Daniel Cohn-Bendit: »Wir sind alle deutsche Juden.«
Vom 22. bis zum 26. Mai gab es in ganz Frankreich mehr als 100 Studenten- und Arbeiterdemonstrationen. Diese Demonstrationen folgten keinem einheitlichen System, alles hing von der Situation vor Ort ab.
In einigen Städten konnten »einheitliche, große und friedliche« Märsche durchgeführt werden, denn das Klima war noch entspannt. In Caen z.B. machten die Studierenden einen Umzug zu den besetzten Fabriken, bevor sie sich der Versammlung aller Gewerkschaften vor der Präfektur anschlossen. In Marseille wollten die Studierenden mitten in der CGT-Demonstration laufen. Sie mussten dazu alle Spruchbänder einrollen, auf denen »Cohn-Bendit« stand, und der Ordnungsdienst der CGT hielt sie getrennt von den ArbeiterInnen. In Clermont-Ferrand platzte am 25. Mai die Gewerkschaftseinheit mitten in der Demonstration: die UNEF, die auf ihre Parolen verzichten sollte, verließ den Marsch und sonderte sich ab.
In anderen Fällen gab es keine Einheit. In Toulouse riefen die »Bewegung 25. April«20, die CFDT und die CNJA21 zu einer Demonstration am 24. auf; das Rathaus wurde von der Menge, die mit den streikenden städtischen Angestellten fraternisierte, friedlich besetzt. Am nächsten Tag machte die CGT alleine ihre eigene Demonstration.
Die CGT-Märsche in Paris brachten ungefähr 20 000 Menschen zusammen. Der erste, der vom Place Balard zum Gare d’Austerlitz gehen sollte, wurde zum Porte de Choisy umgeleitet, um jeden Zusammenschluss mit den Aufzügen der UNEF zu verhindern. Bei den jungen Arbeitern von Renault und Citroën war bereits ein gewisses Murren zu hören. Die Organisatoren konnten ihre vorgesehenen Parolen wie: »Weg mit den Verordnungen zur Sozialversicherung!« »Hebt unsere Löhne an!« nicht durchsetzen. Stattdessen wurde: »Die Macht liegt auf der Straße« und »Die Macht sind wir!« gerufen. Von einigen kurzen und wenig gewalttätigen Zwischenfällen abgesehen, verliefen alle gemeinsam organisierten Demonstrationen ruhig. Anders in einigen Universitätsstädten, wo die UNEF alleine auf der Straße war.
Am 22. Mai artete die Demonstration, die nach einem Marsch zur Nationalversammlung22 ins Quartier Latin zurückgekehrt war, in wiederholte Zusammenstöße mit der Polizei aus, die von Mitternacht bis vier Uhr morgens dauerten. Am nächsten Tag griffen 300 junge Leute die Polizei an, ohne dass irgendeine Organisation eine entsprechende Parole ausgegeben hätte. Sofort verließen die Studenten die Sorbonne. Sie waren gespalten: Einige schlossen sich den Demonstranten an, andere bildeten Ketten und versuchten, die Kämpfe zu beenden. Aber die Nachricht war im Radio hören, und innerhalb von weniger als einer Stunde liefen mehrere tausend Jugendliche im Quartier Latin zusammen. Sie prügelten sich neun Stunden lang ununterbrochen mit der Polizei, und es gab mehr als 150 Verletzte.
Die Ziele der Demonstranten wurden immer vielfältiger. Es ging nicht mehr nur darum, sich mit der Polizei zu prügeln, sondern es wurden auch die Schlupfwinkel des Gegners angegriffen: gaullistische Parteilokale, Polizeikommissariate, Präfekturen, Rathäuser und selbst die Börse; und in einigen Fällen kam es zu Plünderungen oder es wurden Brände gelegt. In Bordeaux wurde zweimal das Große Theater besetzt, draußen gingen Schaufenster zu Bruch. In Lyon wurde ein Kaufhaus am Place de Cordeliers teilweise geplündert.
Die Zusammenstöße waren heftig und dauerten lange: zehn Stunden in Paris, acht in Lyon, sieben in Nantes am 24., und acht Stunden in Bordeaux am 25. Mai. Das lag daran, dass die Polizei den Befehl hatte, direkte Konfrontationen zu vermeiden, um die eigenen Verluste gering zu halten. Waren die Demonstranten zahlreich genug, um ein oder mehrere Stadtviertel zu besetzen, verbarrikadierten sie sich dort solide, und dann war es eine langwierige Aufgabe, sie wieder aus ihren Positionen zu vertreiben. Die einzige Ausnahme war Strasbourg: dort waren es nicht genügend Demonstranten, und sie konnten den Angriffen der Polizei nur zwei Stunden lang widerstehen.
Die Gewalt erreichte überall einen Höhepunkt, der sich nur noch durch Schusswaffengebrauch steigern ließ. Was die Regierung vermeiden wollte, geschah doch: in der Nacht des 24. Mai gab es einen Toten, den Polizisten René Lacroix, Polizeikommisar. Sein Oberkörper wurde zerquetscht durch einen mit Steinen beladenen Lastwagen, den die Demonstranten in Lyon Richtung Lafayette-Brücke rasen ließen, um den Durchmarsch zu erzwingen.
In den heißen Städten wie Lyon, Bordeaux, Toulouse, Nantes und Paris gab es wieder täglich Demonstrationen. Die Ordnungskräfte würden diesen Rhythmus nicht lange durchhalten können, zumal es inzwischen nötig war, sie in ganz Frankreich zu verteilen, um den Bauern- und Arbeiterunruhen entgegentreten.
Aufruhr auf dem Land
Auch auf dem Land gab es 1968 Unruhen, das ist kaum bekannt geworden oder in Vergessenheit geraten. Abgesehen vom bereits erwähnten Kampf der LandarbeiterInnen war die gesamte bäuerliche Welt in Bewegung. Delale und Ragache zitieren einige Beispiele23:
»Die Demonstrationen haben übrigens gerade mit einer Straßensperre im Allier begonnen; sie breiten sich wie ein Ölfleck bis zum 24. aus, die härtesten Regionen werfen sich zuerst in die Aktion.
Die Proteste auf dem Land nehmen unterschiedliche Formen an. Wegen des Benzinmangels und der Kommunikationsprobleme sind weniger Menschen auf der Straße als erwartet. Trotzdem demonstrieren im ganzen Land mehr als 200 000 Bauern.
In einigen Fällen versammelt sich bloß der Regionalrat der FNSEA und verabschiedet eine Erklärung.In Chamalières bei Clermont-Ferrand veranstaltet der örtliche Vorsitzende der FNSEA lediglich ein Informationstreffen mit dem Präfekten. In Tulle versammelt die MODEF ihre Anhänger in einem geschlossenen Saal, konfisziert die roten Fahnen, schmeißt die Städter raus und weigert sich, bei der Arbeiterversammlung in der Stadt mitzumachen.
Während sich die Bauern in Argentan und Besançon mit einem kurzen, einsamen und stillen Umzug begnügen, schließen sie sich an anderen Orten, wie in Limoges, den Demonstrationen vom Gewerkschaftsbündnis an. In einigen Regionen greifen die Landwirte auch wie gewohnt zu gewaltsamen Aktionen: systematische Sperren auf den Nationalstraßen in den Departments Allier, Vaucluse, Landes. In der Gironde werden darüber hinaus nachts Dutzende Telegraphenmasten umgesägt… Es gibt auch überraschende Demos: 1000 Bauern aus Cahors und Caussac besetzen das kleine Dorf Cajarc, wo der Bürgermeister Georges Pompidou heißt. Und schließlich gibt es auch Angriffe auf Amtsgebäude: am 22. auf die Unterpräfektur von Guingamp (drei Ferkel werden ans Gitter gehängt) und am 24. auf die Präfektur von Rennes und von Agen, wo Bauern die Räume besetzen und Brände legen, bevor sie von der Polizei rausgeschmissen werden, die zuvor einige Barrikaden überwinden muss. In Puy verbarrikadieren sich die Demonstranten in den Messeständen, nachdem sie vom Platz der Präfektur vertrieben worden sind. Konzentrierte Tränengassalven führen zu einer Panik, ein zehnjähriges Kind wird schwer verletzt.
In Nantes machen sich die Bauerndemonstranten besonders bemerkbar: In vier Umzügen treffen sie sich am Rande der Stadt und »stürmen« sie am 24. morgens mit einem riesigen Transparent: »Nein zur kapitalistischen Ordnung, ja zur vollständigen Revolution der Gesellschaft!«, und taufen den Place Royale feierlich in »Platz des Volkes« um. Einige von ihnen schließen sich abends ohne zu zögern den Studenten und Arbeitern an, die die Präfektur angreifen und acht Stunden lang Dutzende von Barrikaden errichten.
Die Abkommen von Grenelle24
Am 25. Mai um 15 Uhr eröffnete Georges Pompidou die erste Sitzung mit den Unternehmern (repräsentiert durch die CNPF mit ihrem Präsident Huvelin) und den Gewerkschaften CGT, CFDT, FO, CFTC und CGC.
Die Gewerkschaften betonten, dass diese Gespräche sich nur auf die allgemeinen Forderungen bezögen und dass jegliche Vereinbarung durch Tarifverträge auf allen Ebenen vervollständigt werden müsste. Die CGT stellte als Vorbedingung, die Verordnungen zur Sozialversicherung von August 1967 aufzuheben. Die CFDT stellte als zweite Vorbedingung die sofortige Einbringung eines Gesetzes »zur Ausübung der freien gewerkschaftlichen Betätigung in den Betrieben«.
Die von den Gewerkschaften CGT-CFDT vorgeschlagene Agenda wurde zurückgewiesen.
Die Marathon-Sitzung erstreckte sich über zwei lange Tage, die Hauptanimateure stellte das Triumvirat Pompidou-Huvelin-Séguy.
Was wurde da ausgehandelt?
• Die Anhebung des Mindestlohns (SMIG) auf drei Francs pro Stunde ab dem 1. Juni (damit ist man immer noch weit weg von den geforderten 600 Francs pro Monat).
• Eine Lohnerhöhung in der Privatindustrie (sieben Prozent am 1. Juni und drei Prozent am 1. Oktober).
• Der Vorschlag der Unternehmer, die wöchentliche Arbeitszeit auf 44 Stunden zu senken.
• Die sofortige Herabsetzung der Selbstbeteiligung an medizinischen Behandlungen von 30 auf 25 Prozent.
• Eine Vereinbarung über die Bezahlung der Streiktage: den ArbeiterInnen sollte sofort das Angebot gemacht werden, dass die Hälfte der durch Streik ausgefallenen Stunden bezahlt werden.
Abgesehen von diesen finanziellen Maßnahmen erzielten die Gewerkschaften einen für sie wichtigen Erfolg: die Regierung verpflichtete sich, ein Gesetz über »die Ausübung der gewerkschaftlichen Rechte im Betrieb« zur Abstimmung zu bringen, dem der Text zugrunde lag, den eine Kommission aus FO und CFDT ausgearbeitet hatte. Die CGT interessierte sich für diesen Punkt fast überhaupt nicht, dafür aber für die Wiederherstellung des Inflationsausgleichs und die Abschaffung der Verordnungen zur Sozialversicherung.
Die CGT entschied, dass George Séguy die ersten Ergebnisse der Vereinbarung am 27. Mai 1968 um sieben Uhr morgens in der Streikversammlung bei Renault Billancourt präsentieren sollte. Überall in den Fabriken hörten die Streikenden im Radio die Einzelheiten des geschlossenen Abkommens. In zahlreichen Großbetrieben wie Renault-Flins, Renault-Sandouville, Berliet, Sud-Aviation, Rhodiaceta, Citroën usw. stimmten sie durch Handzeichen für die Fortsetzung der Bewegung: sie erwarteten, dass die Geschäftsleitungen erscheinen und über die Forderungen diskutiert, die die örtlichen Streikkomiteees ausgearbeitet hatten.
Aber die Aufmerksamkeit aller richtete sich auf die Radioübertragung, die die CGT im Herzen der Fabriken von Renault-Billancourt auf der Séguin-Insel organisiert hatte. Seit sieben Uhr morgens warteten dort 10 000 Arbeiter. Bevor die Journalisten da waren, spielte sich der wichtigste Teil ab: Aufgrund des Berichts des CGT-Vertreters, A. Halberer, der für das Gewerkschaftsbündnis in der Fabrik sprach, wurde die Fortsetzung des Streiks beschlossen.
Die nationalen Chefs der Gewerkschaften durften sprechen. Benoît Frachon (CGT), der bei der letzten Nachtsitzung in Grenelle nicht dabei war, sprach frei und spielte die Rolle des Verteidigers. Er erinnerte an 1936 und schrie: »Das Abkommen aus der Rue de Grenelle wird Millionen Arbeitern zu einem unerwarteten Wohlstand verhelfen«. André Jeanson von der CFDT freute sich über die Abstimmung zur Fortsetzung des Streiks und rief zur Solidarität der Arbeiter mit den kämpfenden Studenten und Schülern auf. Er bekam Beifall.
Dann trat Georges Séguy auf. Er gab »einen objektiven Rechenschaftsbericht über das, was in Grenelle erreicht worden ist«, ab. Am Anfang waren Pfiffe zu hören, am Ende kam es zu einem heftigen Tumult, der erst nach mehreren Minuten aufhörte. Séguy beendete seine Rede mit den Worten: »Wenn ich Euch richtig verstehe, dann wollt Ihr Euch nicht herumschubsen lassen!« Es gab Beifall und KP-Aktivisten skandierten: »Volksregierung!«, »Volksregierung!«
Was lässt sich aus den Ereignissen auf der Séguin-Insel schließen?
Die Linksradikalen, die sofort oder in den Jahren darauf aus den Ereignissen bei dieser Versammlung eine Radikalisierung der Basis gegen die CGT ableiteten, stellten damit mal wieder ihren Hang zur Vereinfachung unter Beweis. Halberer hatte vor der Rede von Séguy für die Fortsetzung des Streiks stimmen lassen, das war CGT. Aber Frachon war auch CGT, und er hatte die Ergebnisse als großen Sieg vorgestellt. Und Séguy, der die ziemlich schwachen Resultate zunächst auch als großen Fortschritt präsentierte, war allemal CGT.
Wenn man die Verschlagenheit der Kader des CGT-Apparats kennt, begreift man, dass sie sich auf alle Möglichkeiten vorbereitet hatten. Ging das wenige durch, was Séguy vorzuweisen hatte, gut so. Wenn nicht, dann hatte die CGT ja bereits für die Fortsetzung des Streiks abstimmen lassen. Kein Problem, der Apparat fällt immer wieder auf die Füße. Und so war es dann auch.
Aber wenn man die Hauptfiguren kennt, kann man auch sagen, dass sie hinter den Kulissen unterschiedliche Politiken verteidigten, die die Strömungen innerhalb der PCF repräsentierten.
Welche Version die richtige ist, wird man nie erfahren.
Als im Laufe des Tages über die Versammlung in Billancourt im Radio berichtet wurde, hatten auch einige stalinistische Aktivisten (wie bei Alsthom) geglaubt, dass Séguy in Billancourt vorgeführt worden war. Im übrigen geriet schnell in Vergessenheit, dass Krasucki, der dritte Mann in der CGT-Hierarchie, bei Citroën während der Vorstellung der Ergebnisse von Grenelle von den Streikenden ebenfalls ausgepfiffen wurde.
Als Ergebnis bleibt immerhin, als dass es nach zehn Tagen Streik keine Neigung zur Wiederaufnahme der Arbeit gab. Aber die Gewerkschaften konnten mit dieser Situation umgehen und warteten eine Woche, bis sie zur Wiederaufnahme der Arbeit aufriefen.
Charléty und danach
Die UNEF rief für den 27. Mai erneut zu Großdemonstrationen in ganz Frankreich auf und organisierte eine Versammlung im Stadion Charléty in Paris. Die CGT antwortete darauf mit der Ankündigung von zwölf Stadtteilversammlungen, »um die Arbeiterklasse und die Bevölkerung über die Ergebnisse der Verhandlungen von Grenelle zu unterrichten«. Sie versammelte dabei gerade mal 10 000 ihrer Anhänger, während in Charléty 30 000 Personen den Rednern der »anderen Linken« zuhörten.
Die Versammlung war freiwillig unter die Schirmherrschaft der Gewerkschaften gestellt worden, unter ihnen schlimmste Bürokraten, die einen Richtungswechsel anstrebten, wie M. Laby, Vorsitzender der Chemiegewerkschaft der FO. Neben der UNEF und der SNESup nahmen die Pariser CFDT, vier Verbände der FO, die FEN, die CAL25 und sogar die CGT vom ORTF daran teil. Einige Gruppen der radikalen Linken nahmen an der Versammlung nicht teil, da sie die Ziele zu ungenau fanden; die »Bewegung 22. März« organisierte gleichzeitig mit Hilfe der Aktionskomitees, die sie kontrollierte, kleine Stadtteilversammlungen.
Mendès France hingegen, ehemaliger Ratspräsident und Mitglied der PSU, war hinter den Kulissen anwesend, ebenso das nationale Studien- und Bildungszentrum26, das zur FGDS27 gehörte. Die Politiker ergriffen nicht das Wort. Es waren die Gewerkschafter, die sich am Rednerpult ablösten und ihre Meinung zur Revolution, zur CGT und zur »Doppelmacht« usw. darlegten, ohne sich auf mehr als ihre individuelle Verantwortung zu beziehen, geschweige denn konkrete Perspektiven zu eröffnen.
Die Versammlung von Charléty war letztlich nur ein Austausch, bei dem gute »revolutionäre« Absichten hochgehalten wurden, ohne eine einzige konkrete Entscheidung zu treffen, ohne einen wirklichen Versuch zur Wiederererlangung des Gesetz des Handelns zu unternehmen und ohne eine politische Alternative zur PCF auf den Weg zu bringen, die dabei war, innerhalb der Bewegung Boden zurückzugewinnen.
Die CGT übernahm wieder die Initiative und rief zu einer nationalen Demonstration am Mittwoch, 29. Mai auf, die sich vor dem Bahnhof St-Lazare auflösen sollte. De Gaulle fuhr nach Deutschland, um bei General Massu um Unterstützung suchen. Am 29. und 30. Mai kam es in der Provinz zu mehr als 60 Demos mit über einer halben Million TeilnehmerInnen, die in einem Klima der Einheit vonstatten gingen, da die CGT ihre Angriffe auf die UNEF lokal begrenzt hatte. In Paris nahmen viele StudentInnen und LehrerInnen an einem Umzug von ArbeiterInnen teil, der mit 350 000 Personen von der Bastille zum Bahnhof St-Lazare zog und insgesamt sehr ruhig blieb.
Diese Machtdemonstration der PCF, die für 36 Stunden bei Teilen der Regierung zu Angst und Panik vor einer Machtergreifung durch die PCF geführt hatte, mündete schließlich nur in eine Wiederaufnahme der Verhandlungen innerhalb der Linken zwischen FGDS und PCF.
Die gaullistische Gegenoffensive
Am 30. Mai mittags war de Gaulle zurück im Elysée Palast. Um 14.30 Uhr empfing er Pompidou und teilte ihm mit: »Wir bleiben. Es wird kein Referendum geben.« Der Premierminister verlangte, dass der Präsident die Abgeodnetenkammer auflöste.
Um 15 Uhr präsentierte de Gaulle im Ministerrat seine Entscheidung und verkündete: »Die Regierung wird nach den Wahlen zurücktreten.« Pompidou hatte gerade – trotz der Absprache mit dem Präsidenten am selben Morgen – das Datum seines Rücktritts bekannt gegeben. Die Ansprache wurde um 16.30 Uhr im Radio übertragen. Es war eine Kampfansage, wo die Philosophie der Partizipation keinen Platz mehr hatte. Es ging vor allem darum, die Gegenoffensive zu organisieren.
Die auf Betreiben der »Barone« des Gaullismus28 am Vortag geplante Demonstration versammelte sich eine Stunde später auf dem Place de la Concorde. Sie zählte 700 000 bis 800 000 TeilnehmerInnen und war das erste Zeichen dafür, dass sich der Wind zu drehen begann. Der psychologische Schachzug hatte funktioniert, und die Parteien der Linken verstanden ihn. Sie stellten sich innerhalb von wenigen Stunden auf die neue Situation ein und begannen alle, sich auf die Parlamentswahlen vorzubereiten.
30. Mai-7. Juni: Die Bewegung flaut ab
Die ersten Rückzieher
In den ersten fünf Junitagen kam es zu zahlreichen Interventionen der Polizei in allen größeren Städten Frankreichs. Die bevorzugten Ziele waren die Postgiroämter, die wichtigsten Dienstgebäude, die Treibstofflager, die Funkhäuser des ORTF usw..
Die Gewerkschaften sandten Zeichen der Mäßigung aus: weiterhin verhindern, dass die Gelben die Arbeit wieder aufnehmen, aber sich nicht gegen die Interventionen der Polizei zur Wehr setzen. Trotzdem kam es in Dijon, in Nancy, in Metz, in Nantes und in Rennes zu Zusammenstößen. In Rennes wurde die Hauptpost unter Tränengasbeschuss geräumt.
Die SNCF stellte ein besonderes Problem dar: Eine Wiederaufnahme der Arbeit auf lokaler Ebene kam nicht ernsthaft in Betracht, durch die Besetzung eines Bahnhof oder eines einzelnen Depots konnte die Polizei keinen besonderen Erfolg erringen. Dennoch setzte die Regierung darauf, dass sich die vermeintliche Demoralisierung der Streikenden wie ein Ölfleck ausbreitete. Am 3. Juni räumte die Polizei den Gare de Lyon in Paris und in Ostfrankreich die Bahnhöfe von Strasbourg, Colmar und Mulhouse. In Strasbourg setzten sich ein paar Vorortzüge in Bewegung, aber in Mulhouse legten sich die Streikenden auf die Gleise und besetzten erneut das Stellwerk; um drei Uhr morgens besetzten die Streikenden wieder friedlich die Bahnhöfe von Strasbourg und Mulhouse: Die demoralisierten Gelben hatten es vorgezogen, nach Hause zu gehen.
Bei der Post die gleiche Enttäuschung für die Staatsmacht: von ein paar Ausnahmen abgesehen reichte das nicht-streikende Personal nicht aus, um auch nur minimale Sicherheitsbedingungen einzuhalten; zudem musste dieses Personal jeden Morgen unter Polizeischutz und den Buh-Rufen der versammelten Streikenden die Arbeit antreten. Nach einigem Zögern gestand der Minister seine Niederlage ein und überließ den Streikposten gegen das Versprechen, eine »minimale öffentliche Versorgung« aufrechtzuerhalten, mitunter wieder die evakuierten Gebäude.
So mussten sie zwangsläufig den Ausgang der laufenden großen Verhandlungen abwarten, die in verschiedenen Ministerien stattfanden; gemäß den in der Rue de Grenelle vereinbarten Verfahren zogen sie sich endlos hin und führten meist in eine Sackgasse: Die Gewerkschaften forderten eine substanzielle Erhöhung des Finanzetats zur Umsetzung der neuen sozialen Maßnahmen; die Ministerien erklärten sich als dafür nicht zuständig.
Die Wiederaufnahme der Arbeit bei der Bahn
Bei der SNCF bot die Regierung 1200 Millionen Francs, die Gewerkschaften forderten 200 Millionen Francs zusätzlich; die Regierung war zu einem letzten Zugeständnis bereit, unter der Bedingung, dass die Gewerkschaften die Wiederaufnahme der Arbeit anordnen. Das wären also 1400 Millionen. Die Gewerkschaften ließen am 4. Juni in allen Depots und Bahnhöfen einzeln abstimmen. Außer in Elsass-Lothringen wurde das Verhandlungsergebnis mit deutlicher Mehrheit abgelehnt.
Im Laufe des 5. Juni gab es einen neuen Ministerbeschluss: Die gesamten Streikstunden sollten als »nachgearbeitet« betrachtet werden, da die Wiederherstellung des Netzes von den Eisenbahnern eine »außergewöhnliche Anstrengung« erforderte. Fast drei Wochen lang war kein einziger Zug gefahren, die Gleise mussten entrostet werden, um ein Funktionieren der Signalanlagen zu gewährleisten; alle Weichen mussten überprüft und die Waggons, die aufgrund des unvorhergesehenen Streikbeginns über ganz Frankreich verstreut waren, neu zusammengestellt werden…. Aber diese »letzte Rose«, die 1968 in ihrer Form einzigartig bleiben sollte, enthielt eine Erpressung: die Vereinbarung war daran gebunden, dass die Arbeit am nächsten Tag aufgenommen würde. Am Abend wurden weitere Beratungen organisiert, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führten: während im Osten die Züge bereits wieder fuhren, wurde im Norden und in Paris die allgemeine Wiederaufnahme der Arbeit beschlossen, im Süden und Westen hingegen für die Fortsetzung der Bewegung gestimmt.
Die Gewerkschaften veröffentlichten eine gemeinsame Stellungnahme, die es ihnen ermöglichte, der Erpressung des Ministeriums nachzugeben und trotzdem die Illusion von »gewerkschaftlicher Demokratie« und »Arbeitereinheit« aufrechtzuerhalten. Mit Hinweis auf die unterschiedlichen Abstimmungsergebnisse, die eine knappe Mehrheit für die Wiederaufnahme der Arbeit aufwiesen (während noch nicht alle Ergebnisse vorlagen), riefen sie überall zur Beendigung des Streiks auf. Und noch mehr: »Um der von zahlreichen Mitgliedern zum Ausdruck gebrachten Sorge um Koordinierung Rechnung zu tragen, fordern die Gewerkschaftsverbände die Eisenbahner der Zentren, die beschlossen haben, die Arbeit wieder aufzunehmen, dazu auf, mit der Organisierung der einheitlichen Arbeitsaufnahme in den nächsten Stunden zu beginnen.«
Am Morgen des 6. Juni betrachteten es die Gewerkschaftsdelegierten als ihre Aufgabe, den Streik um jeden Preis zu beenden. Fast schon verbissen wurde zu einer neuen Abstimmung geschritten und wo diese, trotz allen Drucks, wieder negativ ausfiel (dies war in Nantes und im Bahnhof in Montpellier der Fall), entschieden die örtlichen Gewerkschaften trotzdem, im Namen der »Arbeiterdisziplin« und »um uns nicht gegen den Rest Frankreichs aufzulehnen«, die Arbeit wieder aufzunehmen.
Diese Technik der erzwungenen Wiederaufnahme der Arbeit wurde auch in anderen Branchen angewandt und führte dazu, dass sich die engagiertesten Streikenden angewidert abwandten. An einigen Orten zerrissen sie öffentlich ihre Mietgliedsausweise. Doch diese symptomatische Reaktion zeigte oft nur, dass es die Streikenden nicht schafften, ihren Kampf selbst in die Hand zu nehmen, und sie isoliert blieben.
Die Arbeitsaufnahme bei der RATP
Bei der RATP gestaltete sich die Wiederaufnahme schwieriger. Nachdem die Beschäftigten am 3. Juni dagegen gestimmt hatten, setzten die Verkehrsbetriebe neue Beratungen an und machten weitere Zugeständnisse: mehr Lohnerhöhungen und ein Tag mehr Jahresurlaub. Am 5. Juni wurde in den Depots erneut abgestimmt.
Die CGT und die autonomen Gewerkschaften erklärten sich ohne Umschweife für die Wiederaufnahme der Arbeit. Der Vorstand der CGT warf sogar die Frage auf, »ob nicht überall dort, wo die grundlegenden Forderungen erfüllt wurden, es das Interesse der Lohnabhängigen ist, sich massenhaft für die einheitliche Wiederaufnahme der Arbeit auszusprechen?« Eine Minderheit der Beschäftigten sprach sich dennoch für die entschlossene Fortsetzung der Bewegung aus. Am Morgen des 6. Juni waren immer noch fünf U-Bahnlinien, die Station Nation und drei Busdepots (darunter das Depot Lebrun im 13. Arrondissement) lahm gelegt.
Seit dem Vorabend hatten heftige Auseinandersetzungen die Gewerkschaftsverantwortlichen in Opposition zu einem Teil ihrer eigenen Aktivisten gebracht, die von zahlreichen Unorganisierten und den GenossInnen des CATE Censier unterstützt wurden.
Um den Widerspenstigen entgegenzutreten, verbreitete vor allem die CGT systematisch Falschinformationen über die Arbeitsaufnahme in den anderen Depots; sie wollte sie glauben machen, dieses oder jenes Depot wäre das einzige, das weitermachen wollte.29 Man konnte Fahrer weinend in ihre Fahrzeuge steigen sehen. Die letzten nahmen die Arbeit am 11. Juni auf. Aber dies belegt, dass die Querverbindungen zwischen den Depots schwach entwickelt waren und dass die CGT die zentrale Kontrolle innehatte.
Als bei der RATP und der SNCF wieder gearbeitet wurde, normalisierte sich das Leben in der Pariser Region wieder.
Die Arbeitsaufnahme in anderen Branchen
Bei der Post, in den Kohlebergwerken, in den Stahlwerken im Osten und in der Erdölindustrie dauerte es fast eine Woche, einen Vertrag auszuhandeln, und noch länger, die ArbeiterInnen zu überzeugen, diesen Vertrag anzunehmen; aber seit dem 6. Juni wurde die Rückkehr an die Arbeit von den Lohnabhängigen akzeptiert, auch wenn sporadisch noch etliche Tage weiter gestreikt wurde, bis die Direktion Gelbe und Zeitarbeiter einstellte, um diese letzten Streiks zu brechen. Am Freitagabend, dem 7. Juni, war Frankreich nicht mehr lahm gelegt, aber die Situation hatte sich noch lange nicht wieder normalisiert.
Denn die letzten noch im Streik befindlichen Berufsgruppen erwiesen sich als sehr hartnäckig. Bei den Pariser GrundschullehrerInnen riefen die weiterhin Protestwilligen für Montagabend, 10. Juni zu einer Versammlung im Gewerkschaftshaus auf. Dort verweigerte man ihnen die Räumlichkeiten. Aber zur besagten Uhrzeit forderten 3000 wütende GrundschullehrerInnen Gehör. In den Grundschulen kehrte man erst am 14. Juni zur Normalität zurück. In zahlreichen anderen Branchen wie den Metall-, Elektronik- oder Gummibetrieben blieb der Konflikt stecken: Getragen von der gaullistischen Welle wiesen die Unternehmerverbände jeglichen Gedanken an einen nationalen Tarifvertag zurück und verkündeten bestenfalls, sich streng an die Umsetzung der Verträge von Grenelle halten zu wollen.
In der öffentlichen Meinung hatte das Regime jedoch einen psychologischen Sieg errungen: an den Tankstellen gab es wieder Benzin.
Erfahrungsberichte
Aktionskomitee Montreuil (CA Montreuil)
Wie das Aktionskomitee von Montreuil entstand
Ich hatte eben die JCR verlassen. Seit eineinhalb Jahren war ich bei AFTAM (Vereinigung zur Betreuung und Ausbildung afrikanischer und madagassischer Arbeiter) als Verantwortlicher eines Wohnheims für Arbeitsmigranten (aus Mali und Senegal, sie kamen aus der Region Kayes in West-Mali) beschäftigt. Ich hatte mit einer Psychologie-Kollegin, die in der Zentrale von AFTAM war (sie arbeitete in der Alphabetisierung), eine Sektion der CGT gegründet.
Die Versammlungen der Aktivisten des zukünftigen Aktionskomitees (Comité d’Action, CA) von Montreuil fanden oft in diesem Wohnheim statt, genauso wie die Herstellung von Siebdruck-Plakaten mit Aussagen wie: »Die Bourgeoisie hat Angst«.
Am 3. Mai hörte ich, dass am Nachmittag im Quartier Latin eine gewalttätige Studentendemonstration stattgefunden hatte. Ich rannte zum Boulevard Saint-Germain in der Höhe des Place Maubert und sah eine schwarzverbrannte Fassade und überall Abfälle. Die Demonstration richtete sich gegen den drohenden Universitätsausschluss von Studenten, die die Cité U von Nanterre besetzt hatten. Die ursprüngliche Forderung war das gegenseitige Besuchsrecht in den Studentinnen- und Studenten-Wohnheimen. Zwei oder drei Tage später ging ich wieder hin, um an einer weiteren Demonstration teilzunehmen. Ich hatte noch nie so viele Leute gesehen, die entschlossen und bereit waren, die Bullen anzugreifen. Diese wichen oft auf den Boulevard Saint-Germain aus, der von den CRS-Einheiten und zwei Wasserwerfern abgesperrt war. Wir haben sie angegriffen und einen der Wasserwerfer im Sturm genommen. Später wurden die Bullen mit allen möglichen Wurfgeschossen angegriffen. Mit Pflastersteinen, aber auch mit Brandbeschleunigern und ohrenbetäubenden Knallkörpern, die auf sie geschleudert wurden (einige haben sich dabei schwer die Hände verletzt).
Wir erlebten das als ein Super-Fest. Nach so vielen Jahren, in denen man sich dem gaullistischen Staat und den Bullen gebeugt hatte: zuerst der gaullistische Staatsstreich von 1958 selbst, dann die Unterdrückung der Revolte der Algerier und der Demonstrationen gegen den Algerienkrieg. Die einzige siegreiche Bewegung war ein Streik der Arbeiter im Kohlenbergbau, die 1963 die Dienstverpflichtung verweigerten, das war das erste Mal, dass etwas als Sieg verbucht wurde!30 Und schließlich die Solidaritätsbewegung mit Vietnam, welche uns die zukünftigen Linken als Solidarität und Antiimperialismus, aber auch als Vorbereitung der Revolution verkauften.
In diesen ersten Maitagen bis zum 10. Mai gab es fast täglich Demonstrationen. Wir hatten trotz der zahlreichen Verletzten das Gefühl, die Straße in der Hand zu haben, uns Respekt verschafft zu haben und letztlich etwas zu erreichen, etwas, das wir auf der Straße während und nach den Demonstrationen begonnen zu diskutieren hatten. Sozialismus schien möglich. Für mich und viele andere. Zehn Jahre Dampfdrucktopf explodierten endlich, und zwar außerhalb der Kontrolle von Stalinisten, anderen Reformisten und anderen Berufs-Organisierern.
Am Ende einer der ersten reichlich stürmischen Demos in Richtung Montparnasse schaffte ich es, den Bullen zu entkommen, zusammen mit zwei jungen Tischlern, deren Bekanntschaft ich im Wagen machte (Roland und Michel); sie wohnten in Rosny-sous-Bois am Rand von Montreuil. Wir beschlossen, uns am nächsten Tag wieder zu treffen, um politisch zu diskutieren und gemeinsam zu den Demonstrationen zu gehen. Zum ersten Treffen kamen sie mit zwei anderen Kollegen, einem Klempner und einem weiteren Tischler (der kleine Schweizer und Yoyo).
Nach der Wiederbesetzung der Sorbonne durch die Studenten riefen einige zukünftige Linksradikale und die UNEF (einige von denen, die später die Libération machten) dazu auf, Aktionskomitees zu gründen. Ich trug meinen Namen und meine Adresse in eine der Listen im Hof der Sorbonne ein, und Mädchen und Typen trafen sich von da an mit mir im Wohnheim. In Montreuil gab es am Anfang zwei Aktionskomitees, die sich bald zusammenschlossen. Eins von beiden war von Aktivisten der JCR gegründet worden. Das Komitee, bei dem ich mitmachte, bestand aus 20 bis 30 Personen. Die Aktiven an der Basis verstanden nicht, warum es zwei Aktionskomitees gab, und so haben sich nach einigen Tagen beide zusammengeschlossen. Ende Mai oder im Juni waren wir auf einigen Treffen um die 100 Personen.
Was taten Mitglieder des Aktionskomitees?
Wir waren in Montreuil aktiv und einige Mitglieder des Komitees von Montreuil kamen von Rosny, aber wir hatten keinen Kontakt zu Leuten anderswo gesucht, was mir heute unglaublich erscheint. Wir waren so naiv zu glauben, die Schwächen der Bewegung: fehlende Verbindung zu den Arbeitern in den Fabriken (davon gab es damals viele in Montreuil), fehlende politische Vertiefung und Fehlen einer wenn schon nicht militärischen Organisation, dann doch wenigstens eines Ordnungsdienstes, würden sich im Verlauf der Bewegungvon alleine regeln, von der wir dachten, sie würde Monate, sogar Jahre dauern.
Ich hörte viel Radio. Aus jeder Nachrichtensendung bekamen wir mit, dass nach der großen Demonstration am 13. Mai weitere Betriebe zu streiken begannen, und das machte uns Mut.
Ich ahnte schon, dass das kein Vergnügen würde. Eines Abends nahm ich den Wagen, ich hatte Lust, mal die Fabriken zwischen Pantin und den nordöstlichen Vorstädten (an der Nationalstraße 3) zu besuchen. Ich fuhr an den Toren von fünf oder sechs Fabriken vor und war jedes Mal voller Enthusiasmus. Ich traf auf CGT-Delegierte, möglicherweise PCF-Mitglieder. Es war unmöglich, in die Fabriken zu kommen und mit den Streikenden zu diskutieren. Ich bemerkte, dass die Fabriken nicht besetzt waren und dass die Stimmung nicht großartig war: das war nicht 1936. Ich hoffte, dass die Demos es schaffen würden, diese Barriere zu sprengen.
Persönlich und auch als Vertreter des Komitees nahm ich an Versammlungen der Pariser Aktionskomitees teil, und das hat mich schnell ermüdet, ich ging so selten wie möglich dahin. Mindestens für die Zeitungen und Flugblätter musste man dorthin. Ich ging nicht mehr zu den regelmäßigen Treffen der Koordination der Aktionskomitees, und es war auch niemand anderes dort, um uns zu vertreten. Tatsächlich wollte niemand wirklich Politik machen und sich mit den Gegnern aus der Linken auseinandersetzen.
Dem Aktionskomitee gehörten auch Arbeiter an, aber das waren immer isolierte Leute, die keine Gruppe aus ihrem Betrieb vertraten, oder die Betriebe waren ganz klein usw. Es waren eher Genossen mit anarchistischer Einstellung, einer von ihnen (Roland) hatte Kontakt zur Anarchistischen Föderation. Dann gehörte Princet dazu, noch ein Anarchist, der Pflasterer war für uns 20–25 Jahre junge Leute schon ganz schön alt (Der Standardausspruch unseres Alten wurde bald: »Das ist der Rückfluss.«), außerdem eine Sekretärin der studentischen Krankenversicherung, Michelle, eine Pädagogin von Leo Lagrange [Volksbildungsorganisation] und ein Techniker von Roussel-Uclaf in Romainville, der während des Krieges in Corrèze im Widerstand gewesen war; es gab auch einige LehrerInnen und StudentInnen.
Wir versuchten vor allem, Kontakte in die Betriebe in Montreuil und der Umgebung zu bekommen. Es gab da eine Bude, die Fernsehgeräte herstellte, Grandin, ein ziemlich bedeutender Laden. Man konnte leicht mit den Arbeitern vor dem Tor diskutieren, aber es war nicht zu schaffen, hineinzukommen, um an ihren Versammlungen teilzunehmen. Das Aktionskomitee hätte gerne gemeinsame Aktionen mit den Beschäftigten von Grandin gemacht, aber die CGT und die Maoisten versuchten, diese Kontakte zu verhindern. Wir dachten, es wäre negativ, wenn es verbale Zusammenstöße (oder schlimmere) vor dem Fabriktor gäbe. Wir waren natürlich nicht hartnäckig genug, und es interessierte uns nicht, uns wie Filzläuse einzunisten.
Zu keinem Zeitpunkt hatten wir fortlaufende und politische Kontakte zu Arbeitern der großen Betriebe unabhängig von den Gewerkschaften.
In Montreuil und anderswo war es tatsächlich so, dass, wenn die Arbeiter nicht selbst versuchten sich zu organisieren, die Aktivität von externen Aktiven (mit Flugblättern, Plakaten oder Versammlungen) nichts ausrichten konnte, solange die Proletarier Vertrauen in Gewerkschaften und in die Parteien der Linken hatten.
Unsere Verbindungen zur Bevölkerung waren ziemlich oberflächlich. Wir diskutierten viel mit den Leuten, die zu dieser Zeit diskutieren wollten. Für einige große Demonstrationen konnten wir 2, 3 oder auch 400 Leute zusammenbringen.
Ehrlich, ich war zufrieden, Leute zusammenzubringen, aber sie waren ein wenig zu ruhig, und wenn wir in die Nähe von Bullen kamen, bin ich lieber das Tränengas und das Benzin der Cocktails schnuppern gegangen, als in ihrer Gesellschaft zu bleiben.
Die Demonstrationen
Am 3. Mai wollten die Repressionskräfte die Sorbonne von einigen hundert Gewerkschaftsaktivisten und Linksradikalen säubern, die sich ohne Gegenwehr verfrachten ließen. Aber rund um die Sorbonne trafen sie auf ungewohnten Widerstand: sechs Stunden lang Steinhagel, einige direkte Auseinandersetzungen, einige Mollies, überall im Quartier Latin und in St-Germain. Das war der Auftakt zu wochenlangen Konfrontationen.
Dieser erste Tag sah schon so aus wie die folgenden: junge Leute, die sich mehr oder weniger in den selbsternannten Führern und den gewerkschaftlichen Organisationen wiedererkannten: UNEF (Nationale Studentenunion Frankreichs), CAL (Aktionskomitee der Gymnasiasten), SNESup (Nationale Gewerkschaft des höheren Schulwesens). Die politischen linksradikalen Gruppen (Trotzkisten, Anarchisten, Maoisten…) hatten wenig Einfluss in den sieben Wochen Krawall, die die Monate Mai und Juni bewegten. Die aufständische Jugend benutzte das, was die Aktivisten ihr vorschlugen und schuf sich keine eigene politische Linie oder ihre eigene Organisation, Zeitung (Action zum Beispiel), Struktur (zum Beispiel Aktionskomitee), sondern sie setzten diese Mittel so ein, dass eine wirkliche Diskussion über die politische Linie verhindert wurde. Die Diskussionen und Kontrontationen drehten sich unter anderem um die Probleme der Repression und die Selbstverteidigung der Bewegung. Eine Mehrheit suchte den Zusammenhalt auf Kosten der Klarheit. Jedes Komitee, jede Gruppe von jungen Proletariern, und oft jedes Mitglied eines Komitees machte, was es wollte.
Zu den fast täglichen Demonstrationen ging jede Stadtteilgruppe, jede kleine Gruppe von Jugendlichen mehr oder weniger auf eigene Faust, ein Wunder an gegenseitigem Vertrauen und der politischen Stimmung des Augenblick unter den Demonstranten. Seit den ersten Zusammenstößen gingen die Entschlossensten und Erfahrensten in die ersten Reihen, dahinter riss man das Pflaster auf oder fabrizierte Wurfgeschosse (einige kamen schon mit Wurfgeschossen und Mollies), und auf die Angriffe der Polizei flogen Pflastersteine, Autos wurden umgedreht und als Barrikaden benutzt. Es gab zahlreiche Verletzte, viele wurden schwer verletzt, wenn Panik ausbrach und die Demonstranten ungeordnet wegrannten und die Bullen von hinten auf Rücken und Schädel einprügelten oder wenn die Demonstranten am Boden lagen oder wenn Demonstranten einzeln abgedrängt wurden. Aber wenn es gut lief, konnten wir die Bullerei wieder zum Rückzug bringen und dann mussten sie ihre Verletzten einsammeln.
Welche Organisation gab es, welche fehlte?
Zwei-, drei- oder viermal pro Woche gab es eine neue Action. Wir verkauften fast jeden Tag die Zeitung der Aktionskomitees. Wir holten einen Stapel von 100 Exemplaren irgendwo im Quartier Latin und verkauften sie gewöhnlich sofort vor dem Rathaus von Montreuil. Die Stalinisten sind niemals gekommen, um uns zu nerven. Am 13. Mai habe ich allein bei der Demo, die den ganzen Tag dauerte, sieben Stapel zu 100 Zeitungen verkauft, 700 Exemplare der Action an einem Tag. Ich habe ein paar Nummern der Action aufbewahrt, und wenn ich sie heute lesen, kommt mir der Inhalt sehr reformistisch vor. Manche Seiten handeln von der marxistischen Theorie oder so, am Anfang geht es in der ganzen Zeitschrift nur um Repression: eine komische Mischung. Das war weder eine gute Propaganda-, noch eine gute Zeitschrift, die die Ereignisse reflektierte, aber damals sahen wir das nicht. Wir schrieben keine Artikel für die Action, niemand fragte uns danach, und wir versuchten nicht, uns an der Redaktion zu beteiligen. Die Zeitschrift war vor allem für die Diskussion mit den Passanten da und das funktionierte sehr gut. Wir suchten künstlerisch gestaltete Plakate und wir stellten Siebdruck-Plakate mit unseren eigenen Texten her. Sie waren wie ein Flugblatt gemacht, ich erinnere mich an die Überschriften: »Die Bourgeoisie hat Angst.« und das zweite »Die Bourgeoisie hat immer noch Angst.« Das war kurz vor den Ferien, Ende Juli.
An manchen Vormittagen verteilten wir die Flugblätter der Aktionskomitees, an anderen Vormittagen oder nachts klebten wir Plakate; wir hatten nie Scherereien, außer Ende Juni mit einer Gruppe von Gaullisten während der Wahlen.
Es gab keinen Chef, aber manche machten mehr als andere. Anscheinend war ich zusammen mit einer Genossin Sylvia, Roland, dem Techniker von Roussel, einer Genossin, die Pädagogin war, usw. für Versammlung und Koordination zuständig. Wir trafen uns informell oder organisiert ein- oder zweimal pro Tag, wenn die Aktion es erforderte, auch häufiger. Wir waren ziemliche Aktivisten, unser Gefühl war: jetzt oder nie.
Wir wuchsen von 30 Mitgliedern auf 100 bei einigen Vollversammlungen, die wir in einem protestantischen Gemeindesaal abhielten. Zehn oder 15 machten fast jeden Tag Aktionen, andere kamen nur zu den Demos, sie suchten es sich ziemlich aus. Die fast täglichen Treffen fanden in Wohnungen oder in Bistros statt. Wir diskutierten über die aktuelle politische Situation und beschlossen, ob wir bei den gemeinsamen Aktionen der Aktionskomitees mitmachen. Es gab keine Vorsitzenden, keine Kassierer und keinen besonderen Ausschuss. Die Beschlüsse wurden mit Mehrheit gefasst, wir suchten aber oft Einstimmigkeit. Die Diskussionen gingen oft um praktische Aufgaben, und es gab nicht viele Divergenzen, außer wenn organisierte Aktivisten wie Maoisten oder Trotzkisten ihre Soße verkaufen wollten. Die Maoisten kamen nur zum Rekrutieren (übrigens ohne Erfolg), die Trotzkisten waren etwas feiner, mindestens zwei machten mit und am Ende bekamen sie wenigstens eine Genossin und eine Betriebszeitung.
Wir unterstützten auch die Streikposten der Beschäftigte des Kaufhauses Printemps zwischen Nation und Vincennes.
Ende Juni bekamen wir Kontakt zu Krema Hollywood. Die Mutter einer Genossin aus dem Komitee arbeitete dort. Mit ihr und ein oder zwei anderen Arbeiterinnen machten wir ein Blatt für die ArbeiterInnen von Krema. Wir kritisierten die Lohnpolitik der Firma, die Arbeitsbedingungen und die Arbeitssicherheit. Ein Problem war die Gesundheit, besonders die Frauen mussten jeden Morgen die Maschinen mit übel riechenden und gefährlichen Mitteln reinigen. Manchmal fielen sie hinein. Wir schrieben die Beiträge und ließen uns dabei von dem inspirieren, was die Arbeiterinnen erzählten, sie schrieben nicht selbst. Wir verteilten es am Tor, und sie verteilten es heimlich drinnen. Das ging ungefähr sechs Monate, dann trat Lutte Ouvrière die Nachfolge des Aktionskomitees an, das nicht mehr existierte und die Genossin, die die Kontakte zu Krema hatte, ging zu LO.
Während dieser zwei oder drei Monate hatten wir den Eindruck, dass die PCF und das CA die einzigen politischen Kräfte in Montreuil waren, wir machten uns da ein bisschen was vor. Wir hatten keinen Kontakt zur PCF und haben auch nicht versucht, einen zu haben und noch weniger, gemeinsame Aktionen vorzuschlagen. An dem Tag von de Gaulles Rede, in der er sein Referendum ankündigte, rief die PCF zu einer lokalen Demo auf, um die Leute daran zu hindern, zur Bastille zu gehen. Zufällig kreuzten sich die beiden Demos, die von der PCF und die vom Aktionskomitee, die nach Paris ging. Sie waren ungefähr gleich groß, es gab keinen Zusammenstoß und auch keine hämischen Bemerkungen, aber jeder ist auf seinem Kurs geblieben. Wir fanden, dass die Anhänger der PCF sich zu sehr damit beschäftigten, Leute an Bord zu holen, aber in unserem Optimismus hofften wir, dass die Aktivisten der PCF und der CGT ihre Scheuklappen verlieren würden, was Proletarier wie Studenten schon machten.
Zu den Parlamentswahlen Ende Juni führten wir eine mäßig aktive Kampagne für Stimmenthaltung; »Wahlen, Falle für Doofe« war unsere Schlagzeile. Am Wahltag gingen wir mit einigen Genossen aus dem Aktionskomitee aufs Land zum Angeln und bei der Rückkehr verspotteten wir mit unseren Angelruten die Leute von der PCF in den Wahllokalen; sie waren verärgert und ließen nicht mehr von unseren Angelruten ab, aber die Prols von Montreuil und Rosny hatten gewählt und sie hatten gut gewählt!
Am 17. Mai abends riefen die Aktionskomitees dazu auf, zu Renault auf die Île Seguin zu gehen. Wir haben uns Mühe gegeben, versucht mit den Arbeitern zu diskutieren, aber die Tore blieben verschlossen und der Kontakt kam nicht zustande.
Dasselbe Spiel Anfang Juni in Flins: dieses Mal erwarteten uns die Bullen, und der Besuch wurde für uns zu einem Lauf über die Felder…
Anfang Juli wurde ich von den Bullen vorgeladen. Ich hatte »Nach Februar, Oktober!« an die Hauswand eines Typen gepinselt, der das nicht zu würdigen wusste. Er hatte mein Nummernschild gesehen, als ich das alleine bei Tag und mit dem Wagen machte. Anfang Juli dachte man noch, dass sich die Bewegung nur vorübergehend beruhigt hätte und im Herbst wieder losgehen würde.
Was in Montreuil passierte, passierte auch anderswo. Am 10. Mai, in der Barrikadennacht, war der Boulevard Saint Michel vollgestopft mit Leuten, und ich hatte Gelegenheit, mit zahlreichen jungen Arbeitern zu diskutieren. Ich hatte in meinem Kopf keine Strategie, ich war froh. Wir ließen zehn Jahre Gaullismus hinter uns, in denen wir von allen Seiten eingesperrt waren, die PCF blockierte von der Seite der Arbeiterklasse. In diesen Tagen des Mai und Juni sahen wir doch, dass sich ein Fenster in die Zukunft öffnet!
Wir wussten nicht, dass die PCF noch stark genug war, dieses Fenster wieder zuzustoßen, selbst wenn sie dafür zu Grunde gehen müsste und niemals wieder als revolutionäre Partei durchgehen würde, und dass die modernistische Bourgeoisie genügend Tricks im Sack hatte, um dieses Fenster mit Hilfe der »Ex-68er« Stars wieder zu verriegeln.
Im September 68 nahm ich an einer Demo gegen das Massaker auf dem Platz der drei Kulturen anlässlich der olympischen Spiele in Mexiko teil. Während man noch einige Wochen vorher bereit war, Bullen »zu fressen«, ließ man sich jetzt zu mehreren hundert ohne irgendeine Reaktion einlochen. Ein Genosse kam mit Hackenstielen in seinem Auto an. Niemand wollte welche nehmen und kämpfen. Die Hackenstiele endeten in der Gosse. Die Stimmung des Mai 68 war verschwunden.
Ein bisschen angeekelt bin ich im Dezember 1968 nach Madagaskar abgereist, um als Pädagoge im Kulturaustausch zu arbeiten (aus dem Aktionskomitee von Montreuil waren wir vier), und wir sind erst im Januar 1971 zurückgekehrt, mit der Absicht Lutte Ouvrière behilflich zu sein, es gab ja nichts Besseres.
Alsthom Saint-Ouen
Die Fabrik
Im Gefolge der Umstrukturierungen (schon damals!) des Elektrobaus, gab es zwei unterschiedliche Unternehmen auf dem Fabrikgelände:
• Delle Alsthom, die Leistungsschalter für mittlere Spannung montierte, im wesentlichen für Elektrizitätswerke und Großbetriebe. 500 Beschäftigte, davon etwa 300 mehrheitlich gering qualifizierte Arbeiter und 200 Techniker, Zeichner, Vorgesetzte usw. Eine Werkshalle und mehrere Büros.
• Alsthom Savoisienne, die komplette Großtransformatoren für Elektrizitätswerke herstellte. 1300 Beschäftigte, etwa 1000 ArbeiterInnen und 300 Techniker, Chefs usw. Außer den Büros drei Werkshallen:
– die große Kesselschmiede, wo das Transformatorgehäuse hergestellt wurde und wo qualifizierte Arbeiter, die Kupferschmiede, arbeiteten;
– die Spulenabteilung, wo wie der Name sagt, die Trafospulen hergestellt wurden, eine Werkstatt, in der sehr spezielle, qualifizierte Arbeiter beschäftigt waren;
– die Montagebühne, wo die Spule in das Gehäuse eingebaut wurde. Hier wurde es ausgerüstet, ausprobiert und verschickt. Es war eine Werkstatt, wo besonders qualifizierte Arbeiter beschäftigt waren.
Alsthom war – zusammen mit Rateau, Babcock usw. – eine der für die Arbeiterkämpfe in Seine St-Denis wichtigen Fabriken, eine auf die man schaute, wenn sich in der Arbeiterklasse etwas bewegte.
Vor dem Streik
Das Radio und die Presse veröffentlichten bereits seit mehreren Wochen Informationen über das Studentenmilieu und insbesondere über Nanterre. Man wusste nicht allzu genau, warum die Studenten Krawall machten, aber in der Fabrik sympathisierten einige der jungen Kollegen damit und hatten sich gemerkt, dass eine der Forderungen die Aufhebung des Verbots war, dass die Jungs in die für die Mädchen reservierten Räume gehen dürfen (oder so ähnlich). Dann gab es die vom Wochenmagazin der äußersten Rechten, Minute, lancierte Pressekampagne gegen Cohn-Bendit, die vom »Juden Cohn-Bendit« sprach; die Humanité sprach vom »deutschen Anarchisten«. Dieser Rotschopf war auf Anhieb zum Kumpel eines Gutteils der jungen Arbeiter geworden. Er war witzig, und das liebte man; er pfiff gerne auf die Moral und verspottete seine Widersacher; das gefiel uns gut. Eines Morgens Anfang Mai befand ich mich zufällig am Rand einer Demo von Gymnasiasten neben der Place de Clichy. Einige tausend Junge und sehr Junge von den Gymnasien der Umgebung schrien: »Wir sind alle deutsche Juden«. Ich erinnere mich genau.31
Meine Familie oder das Arbeitermilieu im allgemeinen war nicht ausgesprochen antisemitisch, aber über die Juden dachte man trotz allem das Übliche. Und was die Deutschen betrifft, so waren sie irgendwo in den Köpfen doch ein wenig die Erbfeinde. Die diesbezügliche Propaganda der PCF von den »Revanchisten aus Bonn« und »Tod den Boches« vom Ende des 39-45er Kriegs war noch nicht weit weg: 20-22 Jahre, die Generation des »jedem sein Boche«, wie es die PCF bei der Befreiung gepredigt hatte, war noch da und sehr gegenwärtig; und die PCF hatte einen mehrheitlichen Einfluss in der Arbeiterklasse (darauf komme ich noch zurück).
Und angesichts der Tausenden und Abertausenden von Gymnasiasten, die aus Solidarität mit dem Rotschopf skandierten, dass sie alle deutsche Juden seien, und der roten und schwarzen Fahnen war der internationalistische Antirassist, der ich im Herzen war, sprachlos, das war unglaublich!
Seitdem ich denken konnte, hatte die PCF immer nur den dreifarbigen Lappen rausgeholt (so nannten die Genossen die Trikolore damals), nun aber kehrte das Rot massenhaft zurück, und das Schwarz der Anarchisten war auch da. Als ich wieder in der Fabrik war, hab ich den Kumpels in der Werkshalle erzählt, was ich gesehen hatte, so sehr war ich verblüfft.
Aber insgesamt waren die Geschichten der Studenten bei den Arbeitern in der Fabrik eher schlecht angesehen. Die PCF knüppelte auf die Söhne der Bourgeoisie ein, denen man das Studium bezahle usw., auf diese Linksradikalen, denen die Arbeiterklasse am Arsch vorbeigehe; und das zog; nur bei einem Teil der jungen Arbeiter nicht und natürlich bei unserer kleinen Truppe, die einige Monate zuvor aus der Gewerkschaft geworfen worden war und die sehr schnell gelernt hatte, die Stalinisten zu hassen. Aber wir hatten noch keinerlei Kontakt zu den Studenten und Gymnasiasten; es war uns nicht einmal in den Sinn gekommen, eine solche Verbindung herzustellen; so war das, und von Tag zu Tag wurden die Demos der Studenten immer mehr zum ersten Thema der Nachrichten, und die Propaganda der PCF gegen die Demonstranten wurde immer schmutziger gegen diese vom »Deutschen Cohn-Bendit« angeführten »Autozündler«.32
Die übergroße Mehrheit der Arbeiter war den Studenten gegenüber misstrauisch oder sogar feindselig; aber unter den Jüngeren konnte der eine oder andere gut wiedergeben, was sie wollten; wir erkannten uns mehr und mehr in den Studenten wieder, die Krawall machten, als in denen, die Galle über sie ausschütteten. Und genau in der Woche vom 6. zum 10. Mai machten wir jeden Abend Krawall in Paris. Die Truppe von Genossen, die wir waren, ist komplett auf die Seite der Studenten übergelaufen, aber wir waren sehr minoritär; ein paar Dutzend, die sich kannten, das hieß vielleicht 100 in der ganzen Fabrik; und immer der propagandistischen Schlagkraft der PCF ausgesetzt, die ein Flugblatt nach dem anderen gegen die »Autozündler« verteilte.
Ich erinnere mich an einen Abend in jener Woche (ich erinnere mich sehr genau, denn es war die Woche, die mit der Barrikadennacht im Quartier Latin am 10. Mai endete, ), an dem ich ein Treffen mit den Genossen von der Voix Ouvrière [Arbeiterstimme] hatte; ich habe ihnen erzählt, dass wir bei Alsthom ein Flugblatt machen und am Tor zusammen mit den Kumpeln aus der Werkstatt verteilen wollten. Die Genossen waren sehr skeptisch. Sie spürten noch nicht die heraufziehenden Umbruch; sicherlich waren sie mit dem Herzen auf der Seite der kämpfenden Studenten, aber alle fragten sich, ob nicht meine optimistische Geistesverwandtschaft mit den Studenten dazu geführt hatte, die Möglichkeiten zur Intervention zu überschätzen… und ob man nicht vorsichtig sein müsse. Schließlich wurde das Flugblatt am Donnerstag, 9. Mai am Fabriktor bei Alsthom von neun Arbeitern verteilt. Ich erinnere mich an die Überschrift »Nieder mit den Bullen, ein Hoch auf die Studenten!« und an die Unterschrift »Junge Arbeiter von Alsthom Saint-Ouen«.
Die PCF und die CGT waren grün vor Wut, und unsere kleine Bande von Kollegen war sehr stolz auf ihren Coup. Das war kurz vor den Tagen, als junge Maoisten rund um die Fabrik und in den Cafés am Rathaus von Saint-Ouen auftauchten, dem Stil nach waren sie wohl von Dem Volke dienen. Sie waren sehr sympathisch und alles andere als Dummköpfe. Und sehr schnell haben die Arbeiter aus der Fabrik, die ihnen begegnet waren, sie zu mir geschickt. Wir diskutierten nicht schlecht, auch sie fanden, dass man nur in der Arbeiterklasse lernen kann. Es gab einige Aktivisten, die seit Jahren gegen die Gewerkschaftsbürokratie und für die Revolution kämpften, nur: sie waren für Stalin und Mao, und das konnte der junge Alte, der ich schon war (mit 25 ist man für die 20-jährigen und Jüngeren schon alt) nicht schlucken. Trotzdem sind wir mit denen gute Freunde geblieben, sie waren schließlich die ersten, die zur Fabrik gekommen waren. Das war nicht mehr der Fall mit den verschiedenen Gruppen, die nach dem Kampf (nach dem Streik) zu Alsthom kamen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Nachdem wir unser Flugblatt vor dem Tor verteilt hatten, bekamen wir sofort Kontakt zu anderen jungen Arbeitern am anderen Ende der Fabrik, in der großen Kesselschmiede. Wir kannten uns vorher nicht. Ich schreibe das, damit die GenossInnen heute begreifen, wie rasch sich damals die Situation entwickelt hat. Das sind die Kumpels, auf die ich gleich zurückkommen werde, denn sie haben nicht einmal eine Woche später den Streik ausgelöst.
An demselben Donnerstag und Freitag haben auch einige »Alte« ihre Sympathie bekundet, mehr weil sie die Studenten ein wenig bewunderten, die gegen die CRS kämpften, als uns gegen die Stalinisten zu unterstützen. Obwohl diese einen gewichtigen Einfluss auf die Arbeiterklasse hatten, gab es doch Alte, die sie aus der unmittelbaren Nachkriegszeit souverän verabscheuten und die uns mutig fanden, dass wir deren Diktatur nicht nachgaben. An jenem Tag hat mir auch ein Dreher, der seit Kriegsende da war, erzählt, wie es zuging, als dieser Croizat33 Arbeitsminister war. »Die Jungs von der PCF stachelten dazu auf, die Produktivitätsrekorde zu brechen.« »Wir arbeiteten sechs Tage in der Woche, zwölf Stunden am Tag, mit einer Unterbrechung von eineinhalb Stunden, um eine Stunde schlafen zu können. Wir schliefen zwischen den Maschinen.« Und ein anderer Arbeiter aus seiner Generation ließ zum ersten Mal heraus: »…dieses Arschloch von Thorez34 sagte ›Ärmel hochkrempeln‹, und seither haben wir sie nicht mehr runtergekrempelt.« Er ist später ein guter Kumpel geworden; aber damals hatte er noch nicht mit den Roten gebrochen.
Die Barrikadennacht
Am Freitag, den 10. Mai hingen alle, die die Stellung hielten, die ganze Nacht über am Radio. Es gab eine Direktschaltung aus dem Quartier Latin, wo es einen Kampf zwischen CRS und Studenten gab. Über diese Episode ist schon alles gesagt worden; unnötig, sie nochmal erzählen. Ich für meinen Part habe erst am Tag danach durch meine Kumpels und die Zeitungen davon erfahren. Aber am Samstag, den 11. Mai war offensichtlich, dass sehr viele Arbeiter die Nacht durch Radio gehört hatten. Ich habe nie erfahren, ob Arbeiter aus dem Betrieb sich auf den Barrikaden getroffen hatten; die Ereignisse folgten so schnell aufeinander, dass niemand sich die Zeit nahm, sowas rauszukriegen, aber soviel ist sicher: Junge aus dem Arbeitermilieu waren hingegangen, um zu kämpfen, als sie erfuhren, was los war. Die große Masse der Arbeiter hatte nun direkte Informationen über den Kampf, diesmal hatten die Studenten wirklich hart gekämpft, und die CRS waren nicht zwangsläufig obenauf geblieben, sie hatten Federn gelassen. Sogar die am wenigsten revolutionären Arbeiter dieser Jahre hatten kein Herz für die Bullen, und einer, der gegen die Bullen kämpfte, konnte nicht wirklich schlecht sein.
Seit Samstag Mittag wusste man – wieder aus dem Radio – , dass die CGT zum 24-stündigen Generalstreik für Montag, den 13. Mai aufrief. Der Betrieb war an diesem Samstag geschlossen. Es gab praktisch keinen Kontakt untereinander. Man hatte keine andere Wahl, als den Montag abzuwarten. Viele »Zeitzeugen« der Verhandlungen zwischen CGT, CFDT und FO, in denen die Entscheidung zum Streikaufruf am 13. Mai getroffen wurden, haben von den Mauscheleien zwischen Gewerkschaften berichtet. Ich weiß absolut nichts darüber und habe wie alle Arbeiter nichts darüber erfahren. Und ich behaupte noch immer, dass das von keinerlei Interesse ist. Später haben Historiker eine Verbindung hergestellt zu den geplanten gewerkschaftlichen Aktionen gegen die Verordnungen zur Sozialversicherung.35 Meiner Erinnerung nach – und die ist perfekt für diese Zeit, in der alles umstürzte – hatte das keinerlei Bedeutung. Vielleicht in den gewerkschaftlichen Milieus, aber nicht für die Arbeiter, und da ich keinerlei Kontakt zum gewerkschaftlichen Sumpf hatte, … erinnere ich mich nicht daran.
Um wirklich zu begreifen, was da vor sich ging, muss man wissen, welche politische Rolle die PCF damals spielte, die – erinnern wir uns – über die CGT noch großen Einfluss auf die Arbeiterklasse hatte. Bei Alsthom beispielsweise hatte es bis Ende 1967, als das erste Flugblatt der Gruppe Arbeiterstimme erschien und ein Dutzend junger Arbeiter aus der CGT ausgeschlossen und von ihren Funktionen entbunden wurden, nie eine andere gewerkschaftliche oder politische Gruppierung gegeben als die PCF und CGT.
Dieser organisatorische Einfluss der PCF auf die Arbeiterklasse hatte zwei Konsequenzen: zum einen besaß sie eine äußerste Sensibilität gegenüber der Bewusstseinsentwicklung im Proletariat und war folglich als einzige politische Kraft in der Lage, einen eventuell gestiegenen Kampfgeist der Arbeiter einzudämmen. Ein gewichtiges Argument, um sich dem Staat und der Bourgeoisie als unumgänglichen Vermittler aufzudrängen, trotz der Bindungen an die UdSSR.
Aber um diesen Einfluss auf die Arbeiterklasse zu behalten, durfte sich die PCF36 nie überrennen lassen. Dies war das bestimmende Element in ihrer Politik, als sie für Montag, den 13. Mai zum Generalstreik aufrief. Die Führungsebene hatte den Wind gespürt und beschlossen, die Initiative zu ergreifen, um eine eventuelle Reaktion der Arbeiterklasse zu »umarmen«.
Nachdem die PCF wochenlang ihre Propaganda gegen die Studenten und die Linksradikalen ausgeschüttet hatte, konnte niemand in der aufgeklärten Bourgeoisie sie beschuldigen, Initiator gewesen zu sein. Sie ging keinerlei Risiko ein, als sie die Initiative ergriff, und der Staat wusste recht gut, bis wohin sie zu gehen bereit war.
Am 13. Mai trafen wir uns zu zwanzigst am Fabriktor, der Gewerkschaftsapparat auf der einen Seite und einige Kumpels auf der anderen. Niemand wusste, was nun geschehen sollte. Würde es einen Streik geben? Einen massenhaften oder nicht? Wir wussten nichts. Alles war am Wochenende ohne die Arbeiter der Fabrik entschieden worden. Einige Arbeiter gingen wie immer hinein. Wie viele? Keine Ahnung. Vielleicht die Hälfte, nicht mehr. Aber die anderen waren nicht da, sie waren zu Hause geblieben, und wir waren nur ein paar Dutzend Aktivisten vor dem Tor. Nicht sehr lange übrigens, denn es gab rasch Spannungen zwischen uns und den Stalinisten, und wenn die Arbeiter nicht da waren, machte man da keine Stiche.
Am Vormittag trafen wir uns mit den Genossen von der »Arbeiterstimme« aus anderen Betrieben, um Bilanz zu ziehen. Dort war es genauso gelaufen. Der Generalstreik war kein Fehlschlag – soweit man dies beurteilen konnte, denn wir waren nur eine kleine Gruppe, aber es gab keine Euphorie. Nun ging es darum, was wir auf der Demonstration am Nachmittag machen wollten. Wir wussten absolut nicht, ob die Masse der Arbeiter dorthin kommen würde. Wir hatten ein Plakat vorbereitet »Zehn Jahre sind genug. Herzlichen Glückwunsch, Herr General!«37 Ohne Unterschrift. Und Trageschilder zum Bekleben. Wir waren uns so unsicher über die Beteiligung der Arbeiter an der Demo am Nachmittag, dass wir beschlossen, die Plakate noch nicht auf die Schilder zu kleben. Wir wollten vor Ort das Kräfteverhältnis mit den Stalinisten sehen und dann entscheiden, ob wir Chancen hatten, uns durchzusetzen oder nicht.
Zum besseren Verständnis muss man erklären, dass die kleine Gruppe von Genossen der Arbeiterstimme sich seit Jahren auf praktisch allen Demos mit den Schlägern von der PCF prügelte. Das ging von einer organisierten Rempelei bis zum freien auf die Fresse Schlagen, die PCF vertrug es nicht, dass irgendjemand links von ihr im Namen des Kommunismus auftrat, und da wir unsererseits uns nicht niedermachen lassen wollten, kam es sehr schnell zu Schlägereien; sei es am Fabriktor oder auf den Demos. Ein paar Stunden vor dieser Versammlung am 13. Mai wussten wir nicht – niemand wusste das – , ob die Arbeiter kommen würden und in welcher Stärke.
An diesem Nachmittag ist auf dem Place de la République eine kompakte Masse von ProlerarierInnen aus den Vororten nach Paris hinaufgezogen, offensichtlich war ein Gutteil der ArbeiterInnen, die mehrheitlich morgens gestreikt hatten, ohne sich in der Fabrik aufzuhalten, bei dem Aufmarsch am Nachmittag dabei. Es war gewaltig.
Selbstverständlich haben wir unsere Transparente entfaltet, und sie ertranken in den hunderttausenden von Demonstranten. Es gibt Zeichen, die einen bei Demos nie täuschen. Wenn es alle fünf Meter ein Spruchband gibt, heißt dies, dass die Masse der ArbeiterInnen nicht da ist, im Gegenteil. Wenn man sehr wenige oder überhaupt keine Transparente sieht, und das war der Fall, dann heißt das, dass die Masse der ArbeiterInnen da ist. Eine wahrhaft riesige menschliche Masse, ihre allgemeine Haltung war der unumstößliche Beweis, dass die ProletarierInnen da waren, die nur in Ausnahmefällen oder nie auf die Straße gehen. Da wurde nicht gelacht oder gesungen, man war hier, weil das eine ernste Sache war. Aus dem Innersten des Arbeiterbewusstseins war die Notwendigkeit hochgekommen, hier zu sein… Wie viele es waren? Einige hunderttausend sicherlich. Zahlen von 500 000 oder einer Million wurden aufgebracht, aber das ist ohne Bedeutung. Die Masse der ArbeiterInnen aus der Pariser Region war gekommen und sie hatte einen wirklich wahrnehmbaren Gedanken im Kopf: zwischen de Gaulle und der CRS auf der einen Seite und den linksradikalen Studenten auf der anderen war die Entscheidung klar.
Die Demonstration von Alsthom
An diesem Tag bin ich zu Fuß über den Boulevard Magenta zur Demo gegangen, es fuhren ja kaum Busse und Bahnen. Überall waren Massen von ArbeiterInnen. Ringsum den Ostbahnhof und den Nordbahnhof konnte man glauben, die Demonstration hätte schon begonnen. Ein massiver Strom marschierte auf den Place de la République zu. Auf den anderen Achsen, die auf diesen Platz zulaufen, war es genauso.
Wir von der Alsthom-Gruppe trafen uns auf der Demonstration. Vorn ging ein kräftig gebauter Genosse, der eine sehr große rote Fahne trug. Wir nahmen die gesamte Breite der Allee ein. In der ersten Reihe gingen etwa 40 Kumpels aus der Fabrik und dahinter hatten sich sehr schnell zahlreiche Demonstranten eingereiht. Auf dem Place St-Michel bildeten wir einen kompakte Block, die Leute fragten uns: »Wer seid Ihr?« (wir hatten keine Transparente, nichts) und wir antworteten pauschal: »Die Linksradikalen von Alsthom St-Ouen«. Das stimmte nur für die erste Reihe, nicht aber für die Tausende dahinter…
Sehr gut gefiel den Genossen, »ein Dutzend Tollwütige« zu skandieren und dabei die Hände mit gespreizten Fingern nach vorn zu strecken. Das war die Reaktion auf ich weiß nicht mehr welchen Politiker, der in bezug auf die Studenten von Nanterre von einem Dutzend Tollwütiger gesprochen hatte.
Bis Denfert demonstrierten nur die Mutigsten, denn überall waren Menschenmassen; eine Menge Leute ist nie am Ziel angelangt, so viele waren unterwegs.
Dem Streik entgegen
Am Tag darauf, also am 14. Mai, war eine ganz besondere Stimmung im Betrieb. Mein Leben lang habe ich nichts Gleichartiges mehr erlebt. Man arbeitete »artig«, sagen wir, aber alle dachten, dass etwas passieren würde. Es gab keine Euphorie, niemand sagte: »Los geht’s!«, aber alle Gespräche kreisten um die Demonstration vom Vortag. Eine ganze Anzahl von Arbeitern aus dem Betrieb war dort gewesen, einzeln (deshalb waren die Streikenden morgens nicht in den Betrieb gekommen). In der Werkstatt herrschte eine Atmosphäre von aufrichtiger Kameradschaft. Ohne Emphase kann ich sagen, dass die Arbeiterklasse als solche an die Oberfläche kam. Am Abend diskutierte ich mit zwei studentischen Genossen der Gruppe Arbeiterstimme, die sich als Externe um den Betrieb kümmerten. Ich sagte, mir sei bewusst geworden, dass wir loslegen müssen. Wir beschlossen dann, dass ich die Initiative ergreifen sollte, um am nächsten Abend eine Versammlung mit den bewussten Arbeitern zu organisieren. Folglich machte ich am Mittwoch, den 15. Mai sofort die Runde zu den Jungs, auf die man zählen konnte, um die Versammlung nach Feierabend zu organisieren. Wo, wussten wir noch nicht; vielleicht im Schlosspark oder am Rathausplatz, man würde sehen.
Einige, vielleicht ein Dutzend haben sich dann abgestrampelt und mit dem Mund am Ohr die Jungs gefragt, ob sie denn am Abend kommen würden. Das war nicht sehr begeisternd, bestenfalls sagten einige Jungs ja. Aber während des Vormittags hat der Gewerkschaftsapparat Wind von der Sache bekommen und nach dem Mittagessen rief ein Flugblatt der CGT alle Mitglieder zu einer Versammlung am Abend im Gewerkschaftshaus auf. Das ging unter den paar Arbeitern, die uns zugesagt hatten, rum, und da wir am Vorabend vorausgesehen hatten, dass die PCF reagieren würde, hatten wir vorsichtshalber vereinbart, dass ein Megaphon zum Fabriktor gebracht würde, um auf alle Eventualitäten eingerichtet zu sein. Dort haben sie dann die Arbeiter, die rausgingen, aufgefordert, zum Gewerkschaftshaus zu gehen, denn die CGT organisierte eine Versammlung, da gehen wir hin und diskutieren.
Im Gewerkschaftshaus von St-Ouen hatte die PCF alles an treuen Gefolgsleuten versammelt, was sie im Betrieb finden konnte. Aus dem Stand hatten sie innerhalb von drei Stunden gut 40 Leute zusammen. Wir waren acht; zwei Kumpels hatten nicht zu »dem Gewerkschaftsding« kommen wollen. Wir durften ein Referat des Gewerkschaftssekretärs anhören, dass die Geschäftsstelle eine zweistündige Arbeitsniederlegung vorbereitete, um »die Forderungsaktion wieder in Gang zu setzen« usw. (So haben die damals geredet!)
Sobald es eine Gesprächslücke gab, habe ich das vom Tisch gewischt. Ich erinnere mich ungefähr an die Worte, die ich gebrauchte: »Ihr seid wirklich Nullen und Ihr werdet niemals etwas begreifen, es geht nicht um zweistündige Arbeitsniederlegungen, man muss den Kampf organisieren, die Fabrik besetzen und die rote Fahne raushängen, und und und.« Stimmengewirr. Und weil wir nicht die Absicht hatten, uns noch einmal auseinandernehmen zu lassen, gingen wir raus und organisierten unseren Coup. Wir waren zu acht. Eine Stunde brauchten wir, um den Schlachtplan aufzustellen: Ziel war Streik und Besetzung. Sofort nach Arbeitsbeginn mussten wir überall hingehen, wo wir konnten, und zu einer Versammlung um 10 Uhr aufrufen.
Auf zwei von vier Werkstätten konnten wir setzen: auf die große Kesselschmiede und den Schalterbau, dort wo wir Jungs hatten, wenn es los ging. Die anderen Werkstätten würden folgen. Ich bestand mehr aus Vernunft auf dem wenigen, was ich von Pierre Bois’ Ratschlägen einige Jahre zuvor behalten hatte: Man muss auf jeden Fall über den Streik abstimmen lassen; man muss ein Streikkomitee ohne die Gewerkschaft organisieren; die wirklich repräsentativen Jungs hineinnehmen und mit ihnen die Einsatzleitung übernehmen. Wenn Jungs aus der Gewerkschaft wollen, einverstanden, aber ebenso viele Vertreter der Streikenden wie Gewerkschaftsvertreter; auf der Basis ein Streikender = eine Stimme; und das Streikkomitee wählen lassen; gut erklären, dass nur die Streikversammlung die Richtung bestimmen kann; die Mitglieder des Streikkomitees sollen die Umsetzung der Beschlüsse organisieren. usw.
Die anderen Jungs verstanden (in solchen Situationen versteht man schnell). Wir waren alle auf einer Wellenlänge, ich war 25 und damit der älteste der Bande. Keiner von uns hatte je einen Streik losgetreten. Und dann gingen wir zu viert zur Sorbonne, zu diesen kaputten Linksradikalen, so nannten uns alle im Betrieb; um zu wissen, wer die waren.
Wir gingen über die Place Paul Painlevé in die Sorbonne rein. Wir wussten nicht einmal, dass der Haupteingang auf der anderen Seite war, unnötig zu sagen, dass keiner von uns jemals die Tür einer Uni durchschritten hatte! Wir waren tief beeindruckt von dem schlossartigen Bauwerk. Überall herrschte ein fröhlicher Saustall. Die Statue eines Typen im Hof war mit roten und schwarzen Fahnen bedeckt … Wir waren so was wie Erdbewohner, die auf einem anderen Planeten landeten.
Die einzigen, die wir vor Ort antrafen, waren entweder Leute von der PSU, oder Maoisten in allen Ausführungen, oder Anarchos. Die Maoisten gefielen uns nicht wegen ihres Stalins, wir verstanden nicht, dass es Revolutionäre gab, die sich auf den Totengräber der Revolution beriefen. Mit den Leuten von der PSU haben wir ein wenig diskutiert. Darüber, was in der Fabrik vorging, darüber, was wir vorhatten, aber wir sind nicht bei denen hängen geblieben. Zustimmung gefunden hätte die Gruppe von Arbeiterstimme, darüber hatte ich mit meinen Kumpels gesprochen, aber die Arbeiterstimme hatte damals keine Organisation an den Unis, sie war ausschließlich auf die Arbeiterklasse und die Fabriken ausgerichtet; was nebenbei gesagt dazu führte, dass sie komplett neben der Spur war, was das Verständnis der studentischen Protestbewegung von 1968 betrifft.
Der studentische Protest, vor allem diejenigen, die in Nanterre und anderswo an der Spitze standen, war sehr politisch und keineswegs korporatistisch, denn sie stellten die Hierarchie derjenigen in Frage, die die Arbeiter beherrschten usw. … alles grundlegende Dinge, wenn man die kapitalistische Gesellschaft angreifen will. Man kann die Geschichte nicht verändern, so war es halt: die Gruppe Arbeiterstimme, bei der ich organisiert war, hatte nichts verstanden.
Und dann wurden wir langsam müde; am nächsten Morgen mussten wir fit sein. Einmal sollten alle pünktlich sein. Am Ende gingen alle schlafen. Ich habe glaube ich in jener Nacht wach gelegen. Mir gingen all die Jungs, die ich kannte, durch den Kopf: jene, die ohne weiteres »dafür« waren; sich beeilten, die anderen zu treffen; diejenigen, die dem Gewerkschaftsapparat nahe standen. Für Diskussionen war keine Zeit. Es ging nur darum, auf wen man sich verlassen konnte und wem man nicht trauen konnte. Wir würden loslegen, das war sicher. Am Morgen steckte ich die große rote Fahne in die Umhängetasche und los ging’s!
Der 16. Mai
Nachdem ich im Schalterbau die Runde gemacht hatte bei den 15 bis 20 Jungs, auf die man sich am meisten verlassen konnte, haben die Chefs gemerkt, dass was lief; wir mussten ein bisschen Verstecken spielen, denn angesichts der Umstände konnten wir uns nicht mit Einzelheiten aufhalten. »Versammlung um 10 im Umkleideraum, und danach: bist du dabei?« »Mal sehen.« »Ja, okay!«
Die Jungen waren mehrheitlich dafür, und in einigen Bereichen in der Werkstatt – in der Montage und bei der Verkabelung zum Beispiel – war die Mehrheit unter 21. Alsthom Saint-Ouen war ein Schuppen, wo man dermaßen schlecht verdiente, dass sich nur Junge einstellen ließen, mit einer außerordentlich hohen Fluktuation. Bis sie was anderes fanden, dann hauten sie ab; einige von ihnen kamen nicht einmal zurück, um den restlichen Lohn abzuholen.
Unter den Älteren war es sehr viel knapper; einige glaubten nicht daran; die dem Gewerkschaftsapparat nahe standen, wollten nicht mitmachen oder gaben keine Antwort; andere wollten nur mitmachen, wenn es wirklich ernsthaft wäre, weil »Weißt Du, das ist nicht leicht«, einige der schärfsten Antistalinisten konnten wir mit der Idee eines Streikkomitees gewinnen. Wir diskutierten, alle diskutieren, ich kann mich insbesondere an eine ältere Frau erinnern (es gab nur sechs Frauen in der Werkshalle), die den Brückenkran bediente. Ich ging dort hin und gab ihr ein Zeichen, dass sie mir das Hubseil runterlässt. Ich kritzelte auf ein Papier: »Wir treffen uns alle um 10«. Sie ließ mir das Papier wieder runter: »Wird es einen Streik geben?« Ich nickte mit dem Kopf: »Wirst du kommen?« Sie nickte mit dem Kopf. Ich hatte niemals Gelegenheit, mit ihr über ihre Gründe zu diskutieren. Bis dahin hatte diese Frau nie an etwas teilgenommen, sei es an einer Arbeitsniederlegung oder einer Versammlung. Aber in diesen Tagen war sie für den Streik.
Um 10 Uhr stand die Abteilung komplett still. Ein Teil der Arbeiter hatte sich in Luft aufgelöst, diejenigen, die weder dafür noch dagegen waren, ein Drittel vielleicht. Die anderen hatten sich in den Umkleideräumen versammelt. Alle, die »dagegen« waren, waren da, der CGT-Apparat war vollzählig angetreten. Man diskutierte, übrigens nicht sehr viel; ich hab dann die Initiative ergriffen: »Die Studenten machen Krawall, wir müssen das für uns Arbeiter ausnutzen.« usw. Wortmeldungen von Seiten der CGT, nicht bösartig, sondern sie spielten Feuerlöscher: »Nicht alles auf einmal!«, »sparsam mit unseren Kräften umgehen« usw. Man kennt das. Ich habe dann abstimmen lassen: »Wer für die Fabrikbesetzung ist, hierhin«, und machte eine große Armbewegung zur linken Seite. »Wer dagegen ist, dorthin«, mit derselben Geste nach rechts. Zögern, Diskussionen im Nahkampf »Aber ja! wir müssen dort hin«, »Komm mit uns«, »Scheiße, man muss wissen, was man will«, und nach einigen Minuten hatten sich die beiden Blöcke aufgestellt. Keine einzige Enthaltung; wir zählten 76 für die Fabrikbesetzung, 78 dagegen (darunter ausnahmslos der gesamte Gewerkschaftsapparat). Ein junger Kumpel flüsterte mir ins Ohr: »Wir machen es trotzdem, oder?« »Klar doch, mach Dir keine Sorgen!«
Ich verkündete dann, dass es eine weitere Versammlung wie die unsrige in den anderen Werkstätten gegeben hätte und dass wir uns deshalb nach dem Essen (das war zwischen 11 und 11 Uhr 30) mit dem Rest des Betriebes treffen würden. Bemerkenswerterweise, und das hatte ich während des Coups gar nicht bemerkt, wurde nicht einmal diskutiert, ob wir streiken oder nicht. Wir haben direkt über die Besetzung diskutiert und abgestimmt. Denn offensichtlich waren wir schon im Streik. Alle Werkzeugkisten waren verschlossen, die Maschinen angehalten. Wir waren im Streik. Niemand, weder wir noch die anderen sprachen von Forderungen, darum sorgte sich kein Mensch.
Ich verließ die Genossen vom Schalterbau und sauste zur Kesselschmiede, die andere Werkstatt, wo man loslegen musste. Die Werkshalle war vollkommen leer, nicht die kleinste Menschenansammlung, nicht einmal ein Schnurren der Schweißstation war zu hören. In der Tat hatten unsere Jungs, trotz aller guten Pläne vom Vorabend, nach der Frühstückspause den Streik ausgelöst. Ohne Versammlung oder Abstimmung, nichts, sie waren Box für Box abgeschritten und hatten die Werkstatt zum Streik gebracht mit den üblichen Argumenten, dass die proletarische Moral endlich noch einmal Stil beweisen müsse: »Wenn, dann jetzt!« Das hatte gewirkt. Die Jungs von der Gewerkschaft waren gefolgt. Es war eine Werkstatt, in der viele Mitglieder der PCF waren, aber sie hatten sehr viel weniger mit der offiziellen Politik des Verrats zu tun, obwohl sie ganz gehörig gegen die Linksradikalen angingen. Ein unterer Vorgesetzter war da und sagte mir, dass die Streikenden zu den Montagebühnen für die Spulen gegangen wären. Das war der korporatistischste Bereich der ganzen Fabrik. Wir hatten keinerlei Kontakte dorthin, und die Jungs waren sehr von ihrem Können überzeugt. Wie würden die reagieren? Auch dort stand die Werkstatt still, aber ein paar Leute waren dort. Der Vormittag war tatsächlich so schnell vergangen, dass alle schon in der Kantine oder auf dem Weg nach Hause waren. In der Kantine gab es ein entsetzliches Stimmengewirr. Man hatte den Eindruck, dass alle zur gleichen Zeit etwas zu sagen hatte. Der gesamte Gewerkschaftsapparat im weiteren Sinn war anwesend. Unsere Truppe auch. Die Kumpels waren vergnügt. Wir gingen überall rum und sagten, dass sich nach dem Essen alle Werkstätten vor dem Zentrallager versammeln.
Auf dieser Vollversammlung hat dann die Führungsebene der PCF die Sache in die Hand genommen. Sie bestätigte ohne Diskussion den Streik. Sie verkündete die Besetzung der Fabrik und forderte dazu auf, ein Streikkomitee zu bilden, das zur Hälfte aus Vertretern der Gewerkschaft und zur Hälfte aus Arbeitern aus den Werkstätten bestehen sollte. Ich begann zu erklären, dass das nicht einfach so liefe, aber sie sind mir nicht gefolgt. Es herrschte Euphorie, und sogar ein Teil der Jungen, die sich uns am Morgen angenähert hatten, verstand nicht, warum ich an der Zusammensetzung des Streikkomitees herumnörgeln wollte. Wir waren im Streik, die Fabrik war besetzt, es lief doch alles…
Soweit man das nach dem Ende des Streiks beurteilen kann, waren die Streikkomitees überall so. Ein Mittel für die Gewerkschaften, alle zu umarmen und ihre Vorherrschaft abzusichern; und überall waren sie tatsächlich nur Mittel, um die Gewerkschaftspolitik durchzusetzen. Nirgends waren sie ein Mittel zur autonomen Organisierung der ArbeiterInnen, um ihre Macht über ihren eigenen Streik auszuüben. Es nannte sich »Streikkomitee« so wie Canada dry, es schmeckte nicht so, noch funktionierte es so. Es hieß »Streikkomitee«, aber es war ernannt und zwar ohne weitere Diskussion.
So hatten an diesem Donnerstag, den 16. Mai 1968, um zwei, höchstens drei Uhr die PCF und der Zentralapparat der PCF beschlossen, sich an die Spitze der Aktionen zu stellen, sich den Streiks nicht entgegenzustellen und sogar die Schleusen zu öffnen. Was wir bei Alsthom gesehen und erlebt haben, geschah genauso am selben Tag zur selben Stunde in den ersten Fabriken, die losgelegt hatten, vor allem in der Banlieue von Paris.
Die PCF und 1968
Man muss wissen – und das können heute nur noch die älteren Genossen bezeugen – dass die PCF damals eine enorme Kampfmaschine war; die überwiegende Mehrheit der Betriebsräte war ihr fast hegemoniales Jagdquartier; alle Industrievororte der Großstädte waren mit wenigen Ausnahmen in der Hand der PCF; wer sich noch daran erinnert, der Gürtel von Paris war gespickt mit Industrie; das war ihre Domäne; und der gewerkschaftspolitische Apparat hatte zwar einen Teil seines Hochmuts aus den Jahren 45-50 verloren, aber er war auch überall in den Großbetrieben einflussreich; und die zählten als Arbeiteravantgarde.
Durch die ständige Nähe ihres Apparats wusste die PCF zentral, direkt auf der Ebene des Politbüros, was in der Arbeiterklasse vorging und konnte entsprechend Initiativen zu ergreifen. An diesem 16. Mai hatte die PCF auf höchster Ebene entschieden, sich nicht von der Arbeiterwelle überrollen zu lassen; gerade hatte sie im Studentenmilieu und bei den »Intellektuellen« allen Einfluss verloren; man wollte nicht dasselbe Missgeschick bei der Arbeiterklasse erleiden. Die PCF machte aus ihrem Herzen eine Mördergrube und beschloss, sich überall an die Spitze der Ereignisse zu stellen.
Alsthom war weniger als hundert Meter vom Rathaus von Saint-Ouen entfernt, wo seit Jahren Etienne Fajon Abgeordneter und Bürgermeister war, im übrigen Direktor der Humanité. Die politischen Milieus nannten ihn wohl zu Recht »das Auge Moskaus in Frankreich«! Es gab also auf höchster Ebene eine unmittelbare Verbindung zum Apparat der PCF. Es ist außerdem bekannt, dass die PCF auf der Ebene des Politbüros eine direkte Verbindung zu Aktivisten in einem Dutzend großer proletarischer Konzentrationen des Landes hatte. Sorgfältig ausgesuchte Aktivisten, die manchmal nicht einmal den anderen Aktivisten im Betrieb bekannt waren, die oft keine gewerkschaftliche Funktion bekleideten (um sicherzustellen, dass sie nicht beeinflusst würden), die nur die Aufgabe hatten, das Politbüro direkt über die Reaktionen in der Arbeiterklasse zu informieren. Alsthom gehörte nicht zu diesem Dutzend von Betrieben, Renault Billancourt sehr wohl! Um auf den Streik zurückzukommen: am Donnerstag, den 16. Mai wussten wir nicht, dass die ArbeiterInnen von Sud-Aviation in Nantes seit dem 14. Mai im Besetzungs-Streik waren und dass Cléon auch am 15. Mai losgemacht hatte. Wir hatten nur gehört, dass die NNMP in Paris im Streik wären. Wir waren überzeugt, die ersten zu sein.
»War die Perspektive der Generalstreik?«
Sicherlich waren unter uns einige, die dafür waren, aber wir haben nicht darüber nachgedacht, und das hat uns nicht einmal berührt, also wie man dahin kommen könnte und wie sich das entwickeln könnte. In den darauffolgenden vier Tagen war der große Mai 1968, den man ein wenig entmystifizieren muss, um die Dinge zu verstehen. Ich glaube mich zu erinnern, dass seit Freitag, 17. Mai der Apparat der PCF nach und nach die Kurve gekriegt hat, aber vor allem am darauffolgenden Montag hatte die Einflusspyramide Boden gewonnen; überall waren CGT/PCF in der Initiative, vom größten bis hin zum kleinsten Unternehmen; aus freien Stücken oder unter Zwang: überall wurde gestreikt. Und in einer großen Zahl von Betrieben, auch den großen, befanden sich die ArbeiterInnen auf einmal im Streik, den der Gewerkschaftsapparat proklamiert hatte. Ich glaube nicht, dass man Beispiele nennen könnte, wo die ArbeiterInnen sich gegen den Streik ausgesprochen haben. Denn sie waren massenhaft und überall für den Streik; aber in der überwiegenden Mehrheit der Betriebe hatte der Reifeprozess des Arbeiterbewusstseins, um zu einem wirklich effektiven Angriff auf das Unternehmersystem zu kommen, noch nicht angefangen oder er war erst in den Anfängen. Das ist wichtig, wenn man verstehen will, warum es 1968 keine unabhängigen Organisationsformen der Arbeiterklasse gegeben hat.
Von dem Augenblick an, da die PCF beschlossen hatte, die Schleusen zu öffnen, war die CGT von einem Ende des Landes zum anderen Meisterin der Bewegung von A-Z und fast nirgends war sie überrannt worden.
An die Sitzungen des Streikkomitees bei Alsthom habe ich wenige genaue Erinnerungen. Ich erinnere mich nur an ein paar aufgeregte Episoden; übrigens haben ich und die mir am nächsten stehenden Kumpels davon abgesehen, uns unabhängig zu organisieren. Die erste Entscheidung der PCF war, dass die Frauen abends die Fabrik verlassen müssen. Nachts keine Frauen (manchmal führen sich diese wilden Arbeiter wie Schweine auf!) Auf diesem Niveau behandelte die PCF 1968 die Frage der Frauenemanzipation. Und sofort die Tore schließen, Wachschutz (für den Fall, dass man uns die Fabrik klaut), Streikausweise, Stempel (des Betriebsrats, weil man keine anderen hatte!) und der ganze Aufbau eines großen bürokratischen Apparats; kostenloses Kantinenessen für alle (das leitete der Betriebsrat). Abends sind ungefähr 100-150 Arbeiter geblieben, darunter unsere kleine Truppe und der gesamte Gewerkschaftsapparat, und diese Zahl hat sich während des ganzen Streiks kaum verändert; der Apparat kontrollierte alles.38
Aber tagsüber musste man die Kontrolle über die Fabrik übernehmen. Ein Typ kam uns zuvor, als gegen 15 Uhr die beiden Direktoren und der Chef des Werkschutzes noch in der Fabrik waren. Wir sind also zu viert als Patrouille hin, um sie rauszuwerfen. Wir waren sofort flankiert von einem Verantwortlichen der Gewerkschaft. Wir trafen sie auf dem Weg zur Rue des Bateliers. Die Unterhaltung war kurz. Der Stalinist begann sich anzudienern: »Monsieur, ich informiere Sie…«, aber er hatte keine Zeit, seinen Satz zu beenden. Ein Genosse rief: »Seid Ihr die Direktoren?« (wir hatten sie noch nie gesehen), »Ihr habt fünf Minuten Zeit, um Euch zu entfernen. Und den Werkschutzchef (den kannten wir) wollen wir auch nicht mehr sehen.« Vorher wandte sich noch einer der Direktoren an den Stalinisten und bat ihn, die Bewachung der elektrischen Schweißstation zuzusichern. Mit 25 die Direktoren aus der Fabrik zu werfen, das gehört zu den kleinen Vergnügen, die man nicht verpassen sollte, wenn sie sich anbieten. Es war nichts Großartiges, aber immerhin.
Etwas bewegter wurde eine Sitzung des »Streikkomitees«, als die PCF beschloss, die roten Fahnen an den Toren zu entfernen und den dreifarbigen Lappen an ihre Stelle zu hängen. Auch das geschah meiner Erinnerung nach in allen Betrieben am selben Tag; aber an vielen Orten wurde das Rot bis zum Schluss bewacht. Am nächsten Morgen waren die Fahnen am Tor Richtung Rathausplatz ersetzt worden. Welche Anscheißereien! Das dringlich zusammengerufene Streikkomitee brachte alle klassischen Argumente vor: »Wir sind Franzosen!« »Das ist eine revolutionäre Fahne« »Das ist die Fahne der Versailler!« »Man darf die nicht schockieren, die nicht revolutionär sind.« »Du verwechselst das mit der Kaserne der CRS!« usw. Und einmal warf uns ein Stalinist entgegen, der außerdem Gemeinderat in Fajon war: »Alle Symbole sind Interpretationssache. Eine rote Fahne macht man auch hinten an die LKWs, um vor Gefahren zu warnen.« Aber damals waren schon nur noch Stalinisten und wir in diesem »Streikkomitee«, denn so schnell, wie sie die Fabrik verlassen hatten, haben die ArbeiterInnen auch die Sitzungen »von Gewerkschaft und Streikkomitee« verlassen. Wir haben uns ein wenig gegenseitig aufgestachelt; ich ziehe die rote Fahne auf und du hängst wieder die andere auf …. wir hängen beide auf; als hätte das nicht geheißen: »Es lebe die Republik!« Auf der anderen Seite, an dem 27-Meter-Tor an der Rue des Bateliers, hing nie eine Trikolore. Eine Truppe von Jungs hatte das Tor übernommen und daraus ihr Hauptquartier gemacht; Jungs aus der Kesselschmiede, der Spulenwicklerei, und diese kleine Bande war nicht schlecht. Dort waren die Arbeiter unter sich und akzeptierten deren Beschlüsse nicht. Da wurde gegrillt – und das war ein bisschen sympathischer als das andere Tor, wo die Werkschutzhütte von der PCF bewohnt wurde.
Die Demonstrationen
Sehr oft ging es abends in Paris ab; wir fuhren vom Betrieb aus mit dem Auto (wir hatten den Benzinvorrat der Fabrik requiriert) zu den Demos. Wenn die Stalinisten uns vorbeifahren sahen, waren sie grün vor Zorn.
Wie viele wir waren? Das hing davon ab, wann wir schliefen. Manchmal nur ein Auto voll, aber wir sind auch mit bis zu 20 Leuten aus der Fabrik raus. Das begeisterte uns viel mehr, als die Fabrikmauern anzuschauen. Wenn wir dann gegen Morgen zurück kamen, brauchte es natürlich nicht viel, um uns zu reizen. Es ging gleich los mit Anschnauzereien.
Zur selben Zeit, sagen wir in den ersten drei Wochen, wurden die Verbindungen nach außen enger, vor allem zu einer Bande von Gentlemen, die nicht in der Fabrik arbeiteten, die wir bei den Linksradikalen aufgegabelt hatten: ein Sekretär der Kommunistischen Jugend von Saint-Ouen und Genossen aus der Stadt, alles Leute aus St-Ouen, die mehr oder weniger zur Kommunistischen Jugend gehörten oder dazu gehört hatten und im Mai 68 auf unsere Seite übergewechselt waren.
Während im Betrieb zwischen PCF und uns bewaffneter Friede herrschte – wenn sie sich mit uns hätten prügeln wollen, wäre das nicht einfach für sie gewesen – war außerhalb, in der Stadt, Krieg zwischen uns. Wir hatten einen Treffpunkt eingerichtet auf dem Rathausplatz vor der Banque de France (die später zum Gemeindezentrum geworden ist), und die Arbeiterstimme hatte ein Agitationsblatt für die Stadt herausgebracht, das wir auf den Märkten und in den Sozialwohnungen verteilten. Aber auch dort war die Bevölkerung im weitesten Sinn nicht bereit, sich zu beteiligen. Als wir die Parole aufbrachten: »Für die Arbeitermacht muss das Rathaus zur Sorbonne werden!«, hat die Führungsebene aus dem Rathaus sofort das Gerücht verbreiten lassen, wir wollten das Rathaus angreifen. Sie sind mit Lautsprecherwagen durch die Stadt patrouilliert, um ihren Dreck auszuschütten. Man muss sich an die Atmosphäre erinnern, es gab Flugblatt auf Flugblatt gegen die »Autozündler«, die linksradikalen Taugenichtse und den Abschaum; Stalin war noch sehr lebendig.
Aber das zog nicht so sehr, auch nicht bei der Bevölkerung. Niemand versammelte sich vorm Rathaus, und ihre Mobilisierung war geplatzt. Im Gegenzug war die Truppe Linksradikaler von Saint-Ouen entfesselt; sie verteilten nun auf der Vortreppe des Rathauses, um zu provozieren. Den ganzen Monat Mai über war das die Atmosphäre in Saint-Ouen: Rempeleien auf dem Rathausplatz, Verleumdungen, wie du mir, so ich dir. Die PCF sicherte die zweite Flanke ihrer Politik gegenüber dem Staat: man musste ihr verzeihen, sich an die Spitze des Generalstreiks gestellt zu haben, den sie gut im Zaum hielt, weil sie gleichzeitig die »Force de Frappe« (Streitmacht) gegen die Linksradikalen war. Die französische Bourgeoisie hat sich im übrigen nicht geirrt; Ende 68 räumte sie den Gewerkschaften neue Rechte ein.
24. Mai: de Gaulles Rückkehr
Als de Gaulle am 24. Mai seine Rückkehrrede hielt, waren die Kumpels von Alsthom auf der Demo vor dem Gare de Lyon. Alle hörten andächtig seiner Rede zu, und als er fertig war, erhob sich ein gewaltiges Geschrei. »Wir pfeifen auf seine Rede«, »Die Macht sind wir; der Bettscheißer39 ist er!«; dann prügelten wir uns wie jedes Mal mit der CRS.
Wir waren etwa 20 von Alsthom, ausgerüstet mit Knüppel und Helm. An diesem Abend war ich vollständig von der Gruppe Arbeiterstimme abgeschnitten. Die Viertel rund um die Bastille waren schwarz vor Menschen. Es war unmöglich, sich zu treffen. Ich sprach also eine Gruppe an, die dort stand und einen organisierten Eindruck machte. Wir boten unsere Dienste an. Der wackere Typ, der so aussah, als hätte er das Kommando inne, war völlig ratlos. Auf seine Antwort warte ich bis heute. An jenem Tag haben wir uns nicht schlecht mit den CRS geprügelt: Vorstoß, Rückzug, neuer Vorstoß … das wurde zur Gewohnheit.
Die Demos im Mai 68 waren so. Die CRS waren organisiert, aber auf der Seite der Demonstranten gab es keinerlei Zentralisierung; so schlug man sich, wie man konnte, um möglichst unbeschadet davon zu kommen; alles war total improvisiert. Es gab viele Demos im Mai und Juni in Paris. Übrigens waren das oft keine Demonstrationen, sondern man lief mehr oder weniger spontan die Straße hinunter, sehr häufig abends.
Eines Abends trafen wir uns mit den Leuten aus der Kesselschmiede auf der Straße vor der École de médecine. Die CRS postierten sich vor der Kirche Saint-Germain-des-Prés, aber sie waren vollkommen eingekreist. Sie hatten die Busse im Kreis ganz eng aufgestellt und die Front bewegte sich nicht. Der Wahlkampf lief bereits. An den Straßen standen die Ständer mit den Wahlplakaten. Das waren gute Schutzschilder: zwei Kerle trugen sie und die anderen marschierten hinterher…
An diesem Abend hat, glaube ich, die CRS zum ersten Mal in Paris massiv Offensivgranaten eingesetzt. Aber bei Gegenwind nutzte das Gas nichts. Und weil sie im Kreis waren, standen die Demonstranten zwangsläufig im Gegenwind.
Als die ersten Offensivgranaten knallten, fragten wir uns, was das nun war, und sehr schnell erinnerte man sich an die Armee, die Ältesten mussten erklären, dass man vor allem nicht versuchen darf, sie aufzuheben und zurückzuwerfen. So brachten wir mehrere Stunden damit zu, vorzustoßen und zurückzuweichen. Ich glaube, das ging bis in den frühen Morgen so.
Grenelle, Billancourt und Citroën
Am Morgen des 27. Mai hatten wir eine bewegte Nacht mit zwei anderen Kumpels aus dem Betrieb hinter uns. Wir wachten um 11 Uhr auf und machten uns zur Kantine auf, um Essen abzufassen. Natürlich stießen wir auf die PCF/CGT-Truppe, die alle ein Gesicht zogen. Wir schauten sie erstaunt an, und einer von der CGT, einer von den zwei, drei Korrekten, die es gab, erklärte uns mit Tremolo in der Stimme, dass Séguy in Billancourt ausgebuht worden war. Das war nicht schlecht, »Gut gemacht, dass Ihr eins auf die Schnauze gekriegt habt«. Dann gingen wir frühstücken. Das war am Vortag von Grenelle. Séguy war nach Billancourt und Krasucki zu Citroën gegangen, um das Ergebnis ihrer Verhandlungen mit der CNPF (Nationale Unternehmervereinigung) vorzustellen. Beide wurden sowohl bei Citroën als auch bei Renault ausgebuht und ausgepfiffen.
Später haben wir erfahren, dass die CGT schon über den Streik hatte abstimmen lassen, bevor Séguy in Billancourt ankam. Sie hatten also den Schlag vorausgesehen und einen Plan B vorbereitet. Aber bei Citroën hatte man nicht vorher abstimmen lassen, und so wurden die CGT und Krasucki ausgepfiffen. Krasucki hat sich sofort wieder gefangen und am Mikro versichert: »Das ist der Vorschlag, aber die CGT hat nichts unterschrieben.« Von da an waren Séguy und Krasucki, wenn sie in den Betrieben auftraten, immer die, die in Billancourt und bei Citroën ausgepfiffen worden waren…
Charléty
Wer hat die großeKundgebung im Stadion von Charléty organisiert? Wir wussten es nicht, aber das war überhaupt nicht wichtig. Es waren die »Linksradikalen«, wir waren 20-25 aus der Fabrik in Charléty. Es war eine wirklich unabhängige Kundgebung und auch gute Stimmung, zumindest als wir dorthin kamen. Denn auf der Versammlung haben sie dann verschiedene Politiker sprechen lassen, darunter Barjonet, bis vor kurzem Apparatschik der CGT, und Maurice Labi. Ich tobte vor Wut. Diejenigen, die vorgaben, die Revolution zu verkörpern, rollten diesen Dreckskerlen den Teppich aus. Ich brüllte wie am Spieß; das nutzte nichts, umso schlimmer. Denn ich kannte beide. Vor allem Labi, mit dem die Genossen von Rhône-Poulenc und ich ein paar Jahre zuvor aneinandergeraten waren (er war Sekretär der Chemiegewerkschaft der FO). Dieser verreckte Reformist und Vertreter eines total integrierten Syndikalismus nach deutschem Muster wagte es, von der Revolution zu sprechen.
Nur meine Kumpels aus der Fabrik verstanden nicht, warum ich so in Rage war, sie wussten nicht, wer das war. Ich konnte es ihnen erst später erklären. Wir sind kurz nach unserer Ankunft in Charléty wieder aufgebrochen, es gab keine Perspektive, keine Klarheit, nichts. Wie der ganze Mai 68. Eine gewaltige Massenbewegung, vor allem im Studentenmilieu; der größte Streik (oberflächlich betrachtet), den das Land je gesehen hat. Aber nicht das bewusste Auftreten einer organisierten Klasse. Opportunisten und Erzstalinisten stellten sich als Revolutionäre dar, in der Version Selbstverwaltung, Maoisten, Gewerkschaftstrotzkisten.
De Gaulle ist verschwunden … und kommt zurück
Die Pilgerreise de Gaulles40 in den Osten ist im Betrieb praktisch nicht diskutiert worden. Man scherte sich überhaupt nicht darum. Und später wurden dann fantastische Interpretationen formuliert, er habe sich von seinem alten Kumpel Massu trösten und zusichern lassen, dass die Armee auf seiner Seite stünde, falls es eine revolutionäre Drohung gäbe.
Vor allem die Gewerkschaftsapparate stellten das so dar, um den Rückzug zu rechtfertigen, der sich ankündigte. Man durfte nicht zu weit gehen, damit die Armee nicht eingreift… usw. Lieber de Gaulle verspotten, er habe sich der Treue seiner Führungsebene versichern müssen, als glauben zu machen, dass er nicht wüsste, dass die PCF die Leitung der Aktionen überall in den Betrieben und den Stadtvierteln innehat, und dass das Risiko einer Arbeiterrevolution deshalb gering war. De Gaulle wusste sehr gut, welche Grenze die PCF nicht überschreiten würde. Über Wochen hatte sie glühende Pfeile auf die Linksradikalen abgeschossen, de Gaulle wusste, dass er auf die PCF zählen konnte. Er brauchte die Armee nicht oder irgendjemand anderen. Er hatte sie 20 Jahre vorher als Minister gehabt, und er »hatte nie Grund zur Klage gehabt« (die Formulierung ist von ihm).
Und als er wieder auftauchte und allgemeine Wahlen ankündigte, hat die PCF sofort die Gelegenheit genutzt.
Die besseren Viertel demonstrieren
De Gaulle41 hatte dazu aufgerufen, auf den Champs Elysées zu demonstrieren. Darüber wurde im Betrieb diskutiert. Von Seiten PCF und CGT herrschte Funkstille. Keinerlei Anweisung. Nichts. Das war ein weiterer Beweis an de Gaulle, dass die PCF absolut keinen Krawall wollte, komme was wolle. Wir fanden uns wieder hereingelegt wie zwei runde Puddinge. Soweit ich mich erinnere, war das überall der Fall. Die Genossen waren natürlich bereit zu einer Gegendemonstration; übrigens auch ein paar nicht üble Typen der PCF, aber niemand von denen, die das vielleicht hätten tun können, ergriff die Initiative; vor allem die Chefs der linksradikalen Studenten und die PCF natürlich auch nicht. So waren wir darauf beschränkt, am Radio zuzuhören, was passierte. Wir waren in der Zwickmühle. Wenn es an diesem Tag eine Gegendemonstration gegeben hätte, hätte es Krawall gegeben; ich glaube sagen zu können, dass die Leute aus den Vorstädten gekommen wären; und nicht, um vor den Angriffen der CRS davonzulaufen!
Bewaffnung
Eine Weile nach dem Streik gab es »Augenzeugenberichte« von Stalinisten oder assimilierten Linksradikalen, die behaupteten, dass Waffen herumgegangen seien. Das sind entweder Mythenbildungen oder Fantastereien, oder beides. Bei Alsthom wurde von den Arbeitern an dem 27-Meter-Tor (Rue des Bateliers) die Frage aufgeworfen, Material vorzubereiten, um sich im Fall eines Angriffs verteidigen zu können. Das gab sofort einen Anschiss von der CGT: außer Frage; und als die Jungs fragten, was sie denn machten sollten, wenn die CRS kommt, war die Antwort klar und unmissverständlich: kein gewaltsamer Widerstand. Die Jungs haben sich dann gefragt, warum sie die Tore überhaupt bewachen. Wenn man das tat und sich dann ohne Widerstand zurückzieht, wenn ein Angriff kommt, war es wirklich der Mühe nicht wert. Während des ganzen 68 habe ich nicht ein einziges Mal von Waffen sprechen hören. Und wir waren in einer Fabrik, die an der Spitze einer Vorstadt mit einer gewissen Reputation stand. Im übrigen: Waffen gegen wen? Der Feind war nicht in den besseren Vierteln, sondern vor allem in den Fabriken selbst; PCF und CGT füllten ihre Rolle der politischen Polizei der Bourgeoisie in der Arbeiterklasse aus (so sahen wir das damals), sie hatten die Streikleitung inne und hielten die Pferde im Zaum.
Die Nicht-Streikenden
Natürlich arbeitete in der Fabrik niemand mehr, aber nicht alle Lohnabhängigen waren im Streik. Von den ArbeiterInnen drängte niemand darauf, die Arbeit wieder aufzunehmen. Versuche gab es aber auf Seiten der Vorgesetzten und in der Chefetage. Um den 10. Juni herum haben diese Herren begonnen, sich vor dem Gewerkschaftshaus zu versammeln; als ich das erfuhr, bin ich mit einem Typen aus der Kesselschmiede eines Morgens dorthin. Es hatten sich dort etwa hundert Kasper versammelt und zwei oder drei Typen aus der betrieblichen Angestelltenvertretung der CGT, die sie auf demokratische Weise zu überzeugen versuchten, nichts gegen den Streik zu unternehmen. Sie führten sich auf wie Blödköpfe, um sich als verständnisvolle Demokraten darzustellen, während die anderen immerzu »Abstimmung! Abstimmung!« skandierten. Dann ergriff ich das Wort. Diese kleine Welt kannte mich nicht und ich kannte sie auch nicht. Sie haben mir zugehört. Ich erinnere mich gut daran, was ich erzählt habe:
»Ihr wollt eine Abstimmung?« »Ja« »Ja«, antwortete die Zuhörerschaft. »Aber die ArbeiterInnen haben bereits abgestimmt. Wir sind keine Wetterhähne und wir werden das nicht rückgängig machen. Ihr wollt ein Ende des Streiks. Ich bin Arbeiter in einer Werkshalle und rede jetzt Klartext mit Euch. Das Jahr über könnt Ihr in Muße arbeiten, und wir, wir schinden uns in der Werkshalle. Jetzt arbeitet niemand, weil wir beschlossen haben zu streiken. Und wenn hier welche den Helden spielen und den Streik brechen wollen, dann werden sie von uns einen Tritt in den Arsch kriegen.«
Hier hielt ich inne. Sie waren so überrascht, dass sie nicht einmal aus Reflex protestierten. Die Stalinisten wussten nicht, wohin sich verkriechen. Der Kumpel, der mit mir war, gab mir ein Zeichen, nun zu verschwinden (es war tatsächlich etwas riskant). Und dabei blieb es. Man hat nie wieder was von den Nicht-Streikenden reden gehört.
Die Wiederaufnahme der Arbeit steht bevor
Es waren nicht die Streikgegner (anti-grévistes), die auf die Wiederaufnahme der Arbeit drängten; das war die CGT. Das muss um den 15. Juni herum gewesen sein. Es gab kein Streikkomitee mehr oder ähnliches, sondern nur die CGT und uns. Ein Flugblatt der CGT kündigte an, dass das Exekutivkomitee der CGT eine Abstimmung für oder gegen die Weiterführung des Streiks organisierte. Eine geheime Abstimmung, an der alle teilnehmen sollten, also Streikende und Nicht-Streikende. Wir haben uns ernsthaft angebrüllt, aber die »Gewerkschaftsaktivisten« haben massiv die geheime Abstimmung verteidigt. Die Masse der ArbeiterInnen war gekommen (fast die Hälfte der Fabrik). Einige Gewerkschaftsmitglieder waren auf all das nicht stolz…
Aber zur allgemeinen Überraschung stimmte die Mehrheit für die Fortführung des Streiks. Sogar unter den Umständen, unter denen abgestimmt wurde, gab es eine Mehrheit von Streikenden. Also haben wir weiter gemacht. Aber es war offensichtlich, dass über kurz oder lang die Fabriken die Arbeit wiederaufnehmen würden. Der Umfang des Generalstreiks begann ernsthaft zu schrumpfen. Die Technik der PCF und der Gewerkschaften nach den Verträgen von Grenelle, die den Streik in so viele Partikularstreiks zerstückelt haben wie es Betriebe gab, indem sie Verhandlungen auf Betriebsebene eröffneten, trug Früchte, und in dem Maß, wie jeder Unternehmer ein paar Brösel zugestehen musste, rief die CGT zur Wiederaufnahme der Arbeit auf.
Alsthom Saint-Ouen war nun seit fünf Wochen im Streik. Als am 24. Juni die allgemeine Stimmung nicht mehr gut war, rief die CGT dazu auf, den Streik zu beenden. Das geschah vor den Büros drinnen in der Fabrik. Dort waren viele Leute versammelt. Es gab keine Abstimmung, nichts. Nur eine endlose Rede des Gewerkschaftschefs. Als er seine Einseiferei beendet hatte, bin ich zusammen mit ein paar Kumpels auf die Vortreppe, die Stalinisten schalteten das Mikro ab. Das gab Proteste von unten. Ich hab dann ohne Mikro gesprochen, alle waren total still.
Im Gegensatz zu dem, was die CGT sagte, hatten wir den Streik nicht gewonnen. Diejenigen, die das Wahlspektakel im Austausch gegen den Generalstreik akzeptiert haben, waren verantwortlich für die Niederlage. Wir mussten neu anfangen in den zukünftigen Kämpfen und dabei die Lehren aus dem ziehen, was geschehen war. Und ohne Begeisterung sind dann alle zurück in die Werkshallen.
Fazit
Der stalinistische Poker
Das Verhalten von PCF und der CGT nach der ersten Streikwoche ist eines der markantesten Ereignisse des Mai/Juni 68: nämlich die Bewegung in der Flut eines bewusst ausgelösten und kontrollierten Streiks zu ersticken. Obwohl die Geschichte und vor allem die Wiederaufnahme der Arbeit im Juni der Strategie von PCF und CGT in dem Sinne Recht gaben, dass es keine oder wenige Überschreitungen gab, war die Gefahr real (und sie ist immer gegeben), dass eine Generalstreikbewegung Energien freisetzt, die ihren Initiatoren aus der Hand gleiten.
Aufgrund welcher Analyse wurde am 17. Mai die Entscheidung getroffen, den Generalstreik auszurufen?
Die Streikbewegung, die am 14. Mai bei Claas und Sud Aviation begann, griff in der Folge auf Renault Cléon über und breitete sich wie ein Ölfleck aus, blieb aber quantitativ (200 000 Streikende am 17. Mai) wie qualitativ minoritär. Sicher fehlen präzise Zahlen, doch der Streik fand in den Fabriken, in denen er ausbrach, keine Mehrheit, vor allem nicht hinsichtlich der aktiven Teilnahme. In vielen Fällen haben zwar junge, entschlossene Arbeiter die Aktion ausgelöst (leuchtendes Beispiel Cléon), ihnen schlossen sich dann ältere Arbeiter an, die oft CGT-Mitglieder waren. Kurz gesagt: ein Streik von Minderheiten, der aber die wohlwollende Passivität der anderen Arbeiter der betroffenen Betriebe genoss. Dennoch war die Bewegung schon am Ansteigen und ließ Entwicklungsmöglichkeiten erahnen (siehe weiter hinten die Beispiele zur Aktion des CATE Censier). Man knüpfte Kontakte nach außen, und viele Betriebe waren bereit, in den Streik zu treten, was sie zwischen dem 18. und dem 21. Mai auch taten. Nur hat dann der Generalstreik, der bei der SNCF, der RATP und in den Schlüsselsektoren ausgerufen wurde, wo der Apparat von PCF/CGT die Hegemonie ausübte, sie aus dem Vordergrund verschwinden lassen (außer wenn sie geographisch in der Nähe lagen). Der Beschluss der CGT wurde also zu einer günstigen Zeit getroffen und funktionierte als präventive Gegen-Bewegung. Natürlich hat sich kein Arbeiter darüber beklagt, von den PCF/CGT-Truppen zum Streik getrieben worden zu sein (zum Beispiel am Morgen des 18. Mai in Seine Saint-Denis), doch in diesen Betrieben gab es von Anfang an wenige »aktive« Streiks, sondern eine weiche Besetzung unter Kontrolle der CGT.
Doch kommen wir zum 17. Mai zurück. Die CGT verfügte wegen ihrer landesweiten Verbreitung und ihren Hunderttausenden von Mitgliedern über wesentlich mehr Sensoren als alle anderen, um die Situation nach dem 13. Mai einzuschätzen. Vor allem ist da die zeitweilige Schwäche der Exekutive, von der abwechselnd einer der beiden Köpfe abwesend war (Pompidou war vom 3. bis 10. Mai auf Staatsbesuch in Afghanistan, dann de Gaulle vom 14. bis 20. Mai in Rumänien) und ihre Vertreter waren nicht genauso kompetent: sie haben die Krise bei den Studenten nicht kommen sehen und es nicht geschafft, die Situation zu befrieden, die am 10. Mai in der Barrikadennacht gipfelte. Pompidous schlauer Rückzug am 11. Mai (Wiedereröffnung der Sorbonne, Freilassung der Festgenommenen), der auf die mangelnde Schlagkraft der Studentenbewegung setzte (was tatsächlich zutraf), wurde von der Bevölkerung und vor allem der Arbeiterklasse als Niederlage der Macht gesehen, dieser Macht, die fast unbesiegbar, allmächtig zu sein schien. Die Studenten hatten gezeigt, wie weit man gehen konnte und dass es sich auszahlte, einschließlich der Gewalt gegen die Polizei. Einer Polizei, die in Paris Herr der Lage blieb und größere Blessuren vermied. Für viele Arbeiter, die CGT-Mitglieder eingeschlossen, war das der Moment, den man sich zunutze machen musste. Die Demonstrationen am 13. Mai waren zwar ein Erfolg, kaschierten aber ein wenig, dass sich an den Streiks weniger Leute beteiligten. Sie machten es jedoch möglich, dass Tausende von Arbeitern in Kontakt zu den Studenten traten – und sei es auch nur oberflächlich – und eine andere Musik hörten als die öden Schlager der Gewerkschaftskundgebungen.
Die PCF, deren Studentenorganisation UEC seit 1965 massiv Mitglieder an der Uni verloren hatte, hat die Bewegung von Beginn der Studentenunruhen an nicht unterstützt (und das ist milde ausgedrückt, siehe den Artikel von Georges Marchais in der Humanité vom 3. Mai), sondern versuchte, sie so weit wie möglich zu bremsen. Die Mühe war vergeblich und hat die PCF nur noch mehr diskreditiert. Doch der Universitätsbereich interessierte sie wenig. Ein anderes Problem war es aber, wenn eine ähnliche Bewegung im Arbeitermilieu ausbrach, dann war die PCF, und im geringeren Maße der CGT, in ihrer Existenz bedroht. Und zum Unglück der Stalinisten schien genau das einzutreten: der Streik brach ohne irgendeine gewerkschaftliche Anweisung aus und weitete sich aus. Am Anfang stellten sich die Stalinisten also taub oder widersetzten sich autonomen Versuchen (siehe das Beispiel Alsthom), aber nach dem 17. Mai machten sie eine Kehrtwendung. Der Nutzen war ein doppelter:
• Der Streik wurde ihr eigener. Die CGT-Aktivisten, die die Gelegenheit ausnutzen wollten, waren beruhigt, und gegenüber Regierung und Staat konnte sich das Paar PCF/CGT als Garant zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Herr des Schicksals der »Arbeiterherden« rechtfertigen.
• In der ersten Phase war die Operation gelungen, die »linke« Gefahr im Arbeitermilieu war gebannt. Nun ging es darum, durch ständigen kontrollierten Druck von Staat und Unternehmern Vorteile zu erlangen, um sich für die Wiederaufnahme der Arbeit einzusetzen.
Die Fakten geben dieser Sichtweise Recht, auch wenn die Ablehnung des Abkommens von Grenelle in den meisten Betrieben am 27. Mai sie scheinbar entkräftet. Scheinbar, denn wenn man genauer hinsieht, ging die Bewegung ab dem 3. Juni zurück. Und nach der Arbeitsaufnahme bei der SNCF und vor allem bei der RATP nach dem 6. Juni war diese Tendenz unumkehrbar, und auch wenn der Point-of-no-return erst am 14. Juni erreicht war, – trotz der spektakulären Ereignisse bei Renault-Flins und Peugeot-Sochaux und verschiedenen, von der CGT gewaltsam erzwungenen Arbeitsaufnahmen; am Schluss waren nur noch die sympathischen Unbeugsamen übrig.
Warum gelang die Wiederaufnahme der Arbeit?
Die CGT hatte es geschafft, in den von ihr kontrollierten Schlüsselindustrien (SNCF, EDF, GDF, Bergbau) – von wenigen Ausnahmen abgesehen – das wieder zu stoppen, was sie ausgelöst hatte. Dann war der Streik von der übergroßen Mehrheit der Streikenden, die sich nicht aktiv beteiligten, nicht gewollt: es gab überhaupt keinen Grund, warum sie sich am Tag der Arbeitsaufnahme in wütende Streikende verwandeln sollten (hier wieder abgesehen vom Gegenbeispiel Peugeot-Sochaux, wo die Arbeiter, die für die Wiederaufnahme der Arbeit gestimmt hatten, wieder in den Streik traten, um sich mit den CRS zu schlagen. Das war zwar ein Sieg der militärischen Organisation, der mit dem Tod zweier Arbeiter bezahlt wurde, doch er mündete in keine Anwandlung von politischer Autonomie der Arbeiter).
Nach mehr als zwei Wochen Streik wurde die Müdigkeit außerhalb der Betriebe spürbar: die Angst vor dem Unbekannten, der Lohnverlust42; all das ließ die Gemäßigten, die Zögernden wieder in die Normalität zurück kippen. Schließlich sollten an den wenigen Orten, an denen die Arbeiter organisiert und entschlossen waren, die Solisten von PCF/CGT ihre Partituren – Hinterlist, freundlicher oder entschiedener Druck oder Demoralisierung – wunderbar spielen, weil es nur schwache Erfahrungen von Arbeiterautonomie gab.
Die Arbeiterautonomie
Nachträglich nach Spuren von Arbeiterautonomie in einer Bewegung zu suchen und dann zu konstatieren, dass es dafür keine oder nur wenige Beispiele gibt, mag einfach erscheinen. Doch das ist leider die einzige Methode, um die Illusionen (für die man früher oder später immer bezahlen muss) über die Praxis und die Eigenschaften einer Bewegung wegzufegen. Bedauerlicherweise haben diejenigen, die vor 40 Jahren am ehesten dazu in der Lage gewesen wären – wir denken an die Genossen vom CATE Censier – es nicht getan. Sie ließen sich nicht von triumphalistischen Illusionen täuschen, haben aber dennoch die Waffe der Kritik an den Grenzen der Bewegung nicht angelegt. Zu der quantitativen Schwäche43 der Bewegungen, die gegenüber den Gewerkschaften – und zwar allen Gewerkschaften, denn im Mai/Juni 68 spielte die CFDT eine dissonante Partitur gegenüber der CGT, um die Energien der Basis besser einfangen und als Staatsgewerkschaft einen besseren Platz an der Sonne erreichen zu können – Autonomie bewiesen, kam noch eine qualitative Schwäche hinzu, hauptsächlich aufgrund der Unerfahrenheit der Aktivisten und der Arbeiter, die durch die Besonderheit des Mai/Juni 68 noch verstärkt wurde: dass es nämlich ein riesiger passiver Streik war.
Wir werden weiter unten die Erfahrung des CATE Censier analysieren, die am ehesten der Tendenz zur Arbeiterautonomie nahe kommt. Damit meinen wir, dass Arbeitergruppen sich selbst gegen Parteien und Gewerkschaften in Basis- oder Aktionskomitees (die Bezeichnung ist unwichtig) organisieren und fähig sind, auf den Streik einzuwirken, die besonderen mit den allgemeinen Bedingungen des Kapitalismus zu verbinden und ihre Praxis als politische zu denken. Solche Fälle waren im Mai/Juni 68 zwar selten, dafür tauchten gleichzeitig zwei »Avatare« auf: Die Selbstverwaltung (die 1973 in den Streik bei LIP in Besançon münden sollte) und die Mystifizierung der »zentralen Streikkomitees«.
Die Selbstverwaltung. Mythos und Wirklichkeit
1968 wurde viel von Selbstverwaltung gesprochen. Das entsprach zwar dem Programm der PSU, mancher Anarchisten oder unter dem Begriff »Arbeiterkontrolle« der Trotzkisten, doch dieser Begriff bedeutet wörtlich die Ausbeutung der Ausgebeuteten durch sie selbst. In den meisten Fällen handelte es sich darum, die unbedingt notwendige Produktion durch die Arbeiter sicherzustellen44, oder die Produktionswerkzeuge instand zu halten45 oder die Benzinversorgung zu sichern46. In Clermont (Oise) führte das Personal des psychiatrischen Krankenhauses auf eigene Faust die 40-Stunde-Woche an fünf Tagen ein. Komplexere Aktionen fanden statt in den Observatorien von Meudon und von Puy de Dome, wo ein »Selbstverwaltungsrat« gegründet wurde. Die Forscher und Techniker dachten darüber nach, wie sie die Methoden der Leitung und der Gruppenarbeit verbessern könnten. In Saclay gingen sie in dieselbe Richtung. Die hohe Qualifikation des Personals und die Erfahrung mit Gruppenarbeit begünstigten in diesen Fällen diese Versuche. Der weitestgehende Versuch in »Selbstverwaltung«, wenigstens wurde er als solcher vorgestellt, fand bei der CSF in Brest statt, wo die CFDT die wichtigste Gewerkschaft war.
Diese Selbstverwaltung betraf eigentlich nur die Ingenieure (im Verhältnis zur Direktion) oder die Techniker (im Verhältnis zur Direktion oder zu den Ingenieuren), während die Mehrheit der Arbeiter nur der Arbeit entfliehen und sich nicht als produktive Arbeiter betrachten wollten. Aus diesem kurzen Bericht (heute kann man sich nicht mehr vorstellen, welch eine unverhältnismäßige Bedeutung der Selbstverwaltung in Brest zugeschrieben wurde) lässt sich schließen, dass es hauptsächlich nur darum ging, das Arbeitsgerät instand zu halten und zu schützen, um – recht häufig – die Rückkehr zur Normalität vorwegzunehmen. Und was gibt es denn Schöneres als diese Arbeiter, die es genauso gut können wie der Chef … ohne ihn?
Die zentralen Streikkomitees
Das bekannteste und am meisten mystifizierte Beispiel ist Nantes. Nach den Demonstrationen am 24. Mai verbarrikadierte sich der Präfekt in seinem Amtssitz, wo sich die Mehrheit der Angestellten im Streik befand. Die Polizei trat nicht mehr öffentlich auf; die Stadtverwaltung war in der Krise, denn ein Teil ihrer Mitglieder hatte gerade den Rücktritt erklärt. Das CCG (Comité centrale de grève, zentrales Streikkomitee, Aktionseinheit aus CGT-FO-CFDT)48 richtete sich daraufhin im Rathaus ein und stellte Dienstleistungen wie Beerdigungen oder Standesamt sicher. Das CCG deckte die dringenden Fälle ab, die staatlicherseits nicht mehr erfüllt wurden. Am 27. Mai feierte das CCG seine Gründung mit einem Umzug von 50 000 Menschen; am 31. Mai rief es zu einer neuen Demonstration auf und 30 000 folgten noch seinem Aufruf. Doch am 3. Juni beschloss es, die politischen Funktionen an die Stadtverwaltung zurückzugeben, räumte das Rathaus und bot die meisten seiner Dienstleitungen im Sitz der Bauerngewerkschaften an. Als Symbol der Zeit übernahm der Präfekt sofort wieder die Kontrolle über die Benzinverteilung.
Die Aktionskomitees
Im Rahmen dieses Textes ist es nicht möglich, die Geschichte der nach dem 10. Mai entstandenen Aktionskomitees (Comité d’action, CA) nachzuzeichnen. Der Zeitzeugenbericht über das Aktionskomitee von Montreuil liefert Hinweise auf ihre Stärken und Schwächen. Das interessanteste49 war das Aktionskomitee Arbeiter-Studenten (Comité d’action travailleurs étudiants, CATE), auch CA Censier genannt nach der besetzten Literatur-Fakultät in Paris, die vom 12. Mai bis zum 16. Juni 1968 als Versammlungsort diente.
Das spätere CATE setzte sich seit seiner Gründung durch eine Handvoll Genossen von den linken Grüppchen ab und beschloss, in den Betrieben zu intervenieren, um Verbindungen (und Aktionen) zwischen Arbeitern und Studenten oder externen Aktivisten zu entwickeln. Die Hauptinitiatoren waren Unorganisierte, aber auch Aktivisten von La Vieille Taupe, und später des GLAT.
In den ersten Tagen wurden Flugblätter verteilt und Kontakte zu den Arbeitern geknüpft, in der Hoffnung, anschließend Aktionskomitees in den Fabriken zu gründen, als der Streik noch in seinen ersten Anfängen war. So die FNAC Châtelet (Kontakt am 17., Gründung eines CA am 21. Mai), dann die BHV (mit der Schaffung des gemeinsamen Bulletins La Base), die Druckerei L’illustration in Bobigny am 17., die Druckerei Lang (19. Arrondissement) und vor allem die NMPP50 (Paris-Réaumur und Bobigny) und Rhône-Poulenc in Vitry, zusammen mit Citroën Balard und dem RATP-Depot Lebrun (13. Arrondissement) die Orte, an denen das CATE den größten Einfluss haben sollte.
Die ersten Aktionen des CATE begleiteten also die ersten Streiks oder Streikversuche vor dem 18. Mai, als die CGT beschloss, den Generalstreik auszurufen, um die Bewegung zu ersticken. Wertvolle Zeitzeugenberichte zeigen, dass es eine schwache Minderheit von Arbeitern gab (ca. 10 Prozent pro Betrieb, laut Baynac), die bereit waren, ohne Unterstützung durch die Gewerkschaften loszuschlagen.
Bei Citroën (15. Arrondissement) war das CATE dank persönlicher Kontakte schon am 18. Mai präsent und beteiligte sich an der Auslösung des Streiks am 20. Mai. Unter Einbeziehung der Immigranten, die 60 Prozent der Belegschaft ausmachten, verteilte es ein viersprachiges Flugblatt (spanisch, portugiesisch, arabisch und serbokroatisch), in dem es zum Streik und zur Organisierung aufrief. Solange noch nicht gestreikt wurde, ließ die CGT sie machen (sie drängten auf die Besetzung der Fabrik) und übernahm dann ihre Forderungen. Doch ab dem 21. Mai, als der Streik stand, besetzte die CGT die Tore und hinderte sie körperlich am Betreten der Fabrik.51 Doch die Kontakte gingen draußen weiter. Das CATE entwickelte mehrere Aktionen zur Kontaktaufnahme zwischen Arbeitern der verschiedenen Citroën-Werke (Levallois, Saint-Ouen, Nanterre), indem sie die Einwandererwohnheime in den Vorstädten besuchte.52 Als die CGT am 22. Juni mit der Direktion über die Wiederaufnahme der Arbeit verhandelte, schaffte es das CATE, diese zwei Tage lang zu behindern.
Das CATE war sich über die Grenzen des Generalstreiks vom 18. Mai bewusst und verteilte mehrere Flugblätter, in denen es dazu aufrief, »den passiven Streik zu einem aktiven Streik zu machen«, doch abgesehen von Rhône-Poulenc in Vitry, wo die Streikbeteiligung 50 Prozent53 erreichte und wo das CATE einen gewissen Einfluss erlangt hatte (wobei es allerdings von einer eher »basisnahen« CFDT profitierte, die der CGT gegenüber feindlich eingestellt war), und in der Lage war, am 24. Mai in der Fabrik eine Versammlung mit 300 Arbeitern abzuhalten, und am 28. Mai einen Versuch der CGT abwenden konnte, die Arbeit aufnehmen zu lassen54, waren die Ergebnisse enttäuschend, und es gab kein Echo zugunsten dieses »aktiven Streiks«. Doch das war die Natur der Bewegung, um die es hier geht: vor dem 18. Mai, als der Streik außerhalb der Gewerkschaftsparolen los ging, war er fast überall (in unterschiedlichem Ausmaß) minoritär, und die entschlossenen Arbeiter haben sich nicht alle hinreißen lassen, mehr zu tun, als für den Streik zu stimmen und wieder nach Hause zu gehen oder sich an den Demonstrationen zu beteiligen; nach dem 18. Mai, als es der CGT gelungen war, den Streik durchzusetzen, war die Mehrheit der Arbeiter zwar nicht gegen den Streik, doch sie zogen es vor, zu Hause zu bleiben.
Das CATE beschäftigte sich nicht nur mit der Pariser Region, sondern stellte sich ab dem 20. Mai das Problem der Kontakte in die Provinz: ab dem 21. Mai wurden Teams losgeschickt nach Troyes (in die Textilindustrie), Dijon, Metz und Montpellier. Das war auch die Gelegenheit, Kontakte zu Bauern zu knüpfen, um die Versorgung der Aktionskomitees und des CATE sicherzustellen.
Ansonsten gründete das CATE ein überbetriebliches Komitee, das sich am 28. Mai bei Nord Aviation in Châtillon traf, um die Anstrengungen der Aktionskomitees der einzelnen Betriebe zu koordinieren und ein Flugblatt zu verteilen »Verteidigen wir unseren Streik«. Es traf sich danach täglich und brachte Aktivisten aus einem Dutzend Betrieben der Pariser Region55 zusammen. Anfang Juni war das Ziel, sich der von der CGT betriebenen Wiederaufnahme der Arbeit zu widersetzen.
Die am 6. Juni eingeleitete Wiederaufnahme der Arbeit bei der RATP, wurde zum bestimmenden Thema des CATE. Am Montag, den 10. Juni, versammelten sich 400 Beschäftigte der RATP (von 36 000) in Censier; sie waren vom Aktionskomitee RATP zusammengerufen worden, um die Weiterführung des Streiks zu organisieren. Es ging darum, der Offensive der CGT zu begegnen, die auf Druckausübung gegen die Streikenden, ihrem Informationsmonopol und – wenn nötig – der Lüge oder Faustschlägen beruhte. Dennoch führten am 10. Juni elf von 22 Busdepots, neun von 14 Metrolinien und eine von sieben Werkstätten den Streik fort; ihre Vertreter trafen sich im Censier. Trotz der Begeisterung dieser Aktionskomitees zerrannen die Energien mangels Perspektive schnell; und abgesehen vom Depot Lebrun, das noch eine Ehrenrunde einlegte, war die Wiederaufnahme der Arbeit ab dem 12. Juni durchgesetzt. Das Ende des Streiks bei der RATP führte zum Ende des CATE, das Censier am 16. Juni verließ.56
Baynac liefert in seinem Buch keine genauen Zahlen, wie viele am CATE beteiligt waren, doch man kann folgendes annehmen: ca. 500 Beteiligte, Arbeiteraktivisten aus einem Dutzend Betrieben (mindestens fünf pro Betrieb) und Kontakte zu ungefähr 30 anderen, ein gewisser Einfluss in mehreren Betrieben (Rhône-Poulenc, RATP Depot Lebrun) und ein hartnäckiger Wille, die Selbstorganisation zu fördern.
Die Frage der Gewalt
Die Gewaltfrage sollte ebenfalls untersucht werden. In Paris wie in der Provinz waren die Auseinandersetzungen, die sich nach dem 13. Mai entwickelten, völlig unorganisiert und gingen nicht über kleine Bezugsgruppen hinaus, die sich verabredeten, um gemeinsam zu den Demonstrationen zu gehen. Die Demonstrationen dienten als Anlaufstelle und letztendlich als Moment der Auseinandersetzung mit den Repressionskräften.
Den jungen Arbeitern, die es ablehnten, sich an den Fabrikbesetzungen zu beteiligen, oder die davon ausgeschlossen waren, dienten die Demonstrationen als Anlaufstelle, wo sie Dampf abließen. Gegenüber einer Macht, die, obwohl die Repressionskräfte angesichts der Anzahl der Demonstrationen erschöpft waren, ihre Taktik verbesserte (so gelang ihr am 24. Mai in Paris die Verhinderung der Ausweitung der Demonstration über die erlaubten Grenzen hinaus oder am 17. Juni die Einkesselung der Gegend um Flins), schufen die entschlossenen Demonstranten kein Koordinationsinstrument (ganz zu schweigen von einer Zentralisierung).
Das Niveau an Gewalt ist gewiss nicht das entscheidende Element, um die Qualität einer Bewegung einzuschätzen, doch die Tatsache, dass die Minderheit der kämpferischen Arbeiter diese Frage nicht mit ihrem Kampf gegen die Unternehmer und die CGT verband, war eine Beschränkung der Bewegung.
Was bleibt vom Mai 1968?
Was die Lage der Arbeiter betrifft, eine Lohnerhöhung von mindestens zehn Prozent, die dann innerhalb von zwei oder drei Jahren von der Inflation aufgefressen wurde, und eine sehr konsequente Erhöhung des Mindestlohns SMIC um 35 Prozent. Aber in der Industrie hatte der SMIC wenig Bedeutung, da die Reallöhne dort weit höher lagen. Betroffen davon waren dagegen viele Kleinbetriebe und vor allem die Landarbeiter. Für die Zeit unmittelbar nach 68 ist das fast alles. Man kann nicht sagen, dass die Anerkennung und die Rechte der Gewerkschaften in den Unternehmen (Gesetz vom 28. Dezember 68) und die den Gewerkschaften in die Hand gegebenen Mittel Errungenschaften der Arbeiterklasse sind. Während des Streiks im Mai 68 haben sich die Arbeiter zwar nicht gegen diese Forderungen gestellt, doch es waren Forderungen der Gewerkschaftsapparate und nicht die ihren.
Das übersetzte sich in eine stärkere Integration der Gewerkschaften in den Staat, mit vom Apparat ernannten Gewerkschaftsdelegierten, immer mehr Stunden für das Funktionieren ihres Apparats usw. … Und wenn dadurch auch – was nicht zu vernachlässigen ist – in vielen Kleinbetrieben die Bildung von Gewerkschaftsgruppen ermöglicht wurde, die es bis dahin nicht gab, alles im Rahmen der allgemeinen Entwicklung der Gewerkschaften hin zu einer stärkeren Integration in den Staat, dann war das recht wenig Positives für die Arbeiterklasse.
In den Jahren nach 68 kam es jedoch zu einer beträchtlichen Verringerung der Arbeitszeit; zwar nicht nur aufgrund des Streiks, doch auch wegen ihm.
Bei Renault machte man vor 1968 noch 48 Stunden; in einem Laden wie Alsthom St-Ouen 47,5 Stunden, und so war das so gut wie überall in den Betrieben, ohne die Überstunden am Samstag mitzuzählen, was oft zu einer Wochenarbeitszeit von 55-56 Stunden führte. In den vier oder fünf darauffolgenden Jahren sank die Arbeitszeit auf ca. »40 effektive« Stunden. Da die Unternehmer nie verdaut hatten, dass die Pausen gesetzlich bei den Schichtarbeitern in die Arbeitszeit einberechnet waren, sank die reale Arbeitszeit meistens auf 42 Stunden. Vergessen wir nicht, dass sich in den Jahren nach 68 die Schichtarbeit breit entwickelt hat.
Die wirkliche Errungenschaft von 1968 für unsere Klasse lag woanders. Nämlich darin, dass überall, in allen Fabriken, Minderheiten von Arbeitern entstanden, die mehr oder weniger mit dem Gewerkschaftsapparat gebrochen hatten. Da gab es einen wirklichen Wandel, und in den zehn Jahren nach 68, in den 70er Jahren, sind wichtige Streiks gänzlich oder teilweise dem Apparat von PCF und CGT entglitten, und es gab wirklich große Streiks in jenen Jahren.
Von 1968 bis … 1971
Das Paradox vom Mai/Juni 68 liegt darin, dass er als Bewegung keine Anzeichen von Autonomie hervorbrachte, so wie es in den Jahren danach dann geschah: Streikwelle im Frühjahr 1971 (deren Galionsfigur der Kampf der angelernten Arbeiter (OS) bei Renault Le Mans war); 1972 Girosteel, Penarroya, Le joint Français, Alsthom, Chausson usw. bis 1974 mit dem Streik bei der Post und den Banken.
Knapp drei Jahre nach dem Mai/Juni 68 gab es im Frühjahr eine Streikwelle, die vielleicht der Ausdruck der Arbeiterautonomie war, die im Mai 68 nicht oder nur sehr wenig zum Ausbruch gekommen war.
An Pfingsten 1971 befanden sich im ganzen Land ein Dutzend Fabriken im Streik, überall mit der erklärten Feindschaft des Apparats von PCF und CGT. Dieses Mal war keine Rede davon, sie durch Ausweitung zu ersticken. Presse und Fernsehen verhängten eine komplette Nachrichtensperre über diese Streiks; das Fernsehen war 1968 gesäubert worden, und die Zeitungen, die 1968 beschuldigt worden waren, dem Beginn der Streiks zu großen Raum gewährt zu haben, sprachen nicht mehr darüber.58
Überall fand man Minderheiten von Proletariern vor, die 1968 entstanden waren, Minderheiten zwar, doch 1971 waren sie entscheidend.
Die Zeitung Lutte Ouvrière (Arbeiterkampf, die Nachfolgerin der aufgelösten Gruppe Arbeiterstimme) schrieb in einem ihrer Editorials im Frühjahr 1971, eine Arbeiteravantgarde sei in den Fabriken im Entstehen, die große Hoffnungen erweckte. Das stimmte.
Die wirkliche Errungenschaft des Mai/Juni 68 für die ArbeiterInnen liegt dort; danach sind diese Minderheiten von ArbeiterInnen, die das Gerüst wirklich revolutionärer Arbeiterkomitees hätten bilden können, von der Bildfläche verschwunden und in den Gewerkschaften verlorengangen. Manche gingen in die CFDT, die 1968 linker als die CGT wirkte, und sogar in die CGT, die es einige Jahre später verstand, einen Schwenk vorzunehmen und die von ihr als »Linksradikale« Bezeichneten nicht mehr ausschloss, ihnen sogar Posten anbot, in denen diese sich aufrieben, im Glauben, sie könnten die konterrevolutionäre Natur der Gewerkschaften ändern, indem sie die verantwortlichen Posten übernahmen. Tatsache ist, dass sie zu Gewerkschaftern wurden und nicht etwa, dass die Gewerkschaften ihre Natur geändert hätten. Ein großer Teil ist zu LCR oder LO oder zu den Maoisten gegangen, und der allergrößte Teil ist nirgendwohin gegangen.
Anhang
Aktion Nr. 1
Kettenhunde
Die Bewegung gegen die Repression hat alle Ordnungshüter gezwungen, sich zu distanzieren. Studenten, ihr seid auf der Titelseite der Zeitungen. Seht her, wie über euch gesprochen wird.
Mehrere Hundertschaften der Gardes Mobiles haben am letzten Freitag einer Handvoll Studenten bei ihrem traditionellen Krawall um die Sorbonne herum getrotzt. »Diese Störenfriede vergessen etwas zu sehr, wer sie sind, nämlich immer noch Privilegierte. Die Demonstranten der Bastille haben sie neulich daran erinnert und so wie ›Bürgersöhne‹ behandelt. Ich weiß nicht, ob unter ihnen viele ›Bürgersöhne‹ waren, ich wäre darüber aber nicht sonderlich erstaunt.« Paris Jour.
Eine Fakultät macht viel von sich reden: Nanterre la Folie. Wissen Sie, wie die Studenten dort leben? Inmitten der Elendsviertel, in denen das Subproletariat dahinvegetiert, hat das Bürgertum allen Komfort installiert, den es seinen Kindern schuldet. »Wenn sie müde sind, können sich die Bewohner von Nanterre in ihrem, ihrer Meinung nach, bescheidenen Zimmer ausruhen. Sie wissen, die Art von Zimmer, die in einem Hotel 3500 alte Francs pro Nacht kostet: große Glasfenster, Korktafeln, an denen man alles Mögliche aufhängen kann, ein durch eine Wand abgetrennter Waschraum, Warm- und Kaltwasser, Steckdose für den Elektrorasierer. Auf dem Flur: Duschraum. Telefon und Küchenzeile mit Kühlschrank und Herd, und natürlich ein Fahrstuhl. Da es Intellektuelle sind, kümmern sich Putzfrauen jeden Tag um die Reinigung alle Zimmer … Fünf-Sterne-Komfort..« Paris Jour.
Doch in den Worten des Dekan Grappin ist diese Erfahrung gescheitert: »Die Kombination zwischen Wohnort und Fakultät war unglücklich. Der Campus ist, ich wage es nicht zu sagen, zu einem Hexenkessel geworden, zu einem in sich abgeschlossenen Raum, an dem sich alle Gerüchte entwickelt haben.« L’Aurore.
Die »Bürgersöhne« verkennen das Problem, sie beleidigen die Erinnerung ihrer Eltern, die so viele Opfer brachten, um ihnen diese Bedingungen eines paradiesischen Lebens zu garantieren.
»Ich war auch Student, ich habe den Eindruck, die Studenten von heute haben ein leichtes Leben. Wir hatten – bis auf einige Privilegierte – keine Studentenwohnheime. Wir lebten meistens in Zimmern ohne Heizung. Wir hatten keine von diesen Mensen, wo man heute für 1,50 Francs ein anständiges Essen bekommt. Eure Wohnheime wären für uns das Paradies gewesen. Also arbeitet und bleibt ruhig.« Camille Leduc, Paris Jour.
Doch manchmal kann der Krawall zum Drama werden. Den Unruhestiftern ist das egal. Sie sind es ja nicht, die die kaputten Schaufenster bezahlen müssen. Das Volk ist zutiefst desorientiert, doch die guten Franzosen sind auf der Hut, sie protestieren energisch gegen die Provokateure, die ihre Befehle aus dem Ausland bekommen.
»Einige kleine Grüppchen:« Anarchisten, Trotzkisten, Maoisten, »die in der Regel aus Söhnen des Großbürgertums bestehen und vom Anarchisten Cohn-Bendit angeführt werden, nehmen Mängel der Regierung zum Vorwand für ihre Umtriebe, die darauf abzielen, das normale Funktionieren der Fakultät zu verhindern: Beschädigung von Räumen, Unterbrechen der Vorlesungen, Aufruf zum Examensboykott usw.« L’Humanité
Danke und Auf Wiedersehen, Monsieur Roche
Am Freitag, den 3. Mai, antwortete die Universität mit dem Knüppel auf die Aktion der Studenten von Nanterre. Ab 10 Uhr morgens antworten die Studenten aus Nanterre an der Sorbonne auf die Schließung ihrer Fakultät. Die faschistische Gruppe Occident, die für ihre Überfälle, Brandstiftungen und Kommandoaktionen berüchtigt ist, nimmt die Schließung von Nanterre zur Kenntnis und kündigt an, das Quartier Latin zu »säubern«, um »das bolschewistische Gesindel« auszulöschen. Zum Schutz der Sorbonne haben sich an den Toren Selbstverteidigungsgruppen gebildet. Doch der Kampf gegen die autoritären Maßnahmen der Macht ist wichtiger als eine Schlacht mit den faschistischen Gruppen; die Macht erwartet übrigens eine solche Schlacht, die es ihr ermöglichen würde, die Aktionen der Studenten auf »interne Rivalitäten unter Extremisten« zurückzuführen.
Im Hof der Sorbonne – 10-12 Uhr
Auf den Aufruf der UNEF, des JCR, des MAU und der FER halten die Pariser Studenten eine Solidaritätsversammlung mit den Studenten von Nanterre ab und schließen sich ihnen, der Bewegung 22. März, an. Am Tag zuvor wurde bekannt, dass sieben Studenten der Bewegung 22. März, die wegen ihrer politischen Aktivitäten vom Ausschluss bedroht sind, vor den Disziplinarrat der Universität von Paris vorgeladen wurden. Die Macht, die angebliche Anführer trifft, will die Studenten einschüchtern. Der Vormittag bleibt ruhig.
Der Nachmittag
Die Versammlung geht weiter, etwa 1000 Studenten sind gekommen, um gegen die Repression von Seiten der Universität und der Polizei zu protestieren. Um 15 Uhr zieht die Gruppe Occident den Boulevard St-Michel hinunter: es sind nur 100 Demonstranten, eingerahmt von drei Reihen Fallschirmjägern und Nostalgikern des Indochina- und Algerienkriegs, die aus der Provinz und aus Belgien angereist sind, Helme und Knüppel in der Hand rufen sie »Vietcong Mörder«. Am Arm tragen sie Abzeichen der faschistischen Bewegung. Sie gehen die Rue des Ecoles in Richtung Rue de la Sorbonne hinauf. Erst in diesem Moment greift die Polizei ein: es gibt keine Festnahmen, sie drängt den »Demonstrationszug« zurück, indem sie ihn zur Place Maubert leitet. Ein paar übriggebliebene Faschisten werden bis in die Abendstunden durch das Quartier Latin schwärmen und versuchen, die Studenten zu provozieren.
Danach umstellt die Polizei die Sorbonne, sie nähert sich den Ausgängen: es ist 15.30 Uhr. Drinnen verlangen die Studenten, ihnen einen Hörsaal zu öffnen und weigern sich, die Örtlichkeiten zu verlassen, wie es die Leitung von ihnen fordert. Rektor Roche ruft die Polizei, um den Eingang der Fakultät zu schließen. Kein Student kommt mehr hinein. Die UNEF, die an der Sorbonne ein Flugblatt verteilt, in dem sie die Provokationen der Gruppen der extremen Linken anprangert, während das Kommando Occident vorbeizieht, wird ausgepfiffen.
15.30–16 Uhr. Alles ist ruhig. Doch der Ton in den Radiosendungen beginnt schärfer zu werden: es wird bereits von Krawallen gesprochen. Es wird sogar angekündigt, der studentische Ordnungsdienst würde die Marmortafeln im Hof der Sorbonne herausbrechen (dabei wurden nur Tische und Stühle aufeinandergestellt, um die Tore zu sichern, als sich das Kommando Occident der Sorbonne näherte).
16 Uhr. Zweites Treffen zwischen Studenten und Universitätsleitung. Zweites Ergebnis: die Polizei versperrt nun nicht nur den Zugang zur Sorbonne, sondern sie hindert nun auch die Studenten daran, sie zu verlassen. Da die Studenten sich nicht in einem Hörsaal versammeln können, veranstalten sie ein Sit-in. Sie diskutieren über Aktionsformen und Perspektiven der Studentenbewegung. Wie kann man die eigenen Aktionen mit den Arbeiterkämpfen verbinden? Wie soll man gegen die Repression kämpfen? Auf den Stufen sitzend wird über die jüngsten Ereignisse in Nanterre und an der Sorbonne diskutiert.
16.45 Uhr. Die Studenten diskutieren, doch für Rektor Roche muss eine Diskussion schon der Beginn eines Krawalls sein. Er ruft die Polizei. Die Sit-ins werden durch den Zwang der Umstände unterbrochen. Die Provokation des Rektors ist erfolgreich: auf einen Schlag stürmt die Polizei mit der Waffe im Anschlag die Sorbonne, als würde sie aus dem Schützengraben springen. Es sind 300.
Etwas später folgen ihnen die Brigades d’interventions im Kampfanzug (Judo- und Karatetrainer; Spezialeinheiten gegen Aufruhr) und die Gardes mobiles mit dem Gewehrkolben in der Hand. Einigen Studenten gelingt es zu fliehen. Angesichts des Gewaltstreichs verweigern sich die Studenten der Provokation. Um die Vorfälle zu begrenzen, informiert sich eine Delegation über die Absichten der »Vertreter der Ordnung«; diese versprechen, alle ohne Schwierigkeiten gehen zu lassen, wenn kein Widerstand geleistet wird. Der studentische Ordnungsdienst bildet eine Kette zwischen ihren Kommilitonen und den Polizeikräften, um Auseinandersetzungen zu verhindern. Trotz des Versprechens werden die ersten Studenten am Ausgang »eingesammelt« und in die Polizeitransporter verfrachtet. Eine neue Provokation. Das Ziel: einen Vorwand zu finden, um die Bewegung zu zerschlagen.
Ein Moment des Zögerns: die Mädchen werden draußen sofort wieder freigelassen. Es bilden sich Gruppen von Demonstranten. »Unruhestifter«?, »Wütende«?, »Extremisten«? Es sind nicht einmal unbedingt politisierte Studenten, viele von ihnen wollten einfach nur in die Bibliothek. Sie antworten spontan auf die Polizeipräsenz an der Universität und schließen sich den Übriggebliebenen an, um gegen die Verhaftung ihrer Kommilitonen zu protestieren. »Stoppt die Repression«, »CRS = SS«, die Parolen sind schnell gefunden, normal und spontan. Den ganzen Abend über breiten sich die Kettenreaktionen aus. Es kommt zu spontanen Demonstrationen, eine ruft die andere hervor. Sie äußern die Solidarität der Studenten gegen die Willkür der Polizei. Sie zeigen die tiefen Wurzeln im Studentenmilieu.
Alles wird an der Place de la Sorbonne ausgelöst, als die ersten Mannschaftswagen losfahren. Polizeieinsatz zur Räumung des Platzes, Tränengasgranaten, die wenigen Demonstranten ziehen sich in Richtung Boulevard St-Michel zurück. Spontan, ohne dass eine Parole ausgegeben wurde, sind doch alle Ordnungsdienste, alle politischen und gewerkschaftlichen Führer bis 20 Uhr in die Sorbonne eingeschlossen, um dann nach und nach auf die Polizeiwache gebracht zu werden, wo ihre Personalien aufgenommen werden. Andere junge Leute, andere Studenten sammeln sich um die ersten Kerne. Viele sind aufgrund der Radioberichte gekommen, weil sie die Bedeutung der Situation begriffen haben. Die einen gehen bis Luxembourg hinauf, dem brennendsten der heißen Punkte des Abends (die Demonstration geht bis 23 Uhr), dann zum Port Royal. Andere gehen zur Kreuzung St-Germain. Sie zerstreuen sich und formieren sich wieder zur Demonstration an der Kreuzung St-Jacques, wo sie den Verkehr blockieren.
Die Kraft der Polizei ist die Unbeweglichkeit, die Kraft der Demonstranten ist die Beweglichkeit. Es gibt keine direkten Konfrontationen zwischen Polizei und Demonstranten. Letzteren gelingt es, standzuhalten, indem sie mit Wurfgeschossen kontern. Sie reißen das Pflaster und die Gitter der Bäume heraus, sammeln die Granaten vom Boden auf und werfen sie zurück. Sie bauen Barrikaden, ziehen sich bei den Vorstößen der Polizei im Tränengasnebel zurück, zerstreuen sich und formieren sich wieder neu. Zweimal greifen sie gar selbst an; sie wollen dableiben. Ihre Parole: »Freiheit für unsere Kommilitonen! Stopp der Repression! Gaullismus Diktatur!«
Alle zurück in die Mannschaftswagen; ein Polizist ist wütend darüber, dass er ein Geschoss ins Schulterblatt bekommen hat. Von 21–22 Uhr »Prügel gegen Demonstranten«. Die Brigades d’interventions mischen das Quartier Latin auf. Jeder Zivilist ist verdächtig. Die Polizei knüppelt alles zusammen, was nach Student aussieht. Mancher Passant, der überhaupt nichts mit der Demonstration zu tun hat, muss drei Stunden auf der Wache verbringen.
40 Studenten fliehen aus einem Polizeitransporter. Wie denn? Es sind nur vier Polizisten im Wagen; in einer abgelegenen Seitenstraße schlagen sie die Scheiben ein und fliehen. Von nun an stehen die »aufstandsartigen Szenen« im Mittelpunkt. Der vorherrschende Moment des 3. Mai ist die Spontaneität des Widerstands gegen die Repression der Polizei. Sie beweist, dass man die Bewegung nicht mit einem Keulenschlag zerstören kann. Sie zeigt, wie tief die Studentenkrise wirklich ist. Sie zeigt, dass der Aufruhr nicht nur von »einer Handvoll Tollwütiger« verursacht wird, sondern ein tiefes Echo in der Masse der Studenten gefunden hat. Der Tag des 3. Mai ist der erste Moment der Radikalisierung des Kampfs. Die Bewegung beginnt sich in die Provinz auszuweiten und findet internationale Unterstützung.
Wie bei der Demonstration am Freitag: auf die Zerstreuung folgt die Neuformierung der Bewegung, die jedes Mal um neue aktiv Kämpfende anwächst, die Studenten sind in ein höheres Stadium der Aktion eingetreten.
Montag, 6. Mai
Treffen auf dem Boulevard St-Germain, die Demonstranten ziehen in Richtung Place Maubert.
Um 15 Uhr erste gewaltsame Zusammenstöße an der Kreuzung St-Germain.
Um 16 Uhr hindern 1500 Demonstranten die Polizei zwei Stunden lang in ihrer Bewegungsfreiheit.
Eine oder zwei Stunden lang hindern wir sie über die gesamte Breite des Boulevard St-Germain daran vorzustoßen. Wir drängen zwei Wasserwerfer zurück, die die Demonstranten bespritzt haben (ein Demonstrant ist auf einen hinaufgeklettert und verhinderte, dass der Wasserstrahl gedreht werden konnte). Es flogen auch Pflastersteine, und da wie in allen Nächten die Demonstrationsfront von den Bullen durchbrochen wurde, gibt es stundenlange Auseinandersetzungen mit kleinen Gruppen von 10 bis 100 Demonstranten, die Stunden damit zubringen, in der Nacht zu verschwinden.
Die 10. Jugendstrafkammer verurteilt 13 festgenommene junge Leute: vier werden wegen Gewalt gegen Polizeibeamte zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt, acht andere auf Bewährung.
Aktion Nr. 2
Die Nacht vom 10. auf den 11. Mai
(die sogenannte Barrikaden-Nacht)
Die Demonstration beginnt am Platz Denfert Rochereau, aufgerufen hatten die UNF und die SNESup, sie zieht an der von der Polizei bewachten Santé vorbei, bekundet die Sympathie zwischen Gefangenen und Demonstranten, die Demo soll zum Justizpalast und zum Sender des ORTF gehen, die Brücken über die Seine sind von starken Polizeieinheiten versperrt, die Demonstration setzt sich am Boulevard St-Michel von der Seine bis Luxembourg fest, die Diskussionen laufen gut, angeregt durch kleine Gruppen, auf dem Boulevard, in den Bistros, den Seitenstraßen, andere beginnen das Pflaster aufzureißen, eine Straßenbaumaschine wird zur Gare du Luxembourg gefahren, es werden immer mehr Barrikaden gebaut, ganz offensichtlich ohne Sinn, ohne Ordnung und ohne Organisation. Molotow-Cocktails fliegen, die heiße Phase dauert bis 2 Uhr morgens, während es Gespräche zwischen Verantwortlichen der Universität und Geismar (SNESup), Cohn-Bendit (Bewegung 22. März) und Sauvageot (UNEF) gab. Ein Aufruf zur Ruhe bringt die Wütenden nicht dazu, das Feld zu räumen, sie bleiben noch in großer Zahl (Tausende) hinter den Barrikaden. Der Befehl zur Säuberung des Viertels wird um 2 Uhr erteilt. Unter großem Lärm (ohrenbetäubende Granaten, Tränengasgranaten gegen Molotow-Cocktails, brennende Autos) gehen die Angriffe der Bullen bis 5.30 Uhr weiter, sie werden mit Molotow-Cocktails zurückgehalten, die letzten Demonstranten fliehen, die Bullen auf den Fersen, in die École Normale in der Rue d’Ulm und mit einer Leiter zu den angrenzenden Ordensbrüdern. Staat und Bullen sind wieder Herren des Viertels.
M. Maurice Grimaud, der Polizeipräfekt, liefert am Samstag früh die Bilanz der Krawalle: 367 Verletzte wurden in den Krankenhäusern registriert, darunter 251 vom Ordnungsdienst und 102 Studenten. Von diesen 367 werden 54 stationär aufgenommen, darunter 4 Studenten und 18 Polizisten, alle schwer verletzt. Es gab 460 Festnahmen, darunter 61 Ausländer. 63 Festgenommene werden der Justiz überstellt: 26 Studenten, 3 Gymnasiasten und 34 Personen, die keine Studenten sind.
Der Sachschaden ist hoch: 60 ausgebrannte Autos, 128 weitere schwer beschädigt.
Man kann zu dieser offiziellen Bilanz anmerken, dass etwa die Hälfte der Festgenommenen weder Studenten noch Gymnasiasten sind, die Arbeiterjugend wurde von diesem radikalen Kampf mit seinen gewaltsamen radikalen Mitteln stark angezogen.
1936 Nach Sieg der Volksfront bei den Parlamentswahlen organisierte die PCF Streiks und Fabrikbesetzungen im ganzen Land. Die Regierung unter dem Sozialisten Léon Blum führte die 40-Stunden-Woche und vier Wochen bezahlten Urlaub für die ArbeiterInnen ein.
Île Seguin: Insel in der Seine zwischen Boulogne-Billancourt und Sèvres. Louis Renault erwarb die Insel und errichtete darauf 1929-1934 eine vollständig autonome Autofabrik mit eigenem Elektrizitätswerk, unterirdischem Testgelände und Hafen. Das Werk erstreckte sich über die Insel hinaus nach Boulogne-Billancourt (rechtes Ufer der Insel) und am linken Ufer nach Bas-Meudon. Es war damals die größte Fabrik Frankreichs mit mehr als 30 000 Beschäftigten. Während des Zweiten Weltkriegs wurde sie von den Alliierten bombardiert. Nach dem Tod Renaults wurde das Unternehmen in staatliche Regie überführt. Das letzte Auto in Billancourt lief 1992 vom Band.
PCF: (Parti communiste français) Die französische kommunistische Partei wurde 1920 gegründet und trat der Dritten Internationale bei. Nach der Befreiung Frankreichs 1944 trat die PCF zusammen mit anderen Widerstandsgruppen in die erste Nachkriegsregierung unter de Gaulle ein, die sie im Mai 1947 auf Druck der USA verlassen musste, die ihre Marshallplan-Gelder an diese Bedingung knüpfte. 1946 hatte die Partei eine halbe Million Mitglieder und bekam bei den Parlamentswahlen die meisten Stimmen von allen Parteien. 1958 stimmte die PCF als einzige Partei gegen die Rückkehr de Gaulles. Sie unterstützte »kritisch« die Kolonialkriege in Indochina und Algerien. Die PCF blieb immer Moskau treu, auch beim Einmarsch von Warschauer-Pakt-Truppen in Prag 1968.
Humanité: Parteizeitung der PCF.
PSU: (Parti socialist unifié). Vereinigte Sozialistische Partei. Gegründet 1960 nach dem gaullistischen »Staatsstreich« 1958 aus drei Komponenten: Autonome Sozialisten (PSA), Sozialistische Linke (UGS) und PCF-Dissidenten. Selbstauflösung 1989.
CGT: (Confédération générale du travail) Hervorgegangen aus der revolutionär-syndikalistischen Bewegung und ihren lokalen »Bourses de travail« (Arbeitsbörsen; in diesem Text mit »Gewerkschaftshaus« übersetzt) geriet die CGT nach 1921 mit dem Aufstieg der PCF nach und nach unter deren Kontrolle, v.a. in den Jahren im Untergrund nach ihrer Auflösung 1939. Nach dem Krieg stärkste Gewerkschaft (4 Millionen Mitglieder 1948), 1968 noch 2,3 Millonen. Nach großen Mitgliederverlusten in den 80er und 90er Jahren ist die CGT, die ihre organisatorischen Bindungen an die PCF gelöst hat, noch die nach Stimmen größte, nach Mitgliederzahlen zweitgrößte Gewerkschaft Frankreichs.
Georges Séguy war 1968 Chef der CGT, Henri Krasucki 1982.
CFDT: (Confédération française démocratique du travail) Gegründet 1962, als die Mitglieder des christlichen Gewerkschaftsbunds (CFTC) sich mehrheitlich für eine Säkularisierung und die Umbenennung zur CFDT entschieden. Anfangs politisch der Parti socialiste unifié (PSU) nahestehend, ab 1972 der Parti socialiste. 1968 ca. 600 000 Mitglieder, heute mit 800 000 Mitgliedern größter Gewerkschaftsbund Frankreichs.
FO: (Force ouvrière) Arbeitermacht. Gewerkschaft, 1947 gegründet von Mitgliedern der CGT, die aus Protest gegen den kommunistischen Kurs austraten und auf politische Unabhängigkeit pochten. Politisch dominiert von der Sozialistischen Partei, aber auch trotzkistischen Gruppen. Die meisten Mitglieder kommen aus dem öffentlichen Dienst.
CGC: (Confédération générale des cadres). Angestelltengewerkschaft. Damals 200 000 Mitglieder.
UNEF: (Union nationale des étudiants de France). Nationale Studentenunion. Größter und ältester Studierendenverband Frankreichs. Sekretär: Sauvageot.
SNESup : (Syndicat nationale d’enseignement supérieure). Gewerkschaft der Hochschullehrer und -Assistenten. Leiter: Alain Geismar.
UEC: (Union des étudiants communistes). Studentenverband der PCF.
CAL: (Comité d’action lycéens). Aktionskomitee der Gymnasiasten.
CATE: (Comité d’action travailleurs étudiants). Aktionskomitee Arbeiter Studenten.
MODEF: (Mouvement pour la défense des entreprises familiales). Bewegung zur Verteidigung der Familienbetriebe, der PCF nahestehende Bauerngewerkschaft.
CNJA: gewerkschaftsähnliche nationale Bauernorganisation, 1957 aus christlichen Gewerkschaften heraus entstanden, 1968 oft der PSU nahestehend.
PCI: (Gruppe Lambert) Aus der trotzkistischen Parti Communiste Internationaliste spalteten sich seit 1946 mehrfach Strömungen ab, .u.a. Socialisme ou Barbarie, die Lambertisten usw.; im Mai 1968 entstand Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR).
JCR: (Jeunesse communiste révolutionnaire). Revolutionärer Kommunistischer Jugendverband. IV. Internationale.
Voix ouvrière: (Arbeiterstimme) 1956 gegründete trotzkistische Gruppe, die sich auf Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit konzentrierte. Nach ihrem Verbot 1968 ging daraus die Gruppe Lutte Ouvrière (LO) (Arbeiterkampf) hervor.
La Vieille Taupe: (Der alte Maulwurf) 1965-1973 bestehender linker Buchladen und Treffpunkt, getragen von einer politischen Gruppe. Wichtig für die Verteilung von anti-stalinistischer marxistischer Literatur, Zeitungen und Flugschriften.